Reise durch die Bibel - Etappe 4
Die verschiedenen Gesichter der Tora (Ex 21 bis Dtn 34)

Tamar Avraham

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Die ersten fünf Bücher der Bibel enthalten eine Fülle von Unterweisungen – kultische und soziale, zivilrechtliche und strafrechtliche – die die Beziehungen des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander regeln, alles, um ein Leben in Fülle zu ermöglichen. Sie waren Antworten auf konkrete Probleme vergangener Epochen und haben doch bis heute ihre Relevanz bewahrt.

1. Einstieg
 
Torarolle
Torarolle
Die ersten fünf Bücher der Bibel werden insgesamt als Tora, „Unterweisung“, bezeichnet und zeichnen sich durch eine einzigartige Verknüpfung von Erzählung und Lebensregeln, spezifischen Torot, „Unterweisungen“, aus. Sie beginnen mit einem großen Erzählbogen von der Schöpfung in Gen 1-3 über die Sintflut, die Erwählung Abrahams, die Entstehung des Volkes Israel und seine Unterdrückung in Ägypten bis zum Auszug aus der Sklaverei und den ersten Stationen des Zuges durch die Wüste in das verheißene Land in Ex 12-18. In Num 10-34 folgt die Beschreibung der Wüstenjahre bis zur Ankunft der Israeliten im Ostjordanland in der Erwartung des Einzugs in das verheißene Land.


3. Die ersten Unterweisungen: Bewahrung der Erinnerung an die Befreiung aus der Sklaverei

Text
Exodus 11-12: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017

Die Erzählung wird zum ersten Mal mit Ex 12,1 unterbrochen. Gerade hat Mose Pharao die letzte Plage angekündigt (Ex 11,4-6). Entsprechend wird die Ausführung berichtet (Ex 12,29-30).

Vergleichen Sie ausführlicher die genaue Entsprechung zwischen Ankündigung und Ausführung in Ex 11,1-8; 12,29-36.

Aber genau zwischen Ankündigung und Ausführung wird das Narrativ aufgebrochen, geht der Focus über vom Handeln Gottes an den Ägyptern zu den Israeliten (Ex 12,1). Hier geschieht etwas Neues: Das bevorstehende Ereignis, die Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei, ist so wichtig, dass von nun an der Monat der Befreiung, der Frühlingsmonat, der erste Monat des Jahres sein wird, entgegen einer alten Tradition, nach der das Jahr mit Einsetzen der Regenzeit im Herbst begann (vgl. Ex 23,16; 34,22). Die rabbinische Tradition wird später einen Kompromiss schließen und das Regierungs- und Festjahr im Frühjahr, die Rechnung der Jahre (seit Schöpfung der Welt) aber im Herbst beginnen lassen (Mischna, Traktat Rosch Haschana 1,1).

Zum Weiterdenken
  • Was bedeutet Zeitrechnung? Was bedeutet es, wenn die Jahre von einem bestimmten Ereignis an gerechnet werden (von der Schöpfung, von der Geburt Jesu, von dem Auszug Muhammads aus Mekka nach Medina, ...)? Was bedeutet es, wenn ein bestimmtes Fest das liturgische Jahr eröffnet (Advent und Weihnachten, Pessach ...)?

Der Einführung eines neuen Kalenders folgen in Ex 12,2-28.43-50; 13,1-16 Unterweisungen, wie in künftigen Generationen mit Hilfe des Pessach-Opfers und des Festes der Ungesäuerten Brote jährlich an das konstitutive Heilsereignis Israels erinnert werden soll. Es reicht nicht mehr, die Geschichte zu erzählen, sondern sie soll durch konkretes Tun immer wieder neu nachgelebt und aktualisiert werden.

Zum Weiterdenken
  • Wie halten Sie die Erinnerung an entscheidende Erlebnisse in ihrem Leben wach? Wie begehen Sie z.B. den Hochzeitstag, den Todestag enger Angehöriger?

Das Narrativ von der Schöpfung bis zum Auszug aus Ägypten hat einen festen Platz in christlicher Bibelauslegung und Verkündigung bekommen, ist im Koran neu aufgegriffen worden und damit gemeinsames Erbe jüdisch-christlich-muslimischer Kultur geworden. Dagegen ist die Auseinandersetzung mit den konkreten Handlungsanweisungen und ihre immer neue Aktualisierung der spezifisch jüdische Schwerpunkt in der Auslegung der Tora geblieben, so sehr, dass Raschi, R. Schlomo Jitzchaqi (ca. 1040-1105), der in Troyes, Mainz und Worms lebende bedeutendste jüdische Tora-Kommentator, seinen Kommentar mit den Worten beginnt: „Die Tora hätte mit ‚Dieser Monat soll die Reihe eurer Monate eröffnen‘ beginnen können, denn dies ist das erste Gebot, das Israel befohlen wurde“. – Was natürlich nicht heißt, dass nicht auch die Erzählungen, und gerade auch die vom Auszug aus Ägypten, von Juden und Jüdinnen immer wieder neu ausgelegt und aktualisiert werden.

4. Das „Herz“ der Tora: Sinai-Bund und Wohnstätte Gottes inmitten der Israeliten

Texte
Exodus 19-20: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Numeri 10: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017

Die Einflechtung der relativ knappen Pessach-Vorschriften in die Erzählung vom Auszug aus Ägypten ist ein erster Vorgeschmack auf den großen Einschub von Unterweisungen nach den ersten Stationen auf dem Zug der Israeliten durch die Wüste. In Ex 18 wird berichtet, wie der midianitische Priester Jitro, Moses Schwiegervater, in das Lager der Israeliten kommt, um sie zu ihrer Befreiung zu beglückwünschen. Er sieht, wie die Menschen vom Morgen bis zum Abend in langer Schlange vor Mose warten, damit er ihre Rechtsstreitigkeiten entscheide, und begreift, dass dies sowohl für das Volk als auch für Mose zu viel wird. Er schlägt vor, fähige Männer über Gruppen von je tausend, hundert, fünfzig und zehn einzusetzen, damit sie die Streitigkeiten regeln, während Mose sich auf die schwierigen Fälle und auf die Unterweisung in den göttlichen Anordnungen konzentrieren soll. Mose hält es durchaus nicht für unter seiner Würde, diesen praktischen Ratschlag anzunehmen. Danach verabschiedet er seinen Schwiegervater, und direkt danach heißt es:

„Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, an diesem Tag, kamen sie in der Wüste Sinai an. Sie waren von Refidim aufgebrochen und kamen in die Wüste Sinai. Sie schlugen in der Wüste das Lager auf. Dort lagerte Israel gegenüber dem Berg.“ (Ex 19,1-2)

Viele Kapitel und zwei Bücher später, in Num 10, wird der Erzählfaden wieder aufgegriffen: „Am zwanzigsten Tag des zweiten Monats im zweiten Jahr erhob sich die Wolke über der Wohnung des Bundeszeugnisses. Da brachen die Israeliten von der Wüste Sinai auf, wie es die Ordnung für den Aufbruch vorsah, und die Wolke ließ sich in der Wüste Paran nieder.“ (Num 10,11-12)

Auch der Schwiegervater des Mose, unter einem anderen Eigennamen, erscheint wieder, als wäre er nie weggegangen, und diesmal ist der Abschied endgültig: „Mose sagte zu Hobab, dem Sohn des Midianiters Reguël, seines Schwiegervaters [oder, wie es traditionelle jüdische Auslegung mit Berufung auf Ri 4,11 vorzieht zu interpretieren: zu dem Midianiter Hobab, Sohn Reguëls, seinem Schwiegervater]: Wir brechen auf zu dem Ort, von dem der HERR gesagt hat: Ihn gebe ich euch. Geh mit uns! Wir werden dir Gutes tun; denn der HERR hat Israel Gutes verheißen. Er aber sagte zu ihm: Ich gehe nicht mit, sondern ich gehe in mein Land und zu meiner Verwandtschaft zurück.“ (Num 10,29-30)

Zwischen Ankunft und Abschied des Schwiegervaters Moses, zwischen dem Aufschlagen des Lagers der Israeliten in der Wüste Sinai und seinem Aufbruch von dort vergeht knapp ein Jahr. Dieser Zeitraum ist in der Tora, wie sie uns heute vorliegt, mit dem Löwenanteil der göttlichen Anweisungen an Israel gefüllt. Dabei handelt es sich nach dem Zeugnis der Tora selbst nicht um einen homogenen Codex, sondern um eine Sammlung verschiedener Bücher und Vorschriften. Einige von ihnen sollen hier näher vorgestellt werden.

Zunächst werden in Ex 19-20 im Rahmen einer machtvollen Gotteserscheinung dem gesamten Volk die Zehn Gebote offenbart. Die weiteren Unterweisungen werden, da das Volk sich vor der überwältigenden Nähe Gottes fürchtet (Ex 20,18-21), durch Mose als Vermittler gegeben.

5. Das Bundesbuch – Programm für eine solidarische Gesellschaft

Text
Exodus 20-24: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Torarolle in der Gruppe betrachtet
Gespräch über einer Torarolle
Da ist als erstes das „Bundesbuch“ (Ex 20,22-23,33), das in seiner Eröffnung und in seinem Abschluss die Warnung vor Götzendienst einschärft, aber im wesentlichen Gebote, die das zwischenmenschliche Zusammenleben regeln sollen, enthält – Strafen für Vergehen wie Mord, Totschlag und Menschenraub, Entschädigungen für Körperverletzung und Schädigung des Besitzes und Anweisungen zum Schutz der sozial Schwachen und Fremden. Das für den Alten Orient Neue besteht darin, dass Gott selbst – und nicht ein als sein Stellvertreter auf Erden agierender König – der Gesetzgeber ist und der in seinem Recht Verletzte Gottes Hilfe einfordern und erwarten kann:

Vergleichen Sie den Text Ex 22,20-26 mit Reaktion Gottes auf die Unterdrückung der Israeliten in Ägypten Ex 3,23-25; 4,7-10; 6,2-8.

Weitere Anweisungen zu sozialer Gerechtigkeit im Bundesbuch finden sie Ex 23,1-12.

Das Bundesbuch wird in der Tora selber als eigene Einheit dargestellt, die Mose in Buchform aufschreibt und auf das die Israeliten beim Bundesschluss am Sinai verpflichtet werden (Ex 24,3-8). Seine Vorschriften spiegeln eine sesshafte Gesellschaft mit sozialen Spannungen wider, der der Aufruf zur Solidarität entgegengesetzt wird. Die moderne Bibelforschung datiert es in das Jerusalem des 8. Jh.s v., d.h. in die Zeit des unabhängigen Königreiches Juda; die Verankerung der Solidaritätsforderung im göttlichen Gebot verleiht ihr eine Autorität, die weit über der menschlicher Gesetze steht.
Zum Weiterdenken
  • Der moderne Sozialstaat und die Verankerung der Menschenrechte in internationalem Recht sind historisch gesehen im Rahmen des modernen Säkularisierungsprozesses entstanden, der den Menschen in den Mittelpunkt stellte und Partei für die Schwachen oft gerade gegen zu Machtapparaten erstarrte religiöse und religiös verklärte staatliche Institutionen ergriff. Wie kann die Verankerung sozialer Rechte gerade in der religiösen Überlieferung helfen, die Krise der Errungenschaften der Moderne zu überwinden? Als Anregung kann die in den 1970er und 1980er Jahren besonders in Lateinamerika entwickelte Befreiungstheologie dienen, die mit den sozialen Forderungen der Bibel gegen christlich verbrämte Diktaturen anging.
  • Was bedeutet Solidarität mit den Schwachen und Fremden in unserer Zeit der Flüchtlingsströme und Pandemie?

6. Ortswechsel zum Deuteronomium: Die Fortschreibung des Bundesbuches

Texte
Deuteronomium 6: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Deuteronomium 9-10: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Deuteronomium 15: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Deuteronomium 19: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Deuteronomium 24: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Deuteronomium 27-28: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017

Das Buch Deuteronomium mit seinen Unterweisungen ist nicht in das Narrativ der Tora eingeflochten worden, sondern steht an seinem Ende. Bereits in Num 22,1 erreichen die Israeliten nach vierzigjähriger Wüstenwanderung das Ostjordanland, die „Steppen von Moab, jenseits des Jordan bei Jericho“. Dort werden sie bleiben, bis der Befehl Gottes an Josua ergeht, das Volk über den Jordan in das verheißene Land zu führen (Jos 1,1-2). In den letzten Kapiteln des Buches Numeri werden noch Ereignisse an dieser letzten Station der Wüstenwanderung berichtet – die Verbindung der Israeliten mit Moabiterinnen und Midianiterinnen und der daraus resultierende Abfall an deren Gott, den Baal Pe’or (Num 25), die Volkszählung (26), der Krieg gegen die Midianiter (31), die Landnahme der Stämme Ruben und Gad sowie des halben Stammes Manasse im Ostjordanland (32) – aber im Buch Deuteronomium geschieht nichts mehr. Es ist eine einzige große Abschiedsrede des Mose, der das verheißene Land nicht betreten wird. Er rekapituliert die wesentlichen Ereignisse der Wüstenwanderung und schärft den Israeliten die Unterweisungen Gottes ein, voller Sorge, dass sie, die schon immer wieder gegen ihn gemurrt haben, sich nach seinem Tod erst recht von der von ihm vermittelten Tora abwenden werden. Mose hat bereits den Verlust des Landes und das Exil als Strafe für die Untreue im Blick.

Bei der Einschärfung der göttlichen Unterweisungen tauchen viele Gedanken des Bundesbuches in Weiterverarbeitung auf.

Lesen Sie dazu die Ausweitung des Schutzes vor Blutrache im Falle unbeabsichtigter Tötung Ex 21,12-14; Dtn 19,1-13; die Spezifizierung der Rechte der Schwachen Ex 22,20-26; Dtn 24,10-22; die Anwendung des landwirtschaftlichen Brachjahres, bei dem man in jedem siebten Jahr auf seine Besitzansprüche auf Grund und Boden verzichtet, auf ein finanzielles Brachjahr, in dem man auf die Rückzahlung von Darlehen verzichtet Ex 23,10-11; Dtn 15,1-11.

Aber während die Warnung vor Untreue gegenüber dem Gott, der Israel befreit hat, im Bundesbuch eher am Rand steht, wird sie im Deuteronomium zu einer wahren Obsession. Es wird eingeschärft, nur diesen Gott zu lieben, wie es prägnant im Shema‘ Israel („Höre Israel“) formuliert wird: „Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ (Dtn 6,4-5)

Praktizierende Juden und Jüdinnen sprechen diesen Text täglich beim Morgen- und Abendgebet, und wenn möglich, sind dies die letzten Worte der Sterbenden. Von Rabbi Akiva, dem großen Toragelehrten, der nach dem Bar-Kochba-Aufstand 132-135 entgegen des Verbotes der römischen Besatzungsmacht weiterhin öffentlich Tora lehrte und dafür hingerichtet wurde, wird erzählt, dass er diese Verse zitierte, während er zu Tode gefoltert wurde. Seine Schüler fragten ihn, wie er noch in dieser Situation an seiner Liebe zu Gott festhalten könne, aber er erwiderte, dass es ihm erst jetzt, wo er für seinen Gott sein Leben gibt, gelingt, das Gebot der unbedingten Gottesliebe zu erfüllen (Babylonischer Talmud, Traktat Berakhot 61b).

Die obsessive Beschäftigung des Deuteronomium mit der Untreue gegenüber Gott äußert sich auch in einer Bundeskonzeption, die Segen für Treue und Fluch für Untreue ankündigt. Vor allem der Fluch wird in immer neuen furchtbaren Bildern ausgemalt.

Lesen Sie dazu Dtn 27,9-26 (und, wenn Sie tiefer in diese Bilder einsteigen wollen, Dtn 28 – im Rahmen der jährlichen Toralesung in der Synagoge werden die Fluchtexte bewusst mit leiser Stimme vorgetragen).

Dies ist eine Pädagogik der Angstmache und Abschreckung, die die meisten von uns nicht mehr akzeptieren werden. Um dennoch dem Text gerecht werden zu können, ist es wichtig zu verstehen, auf welchem Hintergrund er gewachsen ist.

Modernen Bibelforschern, denen eine Fülle von Texten aus den Nachbarkulturen Israels zum Vergleich mit der Tora zur Verfügung steht, ist aufgefallen, dass die Verpflichtung auf die Gottesliebe ebenso wie die Fluchandrohungen Formulierungen in den Treueeiden, die die Assyrer von ihren Vasallen verlangten, entsprechen. Das auf Waffengewalt und Massendeportationen aufgebaute assyrische Reich wurde im 9. Jh. v. zum ersten Imperium des Vorderen Orients. 722 fiel ihm das Nordreich Israel zum Opfer, ein großer Teil der dort lebenden zehn Stämme wurde deportiert und ging unter anderen Völkern auf (vgl. 2 Kön 17). Das Südreich Juda entging nur knapp demselben Schicksal.

Die Bibel stellt die wunderbare Rettung Jerusalems vor der assyrischen Belagerung im Jahre 701 in den Vordergrund (vgl. 2 Kön 18-19), aber auch wenn die Hauptstadt nicht eingenommen wurde und die davidische Dynastie weiterregierte, so waren die Könige Judas doch Vasallen des assyrischen Großkönigs und wurden auf die erwähnten Treueeide verpflichtet. Noch beim Regierungsantritt des unmündigen Königs Joschija 639 stand das assyrische Großreich in der Fülle seiner Macht und seines Schreckens dar. Als Joschija im achtzehnten Jahr seiner Herrschaft die Renovierung des Jerusalemer Tempels anordnet, wird dort ein Buch gefunden, das furchtbare Strafen für die Nichteinhaltung der göttlichen Gebote androht und den König zu der entsetzten Folgerung bringt: Der Zorn des HERRN muss heftig gegen uns entbrannt sein, weil unsere Väter auf die Worte dieses Buches nicht gehört und weil sie nicht getan haben, was in ihm niedergeschrieben ist (2 Kön 22,13). Um das drohende Gericht abzuwenden, führt Joschija Reformen durch, in deren Mittelpunkt die Zentralisierung des Kultes einzig und allein auf den Jerusalemer Tempel steht.

Zum Weiterlesen
  • Lesen Sie dazu mehr in 2 Kön 22-23.

Die Konzentration des Kultes auf die Stätte, „die der HERR, euer Gott, erwählen wird“ (Dtn 12,5 und öfter) ist ein Charakteristikum des Buches Deuteronomium. Dies wie auch die Parallelen zu den assyrischen Treueeiden hat in der Bibelexegese zu einem weitgehenden Konsens geführt, dass eine erste Fassung des Deuteronomium unter der Herrschaft Joschijas entstanden ist und in ihr eine subversive Theologie zum Ausdruck kommt, die assyrische Sprach- und Vorstellungsmuster benutzt, um der Loyalität zum assyrischen Großkönig die Treue zum Gott Israels entgegenzustellen, der weltlichen Macht die göttliche Macht.

Zum Weiterdenken
  • Wie können Literatur und Theologie gerade in Zeiten, in denen das Gefühl politischer Ohnmacht stark ist, Alternativen aufzeigen?

Die Reformen Joschijas retteten das Königreich Juda nicht. 587/586 fiel es nicht den Assyrern, aber den ihren Platz als Großmacht einnehmenden Babyloniern zum Opfer. Die eigenstaatliche Existenz war zu Ende, Jerusalem zerstört, die Oberschicht wurde nach Babylon deportiert.

Zum Weiterlesen
  • Lesen Sie dazu mehr in 2 Kön 24-25.

Aber die Grundlagen für einen Neuanfang waren gelegt: Die im Deuteronomium begonnene Aufweichung weltlicher Autorität gegenüber der göttlichen machte es möglich, ein auf den Gott Israels und seine Unterweisungen konzentriertes Gemeindewesen unter politischer Fremdherrschaft zu denken. Die Deutung der politischen Niederlage als Strafe für die eigene Untreue gegenüber Gott und nicht als Ohnmacht des Gottes Israels gegenüber den Göttern Babylons zeigte Umkehr und Verzeihung als Weg zu einem Neubeginn nach dem Wahrwerden der Flüche auf, beispielhaft aufgezeigt an der von Mose errungenen göttlichen Verzeihung nach der Ursünde der Errichtung des Goldenen Kalbs am Gottesberg.

Zum Weiterlesen
  • Lesen Sie dazu mehr in Dtn 9,11-10,11.

Vor diesem Hintergrund kann man die obsessive Beschäftigung des Deuteronomium mit der Untreue an Gott als einen Versuch lesen, gerade den Weg aus der Katastrophe zu neuer Hoffnung zu weisen.

Zum Weiterdenken
  • Wie ermöglicht mir das Übernehmen von Eigenverantwortung für Dinge, die schiefgegangen sind, einen Weg aus schwierigen Situationen zu finden?

Dieses Thema wird in anderer Weise von dem Text aufgegriffen, der sich unmittelbar an das Bundesbuch anschließt. Damit kommen wir zurück an den Sinai.

7. Zurück zum Herz der Tora: Wohnstätte Gottes inmitten der Israeliten

Texte
Exodus 25: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Exodus 35-36: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017

An den Bundesschluss über dem Bundesbuch schließt sich abrupt ein neues Thema an: Gott befiehlt den Israeliten, ein Zelt zu errichten, das von einem Hof umgeben und im Innern in zwei durch einen Vorhang getrennte Teile geteilt ist. Im inneren Teil soll die Bundeslade mit den Tafeln der Zehn Gebote aufgestellt werden und auf ihr eine „Sühneplatte“, über der sich die Herrlichkeit Gottes offenbaren wird. Die Details des Zeltes und seiner Ausstattung sowie die Kleider der in ihm amtierenden Priester und ihre Einsetzungszeremonie werden ausführlich beschrieben (Ex 25-31), und das Ganze wird noch einmal bei der Schilderung der Ausführung der Anordnungen wiederholt (Ex 35-40; Lev 8-9). Der Zweck all dessen ist, dass Gott inmitten der Israeliten wohnen wird (Ex 25,8).
 
Lesen Sie dazu Ex 25,1-22.
 
Nichts in der vorangegangenen Erzählung hat auf diese Absicht hingewiesen. Gott hat den Israeliten versprochen, sie als sein Volk anzunehmen und ihnen ein Land zu geben, aber von seinem Wohnen unter ihnen war nie die Rede. Wie beim Deuteronomium, so kann auch hier ein Blick in die Geschichte Israels helfen, um zu verstehen, wie dieser Gedanke entstanden ist.
 
Im Ersten Buch der Könige (1 Kön 6-8) werden ausführlich Bau und Einweihung des Jerusalemer Tempels durch Salomo beschrieben. Vergleicht man diese Schilderung mit der Beschreibung des Zeltheiligtums im Buch Exodus, zeigen sich wichtige Unterschiede: Der Bau des Tempels ist die Initiative des Königs, der Bau des Zeltheiligtums die Initiative Gottes. Der Tempel wird neben dem Palast des Königs errichtet, sozusagen als Palastkapelle, das Zeltheiligtum ist der alleinige Mittelpunkt des Lagers der Israeliten, mit dem kein weltliches Machtzentrum konkurriert. Der Tempel wird mit Hilfe des Frondienstes der Israeliten (eine verdächtige Parallele zu dem Frondienst für Pharao: übernimmt Salomo hier Herrscherallüren, die es nach der Tora eigentlich nicht geben sollte?), unterstützt von phönizischen Fachleuten, gebaut, das Zeltheiligtum mit Hilfe der freiwilligen Spenden und Arbeitsleistung der Israeliten. Der Tempel ist ein festes Gebäude an einem bestimmten Ort, das Zeltheiligtum ist transportabel, wird auf- und abgebaut, seine Geräte können mit Hilfe von Stangen auf der Schulter getragen und zum nächsten Rastplatz transportiert werden.
 
Lesen Sie dazu die Beschreibung des Frondienstes in 1 Kön 5,27-32 im Vergleich zu dem begeisterten Beitrag der Israeliten zum Bau des Zeltheiligtums – einer der wichtigen Fälle in der Bibel, wo auch den Frauen ein wesentlicher Anteil zugeschrieben wird – in Ex 35,4-36,7.
 
Aus all dem ergibt sich: Das Zeltheiligtum bietet eine Alternative, wie man die Präsenz Gottes unter seinem Volk ohne einen weltlichen Herrscher und ohne einen festen heiligen Ort denken kann – genau das, was in der Zeit des Babylonischen Exils, als der Tempel und die staatliche Unabhängigkeit verlorengegangen waren, nötig war. Diese Theologie blieb auch relevant, als einige Jahrzehnte nach der Rückkehr aus dem Exil ein neuer Tempel errichtet wurde, aber die politische Unterordnung unter Fremdherrschaft bestehen blieb.

Ihr Potential entfaltete sie schließlich neu, als im Jahr 70 auch der zweite Tempel zerstört wurde und es zu keinem Wiederaufbau kam. Der Gedanke des transportablen Heiligtums mit der Bundeslade in seiner Mitte, in der mit den Zehn Geboten der Kern der Tora aufbewahrt wird, wurde auf die Tora selber übertragen, die Torarolle, die man immer wieder, bei jeder neuen Vertreibung, unter den Arm nehmen und mitnehmen kann. So bleibt Gott in seinem geoffenbarten Wort immer und überall gegenwärtig. Nichts kann das verhindern. In der rabbinischen Tradition heißt es: „Wenn zehn Personen dasitzen und sich mit der Tora befassen, ist Gott unter ihnen gegenwärtig ... und woher wissen wir, dass dies sogar der Fall ist, wenn ein Einzelner dasitzt und sich mit der Tora befasst? Wie es heißt: ‚An jedem Ort, an dem ich meinem Namen ein Gedächtnis stifte, will ich zu dir kommen und dich segnen‘ [Ex 20,24]“ (Mischna, Traktat Avot 3,6).

Zum Weiterdenken
  • Wo kann ich Gott erfahren, was brauche ich dazu? Einen bestimmten Ort, eine Gemeinschaft, die Eucharistie, die Bibel, zwischenmenschliche Erfahrungen?
  • Wie kann ich mir in meinem Alltag Raum für die Erfahrung der Nähe Gottes schaffen?

Inspirationen für weitere Entdeckungen

Jan Assmann, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015/2019

Eckart Otto, Das Gesetz des Mose, Darmstadt 2007

Zur Herstellung und zum Umgang mit einer Torarolle