Markus ist der erste, der um 70 n. Chr. das Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes (Mk 1,1), aufschreibt und damit auch die literarische Gattung Evangelium „erfindet“. Er schreibt für eine heidenchristliche Gemeinde vermutlich in Italien und stellt den Weg Jesu – und damit den Weg der Jüngerinnen und Jünger – als einen Weg nach Jerusalem dar. Damit betont er, dass die Botschaft von der Auferstehung nur gemeinsam mit Leben, Passion und Kreuzestod Jesu verkündet werden kann und somit allzeit gültig ist. Gleichzeitig warnt er vor der Illusion, christlicher Glaube biete automatisch Schutz vor Gefahren und Not. So stärkt Markus seine Gemeinde in Zeiten der Verfolgung und weist sie den Weg des Kreuzes: Wer Jesus von Nazareth wirklich ist, wird dem deutlich, der den Weg des Kreuzes geht. Erst im Tod Jesu wird sein Wesen offenbar. Der römische Hauptmann spricht unter dem Kreuz das Glaubensbekenntnis: „Dieser Mensch war Gottes Sohn!“ (Mk 15,39) – Jüngersein heißt, Jesus nachfolgen in Glaube, Selbstlosigkeit und der Bereitschaft zum Leiden; nur dann lässt sich glaubwürdig bekennen: Dieser Mensch ist Gottes Sohn!
Das ursprüngliche Ende des Evangeliums (Mk 16,8) schreckt auf und stellt Hörer/Leser vor die Frage: „Und du? Verstummst du auch aus Furcht, oder folgst du ihm nach?“
Der Weg als Schlüssel zum Verständnis des Mk-Evangeliums:
(3) Wie in einem Film bestimmte Orte bestimmte Botschaften transportieren, wie „Kameraschwenks“ Dramatik, Spannung erzeugen, Weitwinkel und Zoom die Perspektive verändern, so ist es auch im Mk. Es ist wie ein umgekehrter Krimi: Täter und Opfer sind bekannt; aber die Antwort auf die Fragen „Wer ist dieser Jesus eigentlich? Warum ist es ihm so ergangen?“ steht noch aus.
Mk ist voll von Ortsangaben – von bestimmten (Nazaret, Jerusalem) und unbestimmten (Wüste, Weg); Ortswechsel haben Spannungsbögen im Erzählverlauf zur Folge.
So lässt sich Mk in 5 Hauptteile gliedern, die sich – wie Zwiebelringe – um die Mitte legen: (A – B – C – B´ – A´). Wüste zu Beginn (1,4-12) und Grab am Ende (15,42-16,8) bilden den äußeren Rahmen. Beides sind lebensfeindliche Orte, die von gefährlichen Wesen bewohnt sind: Wildtiere/Satan – Dämonen/unreine Geister. Beide Orte symbolisieren die chaotischen Todesmächte, die Jesus jedoch zu Beginn und am Ende besiegt.
Wüste und Grab (Einstieg und Ausstieg des Evangelisten) sind Durchgangsstationen und Orte der Neuschöpfung für Taufe (1,9) und Auferstehung (16,6); neues Leben entsteht im Angesicht der Todesmächte dieser Welt. Mk gestaltet beide Orte ähnlich: suchende Menschen strömen dorthin, wollen etwas Unerwartetes finden – einen Boten im ungewöhnlichen Gewand (Täufer, Engel), der auf Jesus verweist und die Menschen in Bewegung setzt.
Die wichtigste geographische Hauptlinie zieht sich von Galiläa nach Jerusalem: In Galiläa wirkt Jesus durch Lehren, Umherziehen, Heilen, Dämonenaustreibungen. Hier erlebt er den sog. „Galiläischen Frühling“ seiner Mission; seine Botschaft verbreitet sich wie ein Lauffeuer – die Menschen strömen herbei, um ihn zu hören und zu sehen. Zwischen den Zeilen ist es nahezu greifbar: das Reich Gottes ist nahe!
Jetzt ist die Zeit da! Das hohe Tempo von Ort zu Ort macht fast schwindlig; Jesus zieht rastlos und überaus erfolgreich durch seine Heimat.
Die Grenzübertritte, die sich Jesus im Mk leistet, bieten Anknüpfungspunkte für die (vormals heidnische) Gemeinde des Evangelisten: Wenn Jesus ins Gebiet der Gerasener (5,1-20), nach Sidon und Tyrus (7,24-30) reist, dann bietet Mk darin Identifikationsmöglichkeiten für Nichtjuden; auch ihre Welt ist die Welt Gottes!
In Jerusalem spitzt sich der Konflikt zwischen Jesus und den Autoritäten zu, die Zeit der Wunder ist vorbei. Der Gegensatz zwischen der Provinz Galiläa und dem Zentrum Jerusalem (mit dem Tempel) wirkt teilweise richtiggehend inszeniert! Das idyllische Galiläa symbolisierte den Neubeginn, den Anbruch des Reiches Gottes; hingegen wartet auf Jerusalem die Zerstörung.
(4) Hier geht auch der Weg Jesu zu Ende.
Mk reduziert das Handeln Jesu auf die Konflikte um den wahren Tempeldienst und auf die Streitgespräche mit der Führungsschicht. Auffällig ist, dass Jesus und seine Jünger nicht in der Stadt wohnen, sondern außerhalb (in Betanien); die Stadt erscheint wie eine Falle, die früher oder später zuschnappt.
Die Mitte des Mk wird geschildert als „Weg“, als Unterwegs-Sein (8,27-10,45). Warum?
Weg Jesu und Nachfolge sind das zentrale Thema von Mk; sie können nur im „Nachgehen“ verstanden werden. Um das Leiden kommt man in der Nachfolge Jesu nicht herum – das scheint Mk seiner Gemeinde immer wieder und deutlich vor Augen zu führen.
(5) Am Ende freilich steht die Perspektive (14,7): Er geht euch voraus nach/in Galiläa! – Dort, wo deine/meine Heimat ist, wo wir gerade wohnen, können wir die Nachfolge nach Ostern fortsetzen!
Der Weg im Mk wird eingerahmt durch zwei Blindenheilungen: 8,22-26 und 10,46-52. Wer sich mit Jesus auf den Weg macht, der bleibt nicht blind, sondern wird ein Sehender!
Mk verzichtet – im Vergleich zu Mt und Lk – nicht nur auf eine Geburt Jesu zu Beginn; auch sein „Ende“ gestaltet sich anders – für manche regelrecht als „Zumutung“ (16,1-8): Kein Auferstandener erwartet die drei Frauen, die zum leeren Grab kommen; „nur“ ein Engel schickt sie „heim“ nach Galiläa – dort werden sie ihn erleben! Der letzte Vers im Mk verstört:
Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich. Kann man so ein Evangelium enden lassen? … ohne „Happy End“? In Flucht, Verschweigen, Furcht? Nein! – Schon wenige Jahrzehnte später, mit der Verbreitung des Mt- und Lk-Evangeliums gönnt sich auch die Mk-Gemeinde ein „besseres“ Ende und ergänzt Mk um ein weiteres Kapitel (16,9-20).
Und doch soll die theologische Herausforderung des ursprünglichen Mk-Endes noch einmal pointiert dargestellt werden:
Mit 16,8 bin ich als Leser/Hörer persönlich angefragt. Wenn ich auch fliehe, wenn ich meine Erfahrungen mit Jesus verschweige, wenn ich Angst vor den Konsequenzen des Weges mit Jesus habe – dann ist seine Mission zu Ende! Aber das werde ich doch nicht tun …!?