Bis heute lassen sich Dichterinnen und Dichter gerne von den biblischen Psalmen inspirieren. Diese Gebete überzeugen durch ihre Ehrlichkeit und Offenheit gegenüber sämtlichen Gefühlslagen wie durch ihre Zeitlosigkeit und damit Aktualität.
Die Bibel bietet noch weit mehr als die 150 im Psalter zusammengestellten Gebete und Lieder. Das Loblied der Hanna in 1 Sam 2,1-10, Jonas Gebet in Jona 2,3-10 und das Magnificat in Lk 1,46-55 sind nur ein paar Beispiele dafür.
Für die verschiedenen Redaktionen des Ersten Testaments war die Anzahl von 150 Psalmen stets von Bedeutung.
(1) Diese 150 Gebete wurden in fünf Bücher gegliedert, analog zu den fünf Büchern Mose, der Tora. Jüdische Gelehrte sagten, Mose hat uns die Tora gegeben, David die Psalmen.
Freilich ist David nicht Autor der 150 Psalmen. Mit seinen dichterischen, musikalischen und sogar musiktherapeutischen Fähigkeiten, die er an Sauls Königshof einsetzte (vgl. 1 Sam 16,14-23), ist er aber ein willkommenes Vorbild als Psalmenbeter. Psalmen, die als Dichtungen König Davids ausgegeben wurden, waren bestimmt beliebt.
Die griechische Übersetzung des Ersten Testaments (Septuaginta) hat zum Teil die Zählweise der Psalmen verändert. Ihre Zählung hinkt streckenweise einen Psalm hinterher. Lateinische Übersetzungen weisen dieselben Änderungen auf. Das ist gut zu wissen, wenn man zum Beispiel die Texte Gregorianischer Gesänge sucht.
Die 150 Psalmen haben oft mehrere Überschriften. Heutige Herausgeber deuten mit ihren Überschriften auf den Inhalt des kommenden Gebets hin. Ihre Texte stehen vor der Zahl des jeweiligen Psalms und sind oft auch farblich gekennzeichnet. Diese Überschriften gehören nicht zum Bibeltext. Viele Psalmen haben zudem einen einleitenden Text durch Redaktoren biblischer Zeit. Diese Überschriften gehören sehr wohl zum Psalter. Häufig heißt es einleitend „Ein Psalm Davids“. Auch Salomo (vgl. Pss 72; 127) und Mose (vgl. Ps 90) werden genannt, außerdem die Sängergruppen um Asaf und Korach. Manche Angaben beziehen sich vermutlich auf nicht mehr rekonstruierbare Melodien oder Instrumentalbegleitungen. Auch Gattungsbezeichnungen wie „Lied“ oder „Gebet“ kommen vor oder Angaben zur bevorzugten Verwendung wie „Wallfahrtslied“ (vgl. Pss 120-134) oder „Für den Shabbat“ (Ps 92). Interessant sind Situationsangaben aus dem Leben Davids bei einigen Psalmen (z.B. Pss 3; 18; 34; 51; 57). Diese Einleitungen lassen Rückschlüsse auf das Verständnis der Gebete in biblischer Zeit schließen.
Ein wichtiges Stilmittel der Psalmen ist der Parallelismus. Die meisten Verse bestehen aus zwei parallel gestalteten Aussagen, manche aus drei. Der zweite Satz (manchmal auch ein dritter) wiederholt die Aussage des ersten mit anderen Worten, ergänzt oder steigert sie oder bildet gelegentlich eine Antithese. Diese Art des Dichtens und Betens gibt Zeit, das Gesagte zu meditieren und zu verinnerlichen. Im Wechselgesang ist zwischen diesen Halbversen etwas Stille vorgesehen. Auch diese gibt Gelegenheit zum Verweilen.
Zum Beispiel heißt es in Ps 34,16:
Die Augen des HERRN sind den Gerechten zugewandt, seine Ohren ihrem Hilfeschrei. Die Satzglieder können wie in Ps 85,11 überkreuzt stehen:
Es begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Friede küssen sich. Als Grundformen der Psalmen lassen sich Klage- und Bittgebete sowie Danklieder und Hymnen nennen. Diese kommen als Gebete Einzelner und als kollektive Anrufungen Gottes vor. Alles darf vor Gott artikuliert werden: Klagen über existentielle Not, dringende Bitten an Gott, einzugreifen, Anklagen, Sündenbekenntnisse und Unschuldserklärungen, aber auch Erinnerungen an Gottes Hilfe und Dank dafür. Alle Gedanken und Gefühle werden ins Gebet gebracht. In vielen Psalmen ist zu sehen, dass diese ehrlichen Aussprachen mit Gott die Betenden verändert. Die Erinnerung an Gottes Hilfe in vergleichbaren Situationen gibt ihnen Mut und Kraft, gegen Unrecht aufzustehen. Viele Betende finden trotz großen Leids wieder Lebensfreude.