3.4. Das Buch Ester – die Geschichte eines politisch handelnden Waisenkindes Text Ester 1-10:
Einheitsübersetzung 2016 |
Lutherbibel 2017 In Psalm 68,6 wird Gott als ein Vater der Waisen gepriesen. Das Büchlein Ester zeigt, welchen Vater das Waisenkind Ester findet und wie sie mit ihm die drohende Vernichtung des eigenen Volkes abwendet. Hintergrund ist wie im Buch Judit wieder die seleukidische Situation. Denn Antiochus IV. versucht eine kulturelle und spirituelle Vernichtung des biblischen Glaubens. Gymnasien werden gebaut, die griechische Sprache verpflichtend eingeführt, die kultischen Symbole Räucheraltar, siebenarmiger Leuchter, Schaubrottisch aus dem Tempel entfernt. Dann greift Antiochus zu härteren Maßnahmen. Er lässt die Mauer Jerusalems niederreißen, Männer umbringen, Frauen und Kinder als Sklavinnen verkaufen. Beschneidung und Feier des Sabbats werden unter Todesstrafe gestellt, der Brandopferaltar wird zu einem Altar des Olympischen Zeus verwandelt, und das Schwein als Opfertier ersetzt das Lamm.
Das Besondere des Buches Ester ist, dass es in einer hebräischen Fassung (und nur diese wird beim Purimfest verkündet) und zwei griechischen Fassungen vorliegt, in denen der hebräische Text durch umfangreiche Einschübe ergänzt wird. Die Einheitsübersetzung bringt die griechische Fassung, wobei der hebräische Text mit Versen, die griechischen Erweiterungen mit Versen und Buchstaben angezeigt werden.
Die Geschichte des hebräischen Kerntextes ist schnell erzählt. Auf dem persischen Königshof weigert sich die schöne Königin Waschti, bei einem ausufernden Fest als besonderer visueller Höhepunkt als Vorzeigefrau für Männer zu dienen, und wird aufgrund ihres emanzipatorischen Verhaltens abgesetzt. Was für eine Gefahr für alle Ehen und Machtverlust der Männer! An ihrer Stelle steigt das schöne jüdische Waisenkind Hadassa – „Myrtenbaum“, mit dem persischen Namen Ester – „Stern“, zur Königin auf. Begleitet wird dieser Wechsel von einem Höflingskonflikt, weil der jüdische Pflegevater Hadassas, Mordechai, dem hochgestellten Agiter Haman die nötige Ehrfurcht verweigert, sich vor ihm niederzuwerfen. Als Reaktion plant dieser die Vernichtung aller Juden im persischen Reich, was aber Mordechai und Ester verhindern. Der für Mordechai errichtete Galgen wird zum Gerichtsort Hamans. Die Judenverfolger werden dann selbst zu von Juden Verfolgten. All das soll aufgeschrieben und zur Erinnerung an den Tag, der durch Lose (Purim) zur Vernichtung der Juden beschlossen wurde, bei einem Fest, dem Purimfest, verkündet werden.
Dieser rein politische Vorgang wird in den griechischen Einschüben konkretisiert und „theologisiert“. Der dem Buch vorangestellte und am Ende gedeutete Traum Mordechais bezeugt, dass das gesamte Geschehen von Anfang an Gottes Plan und Werk ist. Der ausführliche königliche Vernichtungserlass ist ein beredtes Zeugnis antiken Antisemitismus. Ebenso ist der ausführliche Gegenerlass, der das Vernichtungsschreiben aufhebt, ein schönes Zeichen des wertschätzenden und friedlichen Miteinanders. Und in Mordechais und Esters Gebeten leuchtet auf, wie sehr sie ihre politisch handelnde Kraft aus dem Vertrauen zu Gott schöpfen. So kann man das Buch Ester in seiner Endgestalt sowohl politisch wie auch gläubig verstehen und erzählen.
Für alle, die in irgendeiner Form mit dem dauernd mutierenden Virus des Antijudaismus angesteckt sind, gilt der Rat der Schweizer Exegetin Veronika Bachmann: „Zugespitzt gesagt können Christinnen und Christen das Esterbuch ganz einfach ungeöffnet lassen.“ Dann kommen sie nicht in Versuchung – wie es im Nationalsozialismus geschah –, das Kapitel 9 des Esterbuches als besonders eindrückliches Zeugnis der ungebremsten Rachsucht der Juden zu verstehen.