Reise durch die Bibel - Etappe 7
Heilsgeschichte in Geschichten – Rut, Tobit, Judit, Ester

Dr. Josef Steiner

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Die Bibel ist in einer ausgeprägten Erzählkultur entstanden und gewachsen. Ihr ist auch die biblische Weisheitsliteratur verpflichtet. So haben die Bücher Rut, Tobit, Judit und Ester die Grundhaltungen von Klugheit, Mut und politisch rettendes Handeln in spannende Erzählungen gegossen, die vom Vertrauen heldenhafter Frauen und Männer auf den mitgehenden Gott Zeugnis geben.

1. Einstieg
 
Vater Sohn
Eine der ältesten Formen von Literatur ist das Erzählen. Ihr bedient sich auch die Bibel. Das Weiterfließen ihres Gottes- und Menschenbildes ist in eine Erzählkultur eingebettet und wird von ihr getragen. Refrainartig kommt deshalb immer wieder die Anweisung, all das Große und Schöne, all das Erschreckende und Leidvolle, das die vorausgegangenen Generationen erlebt haben, weiterzuerzählen. „Erzählt euren Kindern davon und eure Kinder sollen es ihren Kindern erzählen und deren Kinder dem folgenden Geschlecht.“ (Joel 1,3) Und die Kinder werden angehalten: „Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen, frag die Alten, sie werden es dir sagen.“ (Dtn 32,7). Eine fragende und eine erzählende Generation – beispielhaft in der jährlichen Feier der Nacht des Auszug familiär gelebt – lassen die Bibel lebendig bleiben.
 
Auch die pädagogisch ausgerichtete Weisheitsliteratur – herausgefordert und zur Blüte gekommen in der Begegnung mit der griechischen Kultur – stand vor der Aufgabe, Gottes heilsames Mitgehen in der Geschichte nicht nur theoretisch zu bekennen, sondern auch in sprechende Bilder zu verdichten. Sie griff deshalb zur Literaturform des Erzählens, um Gottes Barmherzigkeit und seine Option für Fremde, Arme, Witwen und Waisen in eindrucksvolle Geschichten zu gießen. Geschichten, die bewusst die Grenze zum Legendenhaften, Märchenhaften und Fiktionalen überschreiten, um möglichst eindrucksvoll und plakativ ihre Botschaft zu erzählen. Vier davon fanden schließlich in unterschiedlicher Form und Gewichtung Aufnahme in den Kanon der Bibel: die Bücher Rut, Tobit, Judit und Ester. Es empfiehlt sich, diese Geschichten einmal ganz zu lesen. Entscheidend ist ja, was man bei einer Reise selbst entdeckt. Einige Lesehinweise, verstanden als bescheidener Kurzreiseführer, können dabei helfen.
 
Es geht um Fragen wie:
  • Mit welchen Erzählungen, Geschichten bin ich groß geworden und wie prägen sie mich?
  • Was sind meine Lieblingsgeschichten aus Literatur und Bibel?
  • Welchen großen Erzählerinnen und Erzählern bin ich begegnet?

2. Texte

3. Wissen und Verstehen
 
3.1. Das Buch Rut – eine Geschichte über Fremdenliebe
 
Text
Rut 1-4: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
„Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“ (Lev 19,34).
 
Albert Schweitzer nennt die Fremdenliebe den Adelstitel des AT. Das Buch Rut ist eine konkrete Geschichte dazu, in welcher Dimension sie gelebt werden kann.
 
Im Kapitel 1 werden zunächst die sich begegnenden fremden Welten geschildert. Die eine ist die politische Konstellation. Moabiter und Israeliten sind sich räumlich nahe und leben in Spannung zueinander. Das hat sich schon für die aus der Wüste kommenden Stämme auf ihrer Suche nach einem Lebensraum gezeigt, festgehalten in der Geschichte vom moabitischen König Balak und dem Seher Bileam (Num 22-24). Das Spannungsverhältnis deutet sich auch im Namen des Stammes – Moab = vom Vater – an, die Herkunft aus dem Inzest von Vater Lot und seiner ältesten Tochter. Jetzt aber, in einer Situation der Not, werden die Moabiter zur Auffangstation und Heimat einer fliehenden israelitischen Familie.
 
Die andere Ebene ist die innerfamiliäre Beziehungswelt. Eine israelitische Schwiegermutter und eine moabitische Schwiegertochter finden in gemeinsamer Not zueinander. Und so beginnen zwei Witwen einen beispielhaften Weg der Solidarität und Liebe. Bindeglied ist Ruts Aussage: „Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott.“
 
Ruth und Boas
Walter T. Crane, Rut und Boas (19. Jh.)
Im Kapitel 2 praktiziert ein Großgrundbesitzer mit seinen Leuten die sozialen Gesetze, dass man bei der Ernte auf den Getreidefeldern nicht bis zum äußersten Rand abernten, in den Weinbergen nicht die abgefallenen Beeren einsammeln und die Olivenbäume nicht bis zur letzten Olive abklopfen soll. Die soll man den Armen und Fremden überlassen. (Lev 19,10; 23,22). Weisungen nicht auf dem Papier, sondern mit Leben gefüllt, die zwei Witwen die Existenz erleichtern.
 
Und in den Kapiteln 3 und 4 kommen verwandtschaftliche „Notgesetze“ in Kraft. Um den Familienbesitz nicht durch Not an andere zu verlieren, sollen die nächsten Verwandten den verkauften Boden „auslösen“, also „Löser“, Nothelfer sein. (Lev 25,25). Sie hatten ein Rückkaufrecht. Der Noomi am nächsten Verwandte übernimmt diese Rolle nicht – als äußeres Zeichen zieht er bei der Rechtsverhandlung seinen Schuh aus und drückt damit aus, dass er sich „diesen Schuh nicht anzieht“. Boas übernimmt die Verantwortung, er kauft den Besitz Noomis zurück, heiratet die Moabiterin Rut und wird so auch auf der Beziehungsebene ihr Löser. Rut wird später als Urgroßmutter Davids in den Stammbaum Jesu hineingewoben.
 
Das Buch Rut, ein Kleinod, eine wunderbare Geschichte über Treue, Solidarität und Liebe zu Fremden, in der Welt der Völker und im innerfamiliären Leben. Alle, die verheiratet sind, wissen, wie sehr gesunde Schwiegermütter zu einem guten und fruchtbaren Miteinander in Ehe und Familie beitragen.

Zum Weiterdenken
  • Wie begegne ich Menschen, die mir fremd sind?
  • Welche Menschen haben mir in meiner Biographie Türen zu neuen Welten eröffnet?
  • Wie steht es um mein soziales Gewissen und Engagement?

3.2. Das Buch Tobit – eine Geschichte über Krankheit und Heilung

Text
Tobit 1-14: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Das Thema der legendenhaften Erzählung ist in den Namen der beiden jugendlichen Hauptdarsteller festgehalten: Tobias – „Gott ist gut“, und Raphael – „Gott heilt“. Diese zentralen Eigenschaften Gottes werden an zwei Familien aufgezeigt, die sich spiegelbildlich gegenüberstehen und begegnen: die Familie von Tobit und Hanna, mit Sohn Tobias, und die von Raguel und Edna, mit Tochter Sara. Beide Familien leben als Vertriebene im Exil – mit Zeiten und Orten wird dabei großzügig umgegangen – und werden von einem harten Schicksal heimgesucht. Tobits Familie, von Anfang an fromm und gerecht, beispielhaft vor allem die Werke der Barmherzigkeit lebend, wird mit der Erblindung Tobits konfrontiert. Der Gerechte muss – wie im Buch Ijob – viel leiden, bis hin zum depressiven Wunsch der Selbsttötung. Die Familie Raguels hat ein Beziehungsproblem. Die einzige Tochter, Sara – „die Herrin“ – ist von einem bösen Geist besetzt, der sie unfähig zu Bindungen macht. Sie hat eine Ausstrahlung, die tödlich ist, und der die Männer nicht gewachsen sind. Auch sie überkommt der Wunsch nach Selbsttötung.
 
Die Rettung für beide Familien bringt die Jugend. Tobias muss sich auf den Weg machen, um seine materielle Zukunft zu sichern. Als Begleiter und Fremdenführer gewinnt er einen Bruder aus seinem Volk mit Namen Asarja – „Gott ist stark“, und einen Hund – in der Bibel oft Bezeichnung für fremde Völker – hier vielleicht ein diskreter Hinweis auf die schützende Begleitung durch wohlgesinnte Einheimische. Der Bruder erweist sich als therapeutischer Engel. Ein Fisch birgt die Heilmittel in seinem Innern. Im Buch Jona ist es ein Mensch, hier sind es Herz, Leber und Galle, die Heilung bringen.
 
Und so kommt es zu dieser heilsamen Begegnung in der Familie Raguels. Tobias unterbricht den Weg nach materieller Absicherung. Ausgestattet mit dem Vertrauen zu dem Schöpfer des Lebens und mit dem Mut, geprüften und abgestempelten Menschen zu helfen, wagt er gegen den mangelnden Glauben von Saras Vater – dieser gräbt in der Nacht schon ein Grab für ihn – den Bund der Liebe mit Sara. Das gemeinsame Gebet und das Verbrennen von Herz und Leber des Fisches schaffen eine Atmosphäre und verbreiten einen Geruch, in dem der Dämon Aschmodai keinen Raum mehr hat. Das Innere Saras, ihr Sitz des Lebens und der Gefühle gehen durch das Feuer der Liebe und verwandeln ihre Kräfte zum Aufbauen von Schönem und Gutem. Einen Geist, der zerstört, vernichtet, vertilgt, kann man nicht heilen, sondern nur vertreiben. Dass der Engel Raphael für Tobias während dessen Hochzeit auch noch das Geld holt, zeigt einen realistischen Zug der Geschichte.
 
Die legendenhafte Erzählung endet mit der glücklichen Zusammenführung der beiden Familien und der Heilung des Vaters Tobit. Der barmherzige Sohn schenkt dem geprüften Vater wieder das Sehvermögen. Die Galle dient dabei vielleicht als Betäubungsmittel oder zur Desinfektion. Auf jeden Fall haben die Jugendlichen den mangelnden Glauben und die blinden Flecken der Erwachsenen geheilt. Raphael der Engel verschwindet, er sagt nur: Nicht ich habe das gemacht, sondern es ist ein heilsames Werk des guten Gottes. Solche Engel im Leben sind unbezahlbar.
 
Hineingeflochten sind in die wunderbare Erzählung kurze heilsgeschichtliche Abrisse, pädagogische Haustafeln der Weisheit, psalmenartige Gebete. Das Büchlein ist ein mosaikartiger Teppich, gewoben in verschiedenen sprachlichen Fassungen, den öfter zu meditieren sich lohnt.

Zum Weiterdenken
  • An welchen Krankheiten leide ich? An welchen die Gesellschaft und die Kirche?
  • Welchen therapeutischen Schulen vertraue ich?
  • Welche Vorstellung von Engeln habe ich? Welche begleiten mein Leben?

3.3. Das Buch Judit – die Geschichte einer starken Witwe

Text
Judit 1-16: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Das Buch schildert die Tat einer tapferen, klugen und schönen verwitweten Freiheitskämpferin. Hintergrund ist die im zweiten Jahrhundert v. Chr. über Palästina herrschende Dynastie der Seleukiden. Besonders hervorgetan hat sich in diesem Prozess der griechischen Inkulturation Antiochus IV. Er nennt sich selbst Epiphanes, „der Gott, der in Erscheinung tritt, der wie die Morgensonne hervorkommt“. Ein Herrscher, der sich zum Ziel gesetzt hat, „das widerliche Volk der Juden kultivierter zu machen.“ Ein politisches Programm, das zum Widerstand der Makkabäer führte. In assoziativer Bezugnahme auf frühere geschichtliche Notsituationen des Volkes und in kreativer Ausmalung wird Judits befreiende Tat als Aufruf zum Widerstand und zur Bewahrung eigener biblischer Tradition geschildert.
 
Der erste Teil der Erzählung vergegenwärtigt die Notsituation. Bei einem internen Machtkampf im Osten zwischen den Großmächten Assur und Medien siegt der Assyrerkönig und will seinen Herrschaftsbereich bis nach Ägypten ausweiten. Weil sich die dazwischen liegenden Länder zunächst nicht unterwerfen, bricht Nebukadnezzar – mit dem Satz „Alle Völker sollten nur Nebukadnezzar verehren und alle Stämme und Nationen ihn als Gott anrufen“ (3,8) eindeutig als Antiochus IV. gekennzeichnet – zu einem Rachefeldzug auf, angeführt vom Oberbefehlshaber des assyrischen Heeres Holofernes. Viele Länder und Städte unterwerfen sich freiwillig, nur die im Bergland Judäa lebenden Israeliten beginnen aufzurüsten und halten in der Stadt Jerusalem Buß- und Bettage ab. Dem sich über den Widerstand wundernden Holofernes gibt der Anführer der Ammoniter Achior einen Kurzabriss der biblischen Heilsgeschichte des Volkes Israel, das sich nur bei Übertretungen der Tora selbst schwach macht. Holofernes findet solche Argumentation im Blick auf sein Heer eine Frechheit und schickt Achior unter Androhungen in die Stadt Betulia, der er die Wasserzufuhr abschneidet und die er aushungern will.
 
Judith mit dem Haupt des Holofernes, Öl auf Lindenholz, 75 x 56 cm Künstler: Lucas Cranach der Ältere Jahr: 1530 Ort: Jagdschloss Grunewald, Berlin
Lucas Cranach d.Ä., Judith mit dem Haupt
des Holofernes (16. Jh.)
Der zweite Teil schildert die Befreiung. In Betulia – hebräisch die Bezeichnung für ein junges, unverheiratetes Mädchen – lebt die Witwe Judit, die ihren Stammbaum auf den kämpferischen Simeon, den zweiten Sohn Jakobs, zurückführt, der gemeinsam mit seinem Bruder Levi die Vergewaltigung ihrer Schwester Dina gerächt hat. Judit hat dessen Gene in ihrem Blut. Und als die vom Lebenselement Wasser abgeschlossenen Einwohner der Stadt zu verzweifeln beginnen und den Verantwortlichen unverantwortliche Politik vorwerfen, kommt ihnen Judit mit ihrer biblischen Deutung der Situation als von Gott zugemutete Prüfung zu Hilfe und verheißt ihnen eine Tat, „von der man noch in fernsten Zeiten den Kindern unseres Volkes erzählen wird“ (8,32). Gestärkt durch das Gebet an den Gott ihres Vaters Simeon und vertrauend auf ihre faszinierende Schönheit geht sie in das feindliche Lager, nur koschere Selbstverpflegung mitnehmend. Sie will ihrer Identität als Jüdin treu bleiben, auch in den täglichen Waschungen. Klug und listig dem Holofernes die Gründe ihrer Flucht mitteilend – Achior hatte recht, und die Verletzungen der Tora sind jetzt geschehen und haben den Einwohnern Betulias Verderben und Untergang gebracht – gewinnt sie Holofernes Vertrauen. Sie weckt seine Leidenschaft, die zu seinem Verderben führt. Mit seiner Enthauptung nimmt Judit dem assyrischen Heer die Führung. Zurück in der Nacht nach Betulia stimmt sie ein Magnifikat an und gibt Anweisungen zur Verfolgung der verwirrten und fliehenden Assyrer. Mit einem Lied – ähnlich dem Lied der Richterin Debora – endet diese märchenhafte Tat Judits.
 
Im Psalm 68,6 wird Gott gepriesen als ein Anwalt der Witwen. Das Büchlein Judit zeigt eine starke Witwe als Anwältin Gottes und seines Kampfes gegen Gewalt und Machtmissbrauch.

Zum Weiterdenken
  • Welche starken Frauen imponieren mir im Blick auf Geschichte und Gegenwart?
  • Warum traut die katholische Kirche den Frauen die Kraft zur Wandlung nicht zu?
  • Warum hechelt sie immer gesellschaftlichen Entwicklungen hinterher?

3.4. Das Buch Ester – die Geschichte eines politisch handelnden Waisenkindes

Text
Ester 1-10: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
In Psalm 68,6 wird Gott als ein Vater der Waisen gepriesen. Das Büchlein Ester zeigt, welchen Vater das Waisenkind Ester findet und wie sie mit ihm die drohende Vernichtung des eigenen Volkes abwendet. Hintergrund ist wie im Buch Judit wieder die seleukidische Situation. Denn Antiochus IV. versucht eine kulturelle und spirituelle Vernichtung des biblischen Glaubens. Gymnasien werden gebaut, die griechische Sprache verpflichtend eingeführt, die kultischen Symbole Räucheraltar, siebenarmiger Leuchter, Schaubrottisch aus dem Tempel entfernt. Dann greift Antiochus zu härteren Maßnahmen. Er lässt die Mauer Jerusalems niederreißen, Männer umbringen, Frauen und Kinder als Sklavinnen verkaufen. Beschneidung und Feier des Sabbats werden unter Todesstrafe gestellt, der Brandopferaltar wird zu einem Altar des Olympischen Zeus verwandelt, und das Schwein als Opfertier ersetzt das Lamm.
 
Das Besondere des Buches Ester ist, dass es in einer hebräischen Fassung (und nur diese wird beim Purimfest verkündet) und zwei griechischen Fassungen vorliegt, in denen der hebräische Text durch umfangreiche Einschübe ergänzt wird. Die Einheitsübersetzung bringt die griechische Fassung, wobei der hebräische Text mit Versen, die griechischen Erweiterungen mit Versen und Buchstaben angezeigt werden.
 
Die Geschichte des hebräischen Kerntextes ist schnell erzählt. Auf dem persischen Königshof weigert sich die schöne Königin Waschti, bei einem ausufernden Fest als besonderer visueller Höhepunkt als Vorzeigefrau für Männer zu dienen, und wird aufgrund ihres emanzipatorischen Verhaltens abgesetzt. Was für eine Gefahr für alle Ehen und Machtverlust der Männer! An ihrer Stelle steigt das schöne jüdische Waisenkind Hadassa – „Myrtenbaum“, mit dem persischen Namen Ester – „Stern“, zur Königin auf. Begleitet wird dieser Wechsel von einem Höflingskonflikt, weil der jüdische Pflegevater Hadassas, Mordechai, dem hochgestellten Agiter Haman die nötige Ehrfurcht verweigert, sich vor ihm niederzuwerfen. Als Reaktion plant dieser die Vernichtung aller Juden im persischen Reich, was aber Mordechai und Ester verhindern. Der für Mordechai errichtete Galgen wird zum Gerichtsort Hamans. Die Judenverfolger werden dann selbst zu von Juden Verfolgten. All das soll aufgeschrieben und zur Erinnerung an den Tag, der durch Lose (Purim) zur Vernichtung der Juden beschlossen wurde, bei einem Fest, dem Purimfest, verkündet werden.
 
Dieser rein politische Vorgang wird in den griechischen Einschüben konkretisiert und „theologisiert“. Der dem Buch vorangestellte und am Ende gedeutete Traum Mordechais bezeugt, dass das gesamte Geschehen von Anfang an Gottes Plan und Werk ist. Der ausführliche königliche Vernichtungserlass ist ein beredtes Zeugnis antiken Antisemitismus. Ebenso ist der ausführliche Gegenerlass, der das Vernichtungsschreiben aufhebt, ein schönes Zeichen des wertschätzenden und friedlichen Miteinanders. Und in Mordechais und Esters Gebeten leuchtet auf, wie sehr sie ihre politisch handelnde Kraft aus dem Vertrauen zu Gott schöpfen. So kann man das Buch Ester in seiner Endgestalt sowohl politisch wie auch gläubig verstehen und erzählen.
 
Für alle, die in irgendeiner Form mit dem dauernd mutierenden Virus des Antijudaismus angesteckt sind, gilt der Rat der Schweizer Exegetin Veronika Bachmann: „Zugespitzt gesagt können Christinnen und Christen das Esterbuch ganz einfach ungeöffnet lassen.“ Dann kommen sie nicht in Versuchung – wie es im Nationalsozialismus geschah –, das Kapitel 9 des Esterbuches als besonders eindrückliches Zeugnis der ungebremsten Rachsucht der Juden zu verstehen.

Zum Weiterdenken
  • Warum fällt uns Kindern und Enkelkindern die Aufarbeitung der Schuldgeschichte unserer Väter und Mütter so schwer?
  • Wie beurteile ich das Anwachsen antisemitischer Reden und Handlungen?

Kurz: Die Bücher Rut, Tobit, Judit und Ester laden zu einem erzählenden Glauben ein – und das nicht nur gegenüber Kindern. Biblische Geschichten begleiten, stützen und verlebendigen dogmatische Belehrung, historische Aufklärung und informative Wissensvermittlung.

Inspirationen für weitere Entdeckungen

Lesenswertes am Rande: Ryszard Kapuscinski, Der Andere – edition suhrkamp 2544