Edith Stein: Aus einem Brief vom 12. Februar 1928 an Sr. Callista Kopf,
eine ehemalige Speyerer Schülerin Edith Steins


Natürlich ist Religion nicht etwas für den stillen Winkel und für einige Feierstunden, sondern sie muß (...) Wurzel und Grund allen Lebens sein, und das nicht nur für wenige Aus­erwählte, sondern für jeden wirklichen Christen (...). In der Zeit unmittelbar vor und noch eine ganze Weile nach meiner Konversion habe ich (…) gemeint, ein religiöses Leben führen heiße, alles Irdische aufgeben und nur im Gedanken an göttliche Dinge leben. Allmählich habe ich aber einsehen gelernt, daß in dieser Welt anderes von uns verlangt wird und daß selbst im beschaulichsten Leben die Verbindung mit der Welt nicht durchschnitten werden darf; ich glaube sogar: je tiefer jemand in Gott hi­neingezogen wird, desto mehr muß er auch in diesem Sinne "aus sich herausgehen", d.h. in die Welt hinein, um das göttliche Leben in sie hineinzutragen.

Es kommt nur darauf an, dass man in der Tat einen stillen Winkel hat, in dem man mit Gott so verkehren kann, als ob es sonst überhaupt nichts gäbe, und das täglich: das Gege­bene scheinen mir die frühen Morgenstunden, ehe die Ta­gesarbeit beginnt; ferner, dass man seine besondere Mission dort bekommt, am besten auch für jeden Tag, und nichts selbst wählt, schließlich, dass man sich ganz und gar als Werkzeug betrachtet und speziell die Kräfte, mit denen man besonders arbeiten muss, z.B. den Verstand in unserem Fall als etwas, was nicht wir brauchen, sondern Gott in uns. (...) Mein Leben beginnt jeden Morgen neu und endet jeden Abend...

Aus: Selbstbildnis in Briefen I (1916-1933). Edith Stein Gesamtausgabe, Freiburg i.Br. 2000. Nr. 60, S. 85f.