Reise durch die Bibel - Etappe 3
Exodus: Der Ruf in die Freiheit / Gebote als deren Schutz

Dr. Christine Abart

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Die Erzählung vom Auszug aus Ägypten zeigt, wie sehr sich das Volk Israel von Gott begleitet weiß. Sein Gottvertrauen gibt ihm die nötige Kraft, der ausweglosen Lage und vielfachen Unterdrückung zu entkommen. Die ägyptische Kriegsmacht dagegen versinkt im Meer. Diese Rettungsgeschichte wird zum grundlegenden, immer wieder neu erzählten Befreiungsmythos.

1. Einstieg
 
Moses mit Gebotstafeln
Die Erzählung von der Befreiung Israels aus Ägyptens Knechtschaft ist Inhalt des jüdischen Pessachfestes wie der christlichen Osterliturgie. In der Osternachtsfeier der katholischen Kirche ist der Kern dieser Erzählung verpflichtend als alttestamentliche Lesung vorgesehen, mit gutem Grund.
 
Erzählt wird vom Durchzug israelitischer Familien durch das Schilfmeer und vom Untergang der ägyptischen Streitmacht. Gott setzt sich für die Schwächeren ein, hier für sein Volk. Ägypten steht für jegliche Art von Machtmissbrauch. Mit den heutigen gleichnamigen Ländern hat der Text freilich nichts zu tun. Den Glauben der abrahamitischen Religionen prägt er aber zutiefst. In dieser Einheit finden Sie Hilfen zum Verstehen dieser grundlegenden Gotteserfahrung Israels.
 
Außerdem geht es um die Frage, wie das Gottesvolk aus dieser Erfahrung heraus Freiheit leben und sie allen Menschen und Tieren zugestehen kann. Vierzig Jahre Wüstenwanderung stehen für einen Lernprozess. Wie jede Gemeinschaft erkennt Israel, dass es für ein solches Leben in Freiheit gute Regeln braucht. Daher werden im zweiten Teil des Buches Exodus und in den folgenden Büchern der Tora Levitikus, Numeri und Deuteronomium Weisungen gegeben, erprobt und immer wieder aktualisiert. Diese bergen erstaunliche Impulse für die großen Themen der Weltgemeinschaft heute.


3. Das Buch Exodus im Kontext
 
Text
Exodus 1: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis enthält bereits der Beginn des Buches. Ex 1,1-7 blickt zurück auf die Josefsgeschichte ab Gen 39 und die Hilfe für Israel in Ägypten während einer weltweiten Hungersnot (vgl. Gen 41,57). Einige israelitische Familien ließen sich zu dieser Zeit im Nildelta nieder. Dass sie sich rasch vermehrten (vgl. Ex 1,7), ist ein Zeichen für Gottes Segen. Plötzlich aber kommt es zu einer gravierenden Veränderung für diese Zugewanderten:
 
Ex 1,8 In Ägypten kam ein neuer König an die Macht, der Josef nicht gekannt hatte. 9  Er sagte zu seinem Volk: Seht nur, das Volk der Israeliten ist größer und stärker als wir. 10 Gebt Acht! Wir müssen überlegen, was wir gegen es tun können, damit es sich nicht weiter vermehrt. Wenn ein Krieg ausbricht, könnte es sich unseren Feinden anschließen, gegen uns kämpfen und aus dem Lande hinaufziehen.
 
Der neue Pharao hat keinen Bezug mehr zu Josef, dem Sohn Jakobs, und sieht nur, dass hier Fremde leben, die sich rasch vermehren – zu rasch, befindet der neue König und schürt Fremdenangst. Damit hat er „Erfolg“, ein paar Verse später heißt es:
 
Ex 1,13 Die Ägypter gingen hart gegen die Israeliten vor und machten sie zu Sklaven. 14 Sie machten ihnen das Leben schwer durch harte Arbeit mit Lehm und Ziegeln und durch alle möglichen Arbeiten auf den Feldern. So wurden die Israeliten zu harter Sklavenarbeit gezwungen.
 
Was folgt, ist der immer neue Versuch, mit Gottes Hilfe dem ägyptischen Despoten zu entkommen. Wer hat wirklich Macht? Der Pharao, der sich selbst für Gott hält und auch so gesehen werden möchte, oder Israels Gott?
 
Zum Weiterlesen
  • Die Fremdenangst Ägyptens hat dazu beigetragen, dass Israel sich folgende Regel gegeben hat – wie andere Weisungen wird sie Gott in den Mund gelegt, um ihre Bedeutung zu unterstreichen.Lev 19,34 Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. 34 Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der HERR, euer Gott.
  • Außerdem gilt für viele Betende in von Menschen gemachter Not: 
    Ps 146,3 Vertraut nicht auf Fürsten, nicht auf den Menschen, durch den es keine Rettung gibt! 4 Schwindet sein Lebensgeist, kehrt er zurück zur Erde, an jenem Tag sind seine Pläne zunichte. 5 Selig, wer den Gott Jakobs als Hilfe hat, wer seine Hoffnung auf den HERRN, seinen Gott, setzt. 6 Er ist es, der Himmel und Erde erschafft, das Meer und alles, was in ihm ist. Er hält die Treue auf ewig.

4. Zwei Hebammen widersetzen sich dem Auftrag des Pharao

Text
Exodus 1,15-2,10: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Um gegen das mit vielen Kindern gesegnete Fremdvolk im Nildelta vorzugehen, ist dem Pharao jedes Mittel recht. Er selbst sagt den Hebammen Schifra und Pua, dass sie bei der Geburtshilfe hebräische Knaben sterben lassen sollen. Nur Mädchen können am Leben bleiben. „Die Hebammen aber fürchteten Gott“ (Ex 1,17). Das heißt, sie hatten Ehrfurcht vor Gott, dem Befehl des Pharaos widersetzten sie sich dagegen. Auf die Frage des Königs, warum sie so handelten, erfanden sie eine listige Antwort.
 
Im Text (Ex 1,15-21) heißt es abschließend, dass Gott den Hebammen zu Glück verhalf und ihnen Nachkommen gab. Mit dieser Aussage verstärken die Autoren ihre Absicht, Gott als überlegenen König darzustellen. Generelle Fragen zu glücklicher Elternschaft oder leidvoller Kinderlosigkeit wollen sie damit sicher nicht beantworten. Bibeltexte sind situativ und nicht absolut gemeint. Nur die Zusammenschau vieler verschiedener Aussagen zu einem Thema in der gesamten Bibel ermöglicht Annäherungen an Gottes- und Menschenbilder der Heiligen Schrift.
 
Erneute Frauen-Power rettet Mose das Leben
 
Laut Anordnung des Pharao soll Mose wie alle neugeborenen Knaben sterben. Mose Mutter aber sieht ihr „schönes“, besser „gutes“ Kind (vgl. Ex 2,2). So lange wie möglich verbirgt sie ihren Sohn. Dann baut sie ihm aus einem Binsenkörbchen ein kleines Schiff und setzt ihn auf dem Nil aus. Seine Schwester – das ist laut späterem Zusammenhang Mirjam – bleibt in der Nähe und beobachtet, was geschieht. Das Binsenkörbchen lautet im Hebräischen gleich wie Noachs Arche. Das lässt schon hier vermuten, dass Mose darin gerettet wird.
 
Weitere Frauen tragen zum Überleben des Mose bei. Die Pharonentochter kommt mit ihren Dienerinnen vorbei, hat Mitleid mit dem Hebräerkind und nimmt es zu sich an den Königshof. Mirjam vermittelt vorwitzig ihre Mutter als Amme. So kommt es, dass Frauen der verfeindeten Völker Ägypten und Israel gemeinsam Mose retten.

5. Zeichen für Gottes Überlegenheit

Text
Exodus 7-10: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Eine gefährliche Schlange, blutiges Wasser, Plagen durch Frösche, Stechmücken, anderes Ungeziefer und Heuschrecken, eine Tierseuche, Geschwüre an Menschen und Tieren, zerstörerischer Hagel und Finsternis erschreckten schon die Menschen der Antike. In Ex 7-10 werden solche Phänomene als Zeichen Gottes für Ägypten gedeutet. Sie sollen den neuen Pharao dazu bewegen, Israel in Frieden ziehen zu lassen.
 
Der Pharao aber denkt nicht daran, diese Arbeitskräfte zu entlassen. Ist sein Land in Not, lenkt er kurz ein. Ist die Plage aber überstanden, kehrt er zu seiner Starrheit zurück. Gott habe sein Herz verhärtet, interpretiert die Bibel, und macht die Geschichte damit zum Kampf zwischen Mächtigen. So lässt Ägyptens König seine Wahrsager holen, damit sie mit ihrer Zauberkunst dieselben Zeichen tun wie Mose und Aaron. Erst als diese selbst von Geschwüren befallen sind, geben sie auf.
 
Mose gilt als der von Gott erwählte Anführer seines Volkes. Er führt es in die Freiheit – geleitet durch die Vision vom gelobten Land und Gottes Zusage, mitzugehen. Ihm zur Seite steht sein Bruder Aaron, später tritt auch ihre Schwester Mirjam auf.

6. Hastiger Aufbruch Israels und der Tod der Erstgeborenen Ägyptens

Text
Exodus 12: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Nachdem die bisher gegebenen Zeichen beim Pharao nichts bewirkt haben, wird nun eine weitere Plage für Ägypten angekündigt. Alle Erstgeborenen bei Menschen und Tieren werden sterben.
 
Am Anfang des Buches hat der Pharao den Tod aller neugeborenen Knaben verlangt (vgl. Ex 1,16). Nun trifft es die Erstgeburt Ägyptens. Zu Beginn hat Gott die Klageschreie seines Volkes gehört (vgl. Ex 3,7.9). Nun wird es in Ägypten großes Geschrei geben (vgl. Ex 11,6).
 
Israel aber soll das Pessachfest begehen, das hier mit zeitlicher Angabe als Frühlingsfest und als Fest zum Jahresbeginn eingeführt wird. Ursprünglich praktizierten Hirten rituelle Schlachtungen junger Lämmer, Bauern kannten Feste mit ungesäuerten Broten. Nun werden diese Riten zu Erinnerungszeichen für den hastigen Aufbruch in die Freiheit.
 
Auch das Bestreichen von Türpfosten beziehungsweise Zelteingängen mit dem Blut von Lämmern galt schon beim nomadischen Frühlingsfest als Schutz vor Dämonen. In der Nacht des Aufbruchs schützt dieses Zeichen die Erstgeborenen Israels.
 
Das Pessachmahl im heutigen Judentum illustriert die Erzählung mit weiteren Symbolen wie Bitterkräutern und einem Lehmziegel farbigem Fruchtmus. Im Zentrum steht die durch Psalmen, Gedichte und Lieder angereicherte Erzählung aus Ex 1-14. Mose spielt in der für diese Familienfeier vorgesehenen Festordnung eine untergeordnete Rolle. Die Feiernden erleben sich selbst als Subjekte der Erzählung und erinnern sich an ihre je eigenen Schritte in ein Leben in Freiheit.

7. Göttliche Hilfe für Israel am Schilfmeer und der Tod der ägyptischen Streitmacht

Text
Exodus 13,17-15,21: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Meerwunder
Das Tauziehen zwischen Gott und Ägyptens König geht weiter. Sobald der Pharao sieht, dass Israel wirklich aufbricht, lässt er seinen Streitwagen anspannen und sein Kriegsvolk zusammenziehen (vgl. Ex 14,5-7). Das Herz des Pharao ist wiederum verhärtet (vgl. Ex 14,8.18). In dieser Härte oder Sturheit trifft der Pharao die falsche Entscheidung. Die Erzähler sagen, Gott hat sein Herz verhärtet, und zeigen auch damit Gottes Überlegenheit.
 
Angesichts der herannahenden Streitmacht verlieren freilich auch die Flüchtenden jeglichen Mut. Sie hadern mit Mose, der sie in diese Lage gebracht hat.
 
Ex 14,13 Mose aber sagte zum Volk: Fürchtet euch nicht! Bleibt stehen und schaut zu, wie der HERR euch heute rettet! Wie ihr die Ägypter heute seht, so seht ihr sie niemals wieder. 14 Der HERR kämpft für euch, ihr aber könnt ruhig abwarten.
 
„Fürchtet euch nicht!“ ist eine ganz zentrale und oft genannte Ermutigung in der Bibel. Gott zu vertrauen, ist für viele Bedrängte die einzige Chance, die ihnen bleibt. Dieses Vertrauen gibt Kraft zum Widerstand. In der weiteren Erzählung dient die gesamte Natur der Flucht Israels – literarische Kunstgriffe vom Feinsten. Am Ende steht der Glaube Israels an Gott. Das ist das Ziel biblischer Wundergeschichten.
 
Aus historischer Sicht ist es vorstellbar, dass sich israelitische Großfamilien zusammen­schlossen und vor den Ausbeutern flohen. Ihre Erzählungen über Generationen hinweg führten schließlich zu dem Text, der viel später als grundlegende Gotteserfahrung verschriftet wurde. Eine größere Fluchtbewegung wäre angesichts der militärischen Präsenz Ägyptens in der gesamten Region unmöglich gewesen und wird nur in der Bibel erzählt.
 
Behalten Sie dabei die Absichten der Erzähler im Blick:
  • Sie erzählen keine historischen Fakten, sondern wollen ihre Zeitgenossen zum Vertrauen auf Gott ermutigen.
  • Sie schreiben in Solidarität mit ihren Vorfahren, die in der Fremde ausgebeutet wurden.
  • Ein Ziel ihrer Erzählung ist, dass auch die Ägypter – sie vertreten hier alle fremden Völker – Israels Gott als HERRN erkennen (vgl. Ex 14,4). Der Gottesname HERR steht für Gottes Mitgehen und Dasein (vgl. Ex 3,14).
Ex 15,1-21 bedenkt das Erfahrene nochmals in poetischer Weise.
 
Zum Weiterdenken
  • Welche Bedeutung hat für mich Gott im Unrecht, das Menschen einander antun?
  • Kenne ich Extremsituationen, in denen ich oder mir nahestehende Menschen den Untergang von Gegnern gewünscht und/oder erbeten habe/n? Was war daran hilfreich?
Zum Weiterlesen
  • In Ps 105 danken Menschen für wichtige Erfahrungen mit Gott im Lauf ihrer Geschichte. Dabei wird der Exodus mit erstaunlichen Veränderungen erwähnt. Ps 105,37 Er führte sein Volk heraus mit Silber und Gold, unter seinen Stämmen war niemand, der strauchelte. 38 Bei ihrem Auszug freute sich Ägypten, denn Schrecken vor ihnen hatte sie alle befallen.

    Auch jüdische Leserinnen und Leser fragen beim Durchzug durch das Schilfmeer, warum Menschen sterben müssen, damit ihr Volk gerettet wird. Für die Feste Schawuot und Sukkot ruft die Bibel dazu auf, vor Gott fröhlich zu sein, an Pessach nicht. Die Begründung hierzu lautet in einem Midrasch: Weil so viele Ägypter starben.

    Zur Frage, ob Gott Freude am Untergang der Frevler habe, antwortete Rabbi Jochanan im Talmud empört, „als Gott die Ägypter ertrinken ließ, begannen die Engel im Himmel ihm eine Hymne zu singen und ihm zu jubeln. Aber Gott rügte sie: ‚Meine Geschöpfe [die Ägypter] sterben und ihr wollt singen?‘“ (Babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin 39b).

8. Israels Weg in die Freiheit führt durch die Wüste

Text
Exodus 15,22-27: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
In Freiheit zu leben, will gelernt sein. Ab Ex 15,22 folgen dem Danklied für die Rettung am Schilfmeer sofort Probleme auf dem Weg durch die Wüste. Die Flüchtenden finden kein Wasser und hungern. Sie murren gegen Mose und sehnen sich zurück nach Ägypten, wo sie sich im verklärten Blick zurück an Fleischtöpfen sitzen sehen. In Ex 17,8-16 muss sich Israel gar im Krieg gegen Amalek, einen Nachkommen Esaus, verteidigen.
 
Mit Gottes Hilfe bewältigt die Moseschar auch diese Herausforderungen. Gott bewahrt sein Volk vor Krankheiten und führt es an zwölf Quellen, für jeden Stamm eine, und an siebzig, also unendlich viele Palmen.
 
Morgens finden die Israeliten etwas Feines, Knuspriges auf der Erde. Sie fragen: „Was ist das?“ (Ex 16,15), auf Hebräisch „Man hu?“, und nennen es in Ex 15,31 ihrer Frage entsprechend „Manna“. Außerdem finden sie abends Wachteln. Mit täglichen Fleischrationen – in der Antike völlig undenkbar – verwöhnt sie Gott. Die Schreiber verknüpfen den Text mit Geboten zum Schabbat und aktualisieren ihn so für ihre Leserschaft. Mehr dazu finden Sie in Ex 16,1-31.
 
Zum Weiterdenken
  • Was hilft uns heute, Freiheit zu bewahren – persönlich, gesellschaftlich, global? Welche Rolle spielen Glaube und Religionen dabei?
  • Einladung: Suchen Sie sich ein bis zwei Menschen, mit denen Sie über persönliche Befreiungserfahrungen und über Ihre Visionen von gelebter Freiheit in kirchlichen und politischen Gemeinden sprechen möchten.

9. Gotteserfahrungen am Sinai – Mose

Text
Exodus 3,1-4,17: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Auf dem Weg durch die Wüste kommt Israel an den Berg Sinai, einen Ort wertvoller Gotteserfahrungen. Mose hatte hier gemäß Ex 3,1-4,17 seine erste wegweisende Begegnung mit dem Gott seiner Vorfahren. Er sah einen Busch brennen, aber nicht verbrennen. Ein Engel des HERRN erschien ihm darin, wenig später der HERR selbst (vgl. Ex 3,2.4). Mose legte seine Schuhe ab, denn dieser Ort ist „Erde/Boden der Heiligkeit“ (v 5). Nicht der Boden an sich ist heilig, sondern der Heilige begegnet hier dem Menschen. Vergleichbar bereiten sich Muslime für das Gebet unter anderem dadurch vor, dass sie ihre Schuhe ausziehen. Auch im jüdischen Gottesdienst gibt es Passagen, an denen Betende ihre Schuhe ablegen.
 
Wie ein Dornbusch brennen und dabei unversehrt bleiben kann, fragen antike Menschen nicht. Sie beschreiben bildhaft, wie sich Mose, ein junger Mann auf der nicht einfachen Suche nach seiner Identität, von Gott angesprochen fühlt. Das Feuer erweckt Moses Aufmerksamkeit für Gottes Anwesenheit.
 
Gott ruft Mose väterlich zweimal mit seinem Namen und Mose antwortet „Hier bin ich“ (v 4). Mose lässt sich wie Samuel und andere Propheten (vgl. 1 Sam 3,4; Jes 58,9) von Gott in Dienst nehmen. Dann geht es um die Frage von Nähe und Distanz. Mose empfindet Gottesfurcht, die am besten mit dem alten Wort Ehrfurcht zu erklären ist (vgl. Ex 3,6).
 
So bereitet der Text die folgende große Verheißung Gottes vor: Gott kennt das Leid seines Volkes, wird es der Hand der Ägypter entreißen und in ein schönes, weites Land führen, in dem Milch und Honig fließen (vgl. vv 7-8). Diese Verheißung will Menschen unterschiedlicher Zeiten in Leid und Not trösten.
 
Deutlich fordert Gott Mose auf: „Und jetzt geh!“ (v 10). Mose zögert und Gott sagt ihm zu: „Ich bin mit dir“ (v 12). Mose weiß nicht, wie ihm geschieht. Die Aufforderung, zum Pharao zu gehen, überfordert ihn, und im eigenen Volk hat er einen schweren Stand. Hilfesuchend fragt er Gott nach seinem Namen, um beim eigenen Volk zu punkten. Welcher Name aber wäre Gott angemessen? In Ex 3,14 antwortet Gott dem Mose: „Ich bin, der ich bin“. Früher stand in der Einheitsübersetzung „Ich bin da“. „Ich bin, der ich bin“ entspricht dem hebräischen Urtext, der offener formuliert ist. Dieser Name hilft vielleicht auch den Menschen oder Völkern, die Gott gerade nicht nahe erleben. Er nimmt die Forderung, sich von Gott kein Bild zu machen, das heißt ihn nicht festzulegen, ernst. Gott ist da, zeigt die Bibel. Er ist mit Mose (vgl. v 12) und er sieht sorgsam auf sein Volk (vgl. v 16), aber er ist nicht verfügbar.
 
Zum Weiterdenken
  • Das biblische Volk lebt aus der Verheißung, in ein Land geführt zu werden, in dem Milch und Honig fließen. Versuchen Sie, ein Verheißungsbild für unsere Zeit zu finden.
  • Um von Gott zu sprechen, ohne ihn festzulegen, ist es gut, mehrere, auch gegensätzliche Begriffe aneinanderzureihen. Schreiben sie eine Liste von Namen auf, mit denen Sie Gott anreden möchten und nehmen Sie diese mit ins Gebet.
  • Machen Sie sich mit dem Gottesnamen „Ich bin, der ich bin“ auf den Weg und überlegen Sie, was er den Menschen sagen könnte, denen sie begegnen.

10. Gotteserfahrungen am Sinai – das Volk Israel

Text
Exodus 19: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Auf dem Weg durch die Wüste, getrieben durch Gottes Verheißung, kommt Mose mit seinem Volk erneut in die Wüste Sinai. Israel lagert gegenüber dem Berg, und Mose steigt zu Gott auf den Berg. Wiederum geht es um Erfahrungen mit dem Heiligen, der sein ganzes Volk heiligt (Ex 19,6).
 
Immer schon haben Menschen Gott als nahe und fern zugleich erlebt. An dieser Stelle überwiegt die Sorge, Gott ob seiner Größe nicht schauen zu können, ohne zu sterben. Gott allein kann dieser Gefahr vorbeugen, was er für Mose tut.
 
Donner, Blitz und Hörnerschall in Ex 19,16-18 sind typisch für Theophanien, das heißt Gotteserscheinungen. Es geht aber auch ganz anders. In 1 Kön 19,11-12 hat Elija eine wichtige Gotteserfahrung am Sinai. Dabei zeigt sich Gott gerade nicht im Sturm, Erdbeben oder Feuer, sondern in gefüllter Stille. Gott ist auf keine Erfahrungsweise festlegbar, weiß die Bibel.
 
In Ex 19,19 antwortet Gott dem Mose mit deutlicher Stimme. Er spricht so, wie sonst Menschen miteinander reden. Was Gott antwortet wird nicht gesagt. Möglicherweise bezieht sich diese Rede bereits auf die folgenden Wegweisungen ab Kapitel 20.

Der Berg Sinai
Sinai/Moseberg vom Katharinenberg aus
Sinai/Moseberg vom Katharinenberg aus
Nach wie vor pilgern täglich unzählige Menschen auf den Berg Sinai – meist zu nächtlicher Stunde, um den Sonnenaufgang zu erleben. Die Bergmassive auf der Sinai-Halbinsel werden gegen Süden hin immer höher und sind beeindruckend. Freilich gibt es keinerlei Anhaltspunkte für die tatsächliche Lokalisierung solcher Texte. Auch ist der Sinai nicht der höchste Gipfel dieser Region. Doch es tut gut, an Orte zu reisen, an denen sich Menschen seit Jahrtausenden an Erfahrungen ihrer biblischen Vorfahren erinnern. Im Katharinenkloster am Fuße des Sinai leben Mönche seit dem sechsten Jahrhundert dieses Erbe.
 
Katharinenkloster am Fuß des Sinai/Moseberg
Katharinenkloster am Fuß des Sinai/Moseberg
Auf Hebräisch heißt Dornbusch „senah“ (vgl. Ex 3,3). Der Berg Sinai erinnert also schon mit seinem Namen an die Erzählung am Dornbusch. Ein weiterer Name für den Sinai ist „Horeb“ (vgl. Ex 3,1), was für die Trockenheit, Dürre und Verwüstung der Gegend steht. In der Überlieferung ist auch vom Moseberg die Rede. An diesem Ort bietet die Bibel für Wüstenzeiten aller Art Erfahrungen von Gottes Ferne und Nähe. Das Auf- und Absteigen von Gott und Mose auf dem Berg Sinai verdeutlicht die Gottessuche.

11. Zehn Worte für die Freiheit

Text
Exodus 20,1-17: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Deuteronomium 5,6-21: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Die Zehn Gebote
Die sogenannten „Zehn Gebote“ heißen auf Hebräisch nicht „Gebote“, sondern „Worte“ und sind nur der Beginn einer über mehrere Bücher reichenden Sammlung von Weisungen und deren Aktualisierung.
 
Zentral ist der erste Satz, das erste Gebot nach jüdischer Zählweise:
Ex 20,2 Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.
 
Unter dieser Prämisse schreiben Menschen auf, was nötig ist, damit alle – Menschen und Tiere – in Freiheit leben können. Offenbar war es nicht selbstverständlich, für die Alten zu sorgen und das Leben und Eigentum anderer zu achten. Das musste schriftlich geregelt werden. Auch in umliegenden Völkern gab es vergleichbare in Stein gemeißelte Reglements. Das biblische Volk Israel legt diese Worte Gott in den Mund und unterstreicht damit ihre Bedeutung. Außerdem ist dies ein Versuch, die Befugnisse weltlicher Herrscher einzuschränken.
 
Der erste Teil der Gebote betrifft die Beziehung zwischen Mensch und Gott. Es geht vor allem darum, Gott gemäß seines Namens „Ich bin, der ich bin“ (Ex 3,14) nicht für eigene Zwecke zu missbrauchen. Wer Gott auf äußere oder innere Bilder festlegen möchte, wird ihm nicht gerecht. Künstlerische Darstellungen Gottes regen zur Vertiefung und zur Reflexion der eigenen Gottesbeziehung an und sind hier freilich nicht gemeint. Im hebräischen Text ist von Kultbildern, also Statuen und Statuetten die Rede (vgl. Ex 20,4; Dtn 5,8). Wer Israels Gott ehren will, nimmt keine Figurinen zur Hand, sondern verhält sich sozial.
 
Einen Tag in der Woche frei zu haben, dient der körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheit. Diese Möglichkeit zur Regeneration muss allen Menschen und Tieren gewährt werden. Sie entspricht der göttlichen Schöpfungsordnung (vgl. Ex 20,11) und dem Einsatz für das Ende jeglicher Knechtschaft (vgl. Dtn 5,15). Die geforderte Wertschätzung für die Eltern regelt ihre finanzielle Absicherung. Auch die Achtung des Lebens, der Sexualität und des Eigentums der Nächsten wird schriftlich festgelegt und in den folgenden Texten konkretisiert.
 
Die zehn Worte sind zweifach mit kleinen Unterschieden überliefert. Während sie im Buch Exodus im Zentrum der Erzählungen des Weges durch die Wüste stehen, werden sie im Deuteronomium als Teil der großen Abschiedsrede Moses nochmals vergegenwärtigt. Das Einhalten der Weisungen ist Teil des Bundes zwischen Gott und Israel und betrifft die heute Lebenden (vgl. Dtn 5,3).
 
Zum Weiterdenken
  • Was bewirkt es, wenn ich bei Regeln als Prämisse mitbedenke, dass Gott aus jeglicher Form von Knechtschaft befreit?
  • Welche weiteren Regeln sind heute unverzichtbar?
  • Was hilft, nötige Regeln zu erklären und durchzusetzen?

12. „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ (Ex 21,24)

Text
Exodus 21,18-22,14: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Ex 21,18-32 regelt Ersatzleistungen bei Verletzungen im Streit. Heilungskosten, Entschädigung bei Arbeitsunfähigkeit und Bußgeld beim Abgang eines Fötus sind beispielhaft erwähnt. Die folgenden Sätze gelten für solche und ähnliche Fälle:

Ex 21,23 Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, 24 Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, 25 Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.
 
Im Sinne des zuvor Genannten ist auch hier Ersatz im richtigen Verhältnis gemeint. Gefürchtet war die Praxis der Blutrache, in der sich die Betroffenen gegenseitig zu immer größerem Blutvergießen aufstacheln. Dieser wird hier deutlich Einhalt geboten. Selbst wenn man die Gebote wörtlich verstehen will, betonen sie also die Eingrenzung von Gewalt und Gegengewalt. Um Sühneleistungen geht es aber auch in vielen folgenden Beispielen von Zusammenstößen und Haftungsfragen (vgl. Ex 21,26-22,14). Ersatzzahlungen sind sowohl in der Bibel als auch in rabbinischen Auslegungen belegt.
 
Die Übersetzung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ stammt von Martin Luther. Die Präposition „für“ im hebräischen Text mag die Betonung einer Ersatzleistung verdeutlichen.
 
Zum Weiterdenken
  • „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ wird leider oft als Negativfolie zitiert. Manchmal dient die Aussage gar dazu, das gesamte Erste/Alte Testament als grausam zu diffamieren. Bitte helfen Sie mit, aufzuklären.

13. Nächsten- und Feindesliebe

Text
Levitikus 19: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Das im Neuen Testament mehrfach geforderte Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ ist wörtliches Zitat aus Lev 19,18.
 
In Lev 19,2 fordert Gott die Israeliten auf, heilig zu sein, wie er selbst heilig ist. Wie das gehen kann, zeigen die folgenden Beispiele. In den vv 9-10 wird erwähnt, dass die Nachlese der Ernte den Armen gehört. Laut v 11 dürfen Menschen nicht stehlen, nicht täuschen und einander nicht betrügen. Konkret müssen zum Beispiel Waagen und Gewichtssteine stimmen (vgl. vv 35-36). Alte Menschen sollen hohes Ansehen genießen (vgl. v 32). Fremde dürfen nicht unterdrückt werden. Sie gelten wie Einheimische (vgl. vv 33-34). Um sie zu schützen, wird der wichtige Satz „du sollst ihn lieben wie dich selbst“ wiederholt (v 34).
 
In Mt 5,43-44 heißt es „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“. Allerdings fordert das Alte Testament nirgends dazu auf, die Feinde zu hassen. Vielmehr schließt auch Lev 19,18 die Feindesliebe ein. Die Aufforderung „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ wird gerade mit Blick auf die Menschen gesagt, mit denen das Auskommen schwer fällt. Der Evangelist Matthäus formuliert in guter Rhetorik für seine Zeitgenossen, die um diese Zusammenhänge wissen.

14. Erbschaftsfragen

Text
Numeri 27: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Numeri 36: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Erbschaftsfragen sind immer und überall aktuell. In Num 27 kämpfen die Töchter Zelofhads um das Erbe ihres Vaters. Sie haben keinen Bruder und wollen selbst erben. Dieses Anliegen tragen sie Mose, dem Priester Eleasar, den Anführern und der ganzen Gemeinde vor. Mose übergibt ihre Rechtssache Gott, der sagt:
 
Num 27,7 Die Töchter Zelofhads haben recht geredet. Du musst ihnen vererbbaren Grundbesitz bei den Brüdern ihres Vaters geben, also den Erbbesitz ihres Vaters auf sie übertragen. 8 Sag zu den Israeliten: Wenn jemand ohne Sohn stirbt, dann übertragt seinen Erbbesitz auf seine Tochter! 9 Hat er keine Tochter, dann gebt seinen Erbbesitz seinen Brüdern! 10 Hat er keine Brüder, dann gebt seinen Erbbesitz den Brüdern seines Vaters! 11 Hat sein Vater keine Brüder, dann gebt seinen Erbbesitz dem nächsten Verwandten aus seiner Sippe; er soll ihn erben. Das werde für die Israeliten zur Satzung und zum Rechtsentscheid, wie der HERR es Mose geboten hatte.
 
Der Besitz der Töchter Zelofhads würde aber für ihre Sippe verloren gehen, wenn sie Männer einer anderen Sippe heiraten. Darum kommen in Num 36,2-9 die Familienoberhäupter zu Mose und den Anführern, um erneut über die Frage zu diskutieren. Auch diese Frage klärt Mose mit göttlichem Befehl und gebietet den Töchtern, Männer ihrer Sippe zu heiraten. Das nehmen diese in Kauf.
 
Im Übrigen heißt es in einer Gottesrede zum Landbesitz:
 
Lev 25,23 Das Land darf nicht endgültig verkauft werden; denn das Land gehört mir und ihr seid nur Fremde und Beisassen bei mir.
 
Auch diese letztgenannte Weisung zeigt, wie aktuell die Fragen und Auseinandersetzungen des Gottesvolkes bis heute sind.
 
Das Wort Tora meint wörtlich, einen Weg zu zeigen. Israels Tora, die ersten fünf Bücher der Bibel, sind ganz in diesem Sinn voll von wertvollen Weg-Weisungen für alle Völker zu allen Zeiten.