Karl Rahner: Frömmigkeit früher und heute (1965)
Wenn einer es heute fertig bringt,
mit diesem unbegreiflichen, schweigenden Gott zu leben,
den Mut immer wieder neu findet, ihn anzureden,
in seine Finsternis glaubend, vertrauend und gelassen hineinzureden,
obwohl scheinbar keine Antwort kommt als das hohle Echo der eigenen Stimme,
wenn einer immer wieder den Ausgang seines Daseins frei räumt
in die Unbegreiflichkeit Gottes hinein,
obwohl er immer wieder zugeschüttet zu werden scheint
durch die unmittelbar erfahrbare Wirklichkeit der Welt,
ihrer aktiv zu meisternden Aufgabe und Not
und ihrer immer noch sich weitenden Schönheit und Herrlichkeit,
wenn er dies fertig bringt ohne die Stütze der „öffentlichen Meinung“ und Sitte,
wenn er diese Aufgabe als Verantwortung seines Lebens
in immer erneuter Tat annimmt
und nicht als gelegentlich religiöse Anwandlung,
dann ist er heute ein Frommer, ein Christ. (...)
Um in diesem Sinn der kargen Frömmigkeit
den Mut eines unmittelbaren Verhältnisses zum unsagbaren Gott zu haben
und auch den Mut, dessen schweigende Selbstmitteilung
als das wahre Geheimnis des eigenen Daseins anzunehmen,
dazu bedarf es freilich mehr
als einer rationalen Stellungnahme zur theoretischen Gottesfrage
und einer bloß doktrinären Entgegennahme der christlichen Lehre.
Es bedarf einer Mystagogie in die religiöse Erfahrung,
von der ja viele meinen, sie könnten sie nicht in sich entdecken,
einer Mystagogie, die so vermittelt werden muss,
dass einer sein eigener Mystagoge werden kann.
Nur um deutlich zu machen, was gemeint ist,
und im Wissen um die Belastung des Begriffs „Mystik“
(der recht verstanden, kein Gegensatz
zu einem Glauben im Heiligen Pneuma ist, sondern dasselbe)
könnte man sagen:
Der Fromme von morgen wird ein „Mystiker“ sein,
einer, der etwas erfahren hat,
oder er wird nicht mehr sein. (...)
Solche Mystagogie muss uns konkret lehren, es auszuhalten,
diesem Gott nahe zu sein, zu ihm Du zu sagen,
sich hineinzuwagen in seine schweigende Finsternis,
nicht sich zu ängstigen,
man könne ihn gerade dadurch verlieren,
indem man ihn beim Namen nennt.
Aus: Karl Rahner, Frömmigkeit früher und heute, in: Ders., Zur Theologie des geistlichen Lebens, Benziger-Verlag Einsiedeln u.a. 1966 (Schriften zur Theologie VII), S. 11-31, hier: S. 21-23.