1. In einer reichen Gesellschaft von Armut und Ausgrenzung betroffen – Neue Armut, soziale Schere, Menschen in Grenzsituationen
Die ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie ungleiche Bildungschancen und mangelnde Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben nehmen zu. Mitten in einer reichen Gesellschaft sind immer mehr Menschen aller Generationen von Armut und Ausgrenzung betroffen. Zu den besonders benachteiligten Gruppen gehören Alleinerziehende und ihre Kinder und Arbeitslose. Auch die Zahl älterer Menschen mit geringem Einkommen sowie Menschen mit Migrationshintergrund wird wachsen. Die sozialen Probleme dieser Menschen gehen oft einher mit persönlich-existentieller Verunsicherung, die den Lebensmut und die Selbstachtung untergraben können. Es ist eine besondere Aufgabe der Kirche, diese zu ermutigen, zu unterstützen und zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen.
2. Komplexität der Welt weckt Bedürfnis nach überschaubaren Gemeinschaften – Spannungsfeld von „Globalisierung“ und „Beheimatung“
Internationale Beziehungen rund um den Globus prägen Wirtschaft und Politik in unserem Land. Seit vielen Jahren sind sie Garant für Wohlstand und Sicherheit. Der Verlust von Arbeitsplätzen durch Produktionsverlagerungen, weit über Europa hinausgehende Sicherheitsinteressen und die jüngste weltweit spürbare Wirtschaftskrise lassen für viele Menschen Globalisierung zum Negativ-Begriff werden. Die Komplexität einer globalisierten Welt weckt das Bedürfnis nach Beheimatung. Überschaubare Gemeinschaften in Stadtteilen und Dörfern, in Familie und Nachbarschaft gewinnen neu an Bedeutung. In diesem Sinne bietet die Pfarrei als Kirche am Ort wieder neu die Möglichkeit, Heimat zu erleben. Kirche lebt in der Spannung, gleichzeitig geistliche Heimat am Ort und weltkirchliche Weite zu sein.
3. Suche nach Liebe und Treue, Angst vor Bindung – Wandel der Familie und die demographische Entwicklung
Ehe und Familie haben in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert und stehen unter dem besonderen Schutz des Staates (GG, Art. 6). Empirische Untersuchungen belegen, dass mit dieser Lebensform die Hoffnung auf dauerhafte Liebe, Treue, Vertrauen und Solidarität verbunden wird. Das Ideal der auf Dauer angelegten Ehe und Familie entspricht der kirchlichen Grundüberzeugung. Gleichwohl ist festzustellen, dass Ideal und Realität nicht deckungsgleich sind. Familiäre Strukturen haben sich gewandelt: Die Scheidungszahlen nehmen zu und damit steigt auch die Anzahl der so genannten „Patchwork-Familien“, der Alleinerziehenden und der Singles. Durch die unsichere wirtschaftliche Lage und einer individuellen Angst vor Bindung und Übernahme von Verantwortung zögern viele junge Leute, sich für Ehe und Familie zu entscheiden. Die demographische Entwicklung und der feststellbare Wandel in den Familienstrukturen fordern zum generationenübergreifenden Nachdenken heraus, wie Ehe und Familie nachhaltig gefördert, begleitet und unterstützt werden kann.
4. Tradierte Werte, freie Entscheidungen – Pluralisierung von Lebenswelten
Die Lebenswelten der Menschen sind heute sehr vielfältig. Die Wertsysteme traditioneller Institutionen, wie etwa der Kirchen, der Parteien oder der Verbände, haben weiter an orientierender und bindender Kraft verloren. Dies führt dazu, dass der Einzelne sich an ganz unterschiedlichen Wertvorstellungen orientiert und unabhängiger als früher individuelle Entscheidungen trifft. Der Mensch kann sein Leben weitgehend selbst planen und seine Lebensführung nach seinen eigenen Vorstellungen ausrichten. Aufgabe der Kirche ist es, die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten wahrzunehmen und sorgfältig anzuschauen, wer in der Kirche seinen Platz hat und wer - gerade auch in schwierigen Lebenssituationen - nicht wahrgenommen wird.
5. Zwischen Gottvergessenheit und Glaubenszeugnis – Missionsland Deutschland und die Sprachlosigkeit der Kirche
Immer mehr Menschen in Deutschland kennen die christliche Religion nicht und haben keine kirchlichen Erfahrungen. In dieser missionarischen Situation tut sich Kirche einerseits schwer, ihre zentralen Glaubensinhalte zu vermitteln. Andererseits ist sie häufig angefragt, in gesellschaftspolitischen Fragen Position zu beziehen oder als „Wertvermittlungsinstanz“ den Rahmen für bürgerliche Feste und Familienfeiern abzugeben. Kirche wird nicht mehr von vornherein als Ort der Glaubenserfahrung betrachtet. Vielmehr sehen in ihr immer mehr Menschen eine rückwärtsgewandte Institution, die Misstrauen weckt. Viele Eltern und Erzieher können oder wollen ihren Kindern keine religiösen Inhalte mehr vermitteln. Religiöse Erziehung wird an die Schule und die Pfarrei delegiert. Volkskirchlich geprägte Glaubenspraxis verliert - auch auf dem Land - an Selbstverständlichkeit. Mancherorts drohen gepflegte Traditionen ihre Verwurzelung im Glauben einzubüßen. Die Kirche muss ihre missionarische Haltung zwischen Gottvergessenheit und Glaubenszeugnis finden.
6. Freiheit und Verantwortung – Individualisierung der Gesellschaft
In einem früher nicht gekannten Maß bietet sich den Menschen heute die Möglichkeit, ihr Leben in freier Entscheidung selbst zu gestalten. Individuelle Freiheit ist in vielen Bereichen gegeben, in denen noch vor wenigen Jahrzehnten die Wege der Menschen zum Beispiel aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft vorgezeichnet waren. Die große Entscheidungsfreiheit führt aber auch zu einem permanenten Entscheidungsdruck. Der Zwang zur Entscheidung wird dann zur Last, wenn die Möglichkeit des Scheiterns immer weniger in der Gemeinschaft abgesichert wird und das persönliche Schicksal in der Verantwortung der oder des Einzelnen liegt. Freiheit stellt für die Kirche ein hohes Gut dar, das es zu wahren und zu fördern gilt. Sie will vor allem deutlich zu machen, dass Gemeinschaft und verbindliche Normen diese Freiheit nicht einschränken, sondern den Rahmen bilden, innerhalb dessen Freiheit sich erst entfalten kann.
7. Zeit als knappes Gut – Ökonomisierung der Zeit
Zeit ist Geld. Dieser Grundsatz der modernen Gesellschaft ist selbstverständlich akzeptiert und vermittelt, dass alles, was kein Geld bringt, Zeitverschwendung ist. Erwachsene erleben im Spannungsfeld zwischen Familie und Beruf, dass vor dem Geld oft Zeit das noch knappere Gut ist. Auch Kinder und Jugendliche haben häufig neben der Schule schon einen engen Terminplan. Es bleibt kaum freie Zeit, um zu sich selbst zu kommen, an Gott und die Welt zu denken, Partnerschaft, Familie und Freundschaften zu pflegen oder sich zu öffnen für fremde Not in Nah und Fern. Die Ökonomisierung der Zeit zeigt sich in der Frage „Was bringt es mir?“ und rückt Aktivitäten, die vordergründig „nichts bringen“, auf der Prioritätenliste nach hinten. Dies wirkt sich vor allem auf ehrenamtliches Engagement aus. Viele Menschen können und wollen sich nicht mehr über Jahre hinweg in Gremien oder der Leitung von Gruppen engagieren. Ein zeitlich begrenztes Engagement ist dagegen in vielen Fällen durchaus möglich.
8. Moderne Kommunikationsmittel – Virtualisierung und Medialisierung
Medien und moderne Kommunikationsformen gehören zum Alltag und prägen diesen in vielfältiger Weise. Das Internet bietet neue und schnelle Formen der Kommunikation, der Information, der Unterhaltung und der Vernetzung. Alle Generationen sind inzwischen Nutzer dieser Angebote und kaum jemand möchte darauf verzichten. Die Kirche versucht, in den neuen Medien wie auch im bestehenden Medienangebot präsent zu sein. Sie bieten die Chance, über kirchliches Leben zu informieren und christlichen Glauben zu erschließen. Voraussetzung dafür ist, dass sich Kirche konstruktiv und kritisch mit den neuen Medien auseinandersetzt, ihre Medienkompetenz stärkt und sich an der Entwicklung einer Medienethik beteiligt. Die Kirche hat auch im Blick, dass moderne Kommunikationsmittel die Risiken der Sucht, der Vereinsamung und des Missbrauchs in sich bergen.
9. Weniger Priester, höhere Ansprüche an Seelsorge – Problem des Priestermangels
Der Rückgang an Gläubigen und der Mangel an Priestern beunruhigen die Kirche in gleicher Weise. Vor allem stellt der Priestermangel eine komplexe Problematik dar: Die weniger gewordenen Priester werden in vielen Bereichen der Seelsorge von Frauen und Männern in pastoralen Berufen unterstützt, so dass es heute im Dienst des Erzbistums München und Freising nicht weniger hauptamtliche Seelsorger gibt als vor 50 Jahren. Dramatisch zurückgegangen ist die Zahl der Priester. Daher können nicht mehr so viele Eucharistiefeiern angeboten werden wie früher und Priester sind im kirchlichen Leben nicht mehr so präsent. Pfarrei und Seelsorge müssen sich den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen und haben dies vielfach schon getan. Trotzdem richten sich im Bereich der Seelsorge und des pfarrlichen Lebens die Erwartungen weiterhin auf die Person des Priesters. Sie sollen sich mit hoher Professionalität den Menschen zuwenden, würdig die Liturgie feiern, die Seelsorgseinheit „managen“, hauptamtliche wie ehrenamtliche Teams führen und Wegbegleiter und Vorbilder im Glauben sein. Daraus erwachsen Fragen nach dem Priesterbild und der Priesterausbildung und nach einer zeitgemäßen Berufungspastoral für den Priesterberuf sowie auch für alle geistlichen und kirchlichen Berufe. Viele Menschen verbinden mit dem Schlagwort vom Priestermangel auch die Forderung, die Zulassungsbedingungen zum Amt zu überdenken. Das Wort Jesu von der Diskrepanz zwischen der großen Ernte und den wenigen Arbeitern (vgl. Lk 10,2) erfährt in heutiger Zeit gerade in Bezug auf den Priesterberuf eine bedrängende Zuspitzung.
10. Entfremdung der jungen Generation – Jugend und Kirche
Das Verhältnis von Jugend und Kirche ist von einem starken Wandel, wenn nicht sogar von zunehmender Entfremdung gekennzeichnet. In jedem Fall ist der Mangel an Jugendlichen und jungen Erwachsenen für die Kirche ähnlich bedrängend wie der Priestermangel. Zieht man in Betracht, dass „die Jugend“ heute genauso vielfältig ist wie die Gesellschaft allgemein (vgl. die U27- Jugend-Studie zu den Sinus-Milieus), dann stellen sich folgende Fragen:
• Wie kann Kirche für Jugendliche anschlussfähig bleiben?
• Wie werden religiöse Inhalte und kirchliche Haltungen mit Jugendlichen kommuniziert?
• Wie können traditionelle Formen kirchlichen Feierns mit der spirituellen Sehnsucht Jugendlicher in Einklang gebracht werden?
• Wie finden herkömmliche Gottesdienste und jugendgemäße Liturgieformen zueinander?
• Wie können jungen Menschen eigene Wege der Gottesbegegnung eröffnet werden?
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Zeichen der Zeit - Kriterien
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