Reise durch die Bibel - Etappe 10
Das Evangelium Jesu und die Evangelien: Synoptiker

Helmut Heiss

Text als pdf lesen

Die 2000-Euro-Frage bei Günther Jauch ließe sich damit beantworten: Markus, Matthäus und Lukas sind die sog. Synoptiker unter den Evangelisten. Sie haben z.T. voneinander abgeschrieben, aber dennoch einen ganz eigenen Stil und eine individuelle Botschaft und Theologie entwickelt. Im vergleichenden Lesen zeigt sich die jeweilige Handschrift der Evangelisten.

1. Einstieg
 
Kanzel der St. Marienkirche zu Bergen
Statuen der Evangelisten an der Kanzel der St. Marienkirche zu Bergen
Das Neue Testament umfasst – im Vergleich zum Alten Testament – einen viel kleineren Textkörper; auch die Zeit, in der die Texte entstanden bzw. abgefasst wurden, ist deutlich kürzer (ca. 50-130 n. Chr.).
 
Die für uns Christen wohl wichtigsten Schriften befinden sich zu Beginn des NT: die Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Mit ihnen begegnet uns eine neue literarische Gattung, ein neues Format: Die Frohe Botschaft von Jesus Christus – sein Leben, Sterben und Auferstehen – seine Botschaft vom Reich Gottes – seine Taten und Wunder.
 
Die Frühe Kirche hat sich auf vier Evangelien geeinigt, die zur „Heiligen Schrift“ geworden sind, obwohl in den ersten Jahrzehnten und Jahrhunderten viel mehr Evangelien verfasst wurden.
 
Etwa 40 Jahre nach dem Tod Jesu beginnen Christinnen und Christen, die Erinnerung an ihn in längeren Erzählungen aufzuschreiben; denn die Augenzeugen sterben zusehends … Die Evangelien bilden die Grundlage eines „sozialen Erinnerns“; sie wirken maßgeblich an der Identitätsbildung der frühen Christen mit.
 
Die Evangelien sind nicht einfach eine Biografie Jesu von vier Chronisten. Sie bieten vielmehr eine theologische Deutung und Einordnung seines Lebens und Sterbens; die vier Evangelien lassen sich nicht „harmonisieren“ (d.h. zusammenfassen zu einem Evangelium) – es gibt Unterschiede, Spannungen, die es auszuhalten gilt. Besonders deutlich wird dies bei den sog. „letzten Worten Jesu am Kreuz“ (s. später).
 
Zahlreiche Fragen lassen sich nicht endgültig beantworten und begleiten unser Lesen heute:
 
Im Evangelium begegnet uns immer „Jesus Christus“; d.h. der auferstandene Herr. Wie lässt sich von ihm auf den „historischen Jesus“ schließen? Wie hat dieser gelebt, gearbeitet, gelacht, geliebt …? – Das bleibt offen!
  • Jesus lebte als Jude unter Juden. Haben wir heute ein ausreichendes Verständnis vom Judentum, um Jesus und seine Zeit zu verstehen? Spüren wir die Gemütslage der Evangelisten, als sich das Verhältnis zwischen den ersten christlichen Gemeinden und den jüdischen Synagogen stark abkühlte und unter Ablehnung und Hass zu leiden begann?
  • Halten wir es aus, dass sich nicht alle heutigen Fragen in Welt und Kirche einfach so beantworten lassen: Was hätte Jesus getan? (z.B.: Wäre er auf facebook gewesen?) Die 2000 Jahre (Kirchen)Geschichte seither fordern uns heraus und ersparen es uns nicht, den „Sitz im Leben“ damals zu suchen und eine mögliche Antwort für unsere Fragen heute zu erahnen.
Um ein Gespür für die Frohe Botschaft in den Evangelien zu bekommen, sind zunächst einige Grundlagen wichtig: Die vier Evangelisten (Mt, Mk, Lk, Joh) sind keine Augenzeugen in Bezug auf Jesu Leben, Sterben und Auferstehen, sondern Christen der zweiten und dritten Generation. Drei Evangelien kann man gut vergleichen bzw. „zusammen-schauen“; man nennt sie „Synoptiker“ (griech.: Zusammenschauer) – Mt, Mk, Lk. Ein Evangelium ist anders – im Stil, in der Theologie, in Satzbau und Wortwahl: das Joh-Evangelium.
 
Die Synoptiker, um die es in dieser „Bibeletappe“ vorrangig gehen soll, stehen in einem engeren Zusammenhang:
 
a) das älteste Evangelium (um 70 n. Chr. vermutlich in Italien oder gar in Rom entstanden) ist Mk; es ist auch das kürzeste Evangelium.
b) Mt und Lk haben Mk gekannt und das meiste davon in ihr eigenes Evangelium integriert; ihre Evangelien sind zwischen 80 u. 90 n.Chr. entstanden; die Entstehungsorte sind unsicher.
c) Mt und Lk haben nicht nur Mk als gemeinsamen Bestand, sondern auch noch viele Worte Jesu (die Mk nicht kennt); daher nehmen Bibelwissenschaftler seit langem eine Redequelle an (sog. LogienQuelle – oder einfach nur „Q“), die uns nicht erhalten ist, die sich jedoch rekonstruieren lässt.(1)

Daraus hat sich die sog. „Zwei-Quellen-Theorie“ entwickelt, die sich schematisch so darstellt:(2)
Schaubild der literarischen Abhängigkeiten der synoptischen Evangelien
Schaubild der literarischen Abhängigkeiten der synoptischen Evangelien
Mt und Lk schöpfen aus zwei gemeinsamen Quellen: Mk und Q. Daneben steht ihnen noch eigenes Material zur Verfügung, das Sondergut.

Die vier Evangelisten werden seit dem 2. Jh. mit vier Lebewesen identifiziert, die erstmals im AT bei Ez 1,4-28 auftauchen, dann im letzten Buch der Bibel – in der Offenbarung des Sehers Johannes – nochmals beschrieben werden (Offb 4,68). So wird Markus der Löwe, Lukas der Stier, Matthäus der Mensch und Johannes der Adler zugeschrieben. Diese vier Wesen umgeben den Thron Gottes und nehmen an der himmlischen Liturgie teil; sehr oft sind diese Wesen an der Kanzel oder am Ambo unserer Kirchen dargestellt, denn sie (die Evangelisten) bringen das Wort Gottes in unserer Liturgie zum Klingen.


3. Wissen und Verstehen
 
3.1. Das Markus-Evangelium

Text
Mk 1-16: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017

Überblick
 
Bild des Evangelisten Lukas in der Kuppel des Petersdoms
Bild des Evangelisten Lukas in der Kuppel des Petersdoms
Markus ist der erste, der um 70 n. Chr. das Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes (Mk 1,1), aufschreibt und damit auch die literarische Gattung Evangelium „erfindet“. Er schreibt für eine heidenchristliche Gemeinde vermutlich in Italien und stellt den Weg Jesu – und damit den Weg der Jüngerinnen und Jünger – als einen Weg nach Jerusalem dar. Damit betont er, dass die Botschaft von der Auferstehung nur gemeinsam mit Leben, Passion und Kreuzestod Jesu verkündet werden kann und somit allzeit gültig ist. Gleichzeitig warnt er vor der Illusion, christlicher Glaube biete automatisch Schutz vor Gefahren und Not. So stärkt Markus seine Gemeinde in Zeiten der Verfolgung und weist sie den Weg des Kreuzes: Wer Jesus von Nazareth wirklich ist, wird dem deutlich, der den Weg des Kreuzes geht. Erst im Tod Jesu wird sein Wesen offenbar. Der römische Hauptmann spricht unter dem Kreuz das Glaubensbekenntnis: „Dieser Mensch war Gottes Sohn!“ (Mk 15,39) – Jüngersein heißt, Jesus nachfolgen in Glaube, Selbstlosigkeit und der Bereitschaft zum Leiden; nur dann lässt sich glaubwürdig bekennen: Dieser Mensch ist Gottes Sohn!
 
Das ursprüngliche Ende des Evangeliums (Mk 16,8) schreckt auf und stellt Hörer/Leser vor die Frage: „Und du? Verstummst du auch aus Furcht, oder folgst du ihm nach?“
 
Der Weg als Schlüssel zum Verständnis des Mk-Evangeliums:(3)
 
Wie in einem Film bestimmte Orte bestimmte Botschaften transportieren, wie „Kameraschwenks“ Dramatik, Spannung erzeugen, Weitwinkel und Zoom die Perspektive verändern, so ist es auch im Mk. Es ist wie ein umgekehrter Krimi: Täter und Opfer sind bekannt; aber die Antwort auf die Fragen „Wer ist dieser Jesus eigentlich? Warum ist es ihm so ergangen?“ steht noch aus.
 
Mk ist voll von Ortsangaben – von bestimmten (Nazaret, Jerusalem) und unbestimmten (Wüste, Weg); Ortswechsel haben Spannungsbögen im Erzählverlauf zur Folge.
 
So lässt sich Mk in 5 Hauptteile gliedern, die sich – wie Zwiebelringe – um die Mitte legen: (A – B – C – B´ – A´). Wüste zu Beginn (1,4-12) und Grab am Ende (15,42-16,8) bilden den äußeren Rahmen. Beides sind lebensfeindliche Orte, die von gefährlichen Wesen bewohnt sind: Wildtiere/Satan – Dämonen/unreine Geister. Beide Orte symbolisieren die chaotischen Todesmächte, die Jesus jedoch zu Beginn und am Ende besiegt.
 
Wüste und Grab (Einstieg und Ausstieg des Evangelisten) sind Durchgangsstationen und Orte der Neuschöpfung für Taufe (1,9) und Auferstehung (16,6); neues Leben entsteht im Angesicht der Todesmächte dieser Welt. Mk gestaltet beide Orte ähnlich: suchende Menschen strömen dorthin, wollen etwas Unerwartetes finden – einen Boten im ungewöhnlichen Gewand (Täufer, Engel), der auf Jesus verweist und die Menschen in Bewegung setzt.
 
Die wichtigste geographische Hauptlinie zieht sich von Galiläa nach Jerusalem: In Galiläa wirkt Jesus durch Lehren, Umherziehen, Heilen, Dämonenaustreibungen. Hier erlebt er den sog. „Galiläischen Frühling“ seiner Mission; seine Botschaft verbreitet sich wie ein Lauffeuer – die Menschen strömen herbei, um ihn zu hören und zu sehen. Zwischen den Zeilen ist es nahezu greifbar: das Reich Gottes ist nahe! Jetzt ist die Zeit da! Das hohe Tempo von Ort zu Ort macht fast schwindlig; Jesus zieht rastlos und überaus erfolgreich durch seine Heimat.
 
Die Grenzübertritte, die sich Jesus im Mk leistet, bieten Anknüpfungspunkte für die (vormals heidnische) Gemeinde des Evangelisten: Wenn Jesus ins Gebiet der Gerasener (5,1-20), nach Sidon und Tyrus (7,24-30) reist, dann bietet Mk darin Identifikationsmöglichkeiten für Nichtjuden; auch ihre Welt ist die Welt Gottes!
 
In Jerusalem spitzt sich der Konflikt zwischen Jesus und den Autoritäten zu, die Zeit der Wunder ist vorbei. Der Gegensatz zwischen der Provinz Galiläa und dem Zentrum Jerusalem (mit dem Tempel) wirkt teilweise richtiggehend inszeniert! Das idyllische Galiläa symbolisierte den Neubeginn, den Anbruch des Reiches Gottes; hingegen wartet auf Jerusalem die Zerstörung.(4) Hier geht auch der Weg Jesu zu Ende.
 
Mk reduziert das Handeln Jesu auf die Konflikte um den wahren Tempeldienst und auf die Streitgespräche mit der Führungsschicht. Auffällig ist, dass Jesus und seine Jünger nicht in der Stadt wohnen, sondern außerhalb (in Betanien); die Stadt erscheint wie eine Falle, die früher oder später zuschnappt.
 
Die Mitte des Mk wird geschildert als „Weg“, als Unterwegs-Sein (8,27-10,45). Warum?
 
Weg Jesu und Nachfolge sind das zentrale Thema von Mk; sie können nur im „Nachgehen“ verstanden werden. Um das Leiden kommt man in der Nachfolge Jesu nicht herum – das scheint Mk seiner Gemeinde immer wieder und deutlich vor Augen zu führen.(5) Am Ende freilich steht die Perspektive (14,7): Er geht euch voraus nach/in Galiläa! – Dort, wo deine/meine Heimat ist, wo wir gerade wohnen, können wir die Nachfolge nach Ostern fortsetzen!
 
Der Weg im Mk wird eingerahmt durch zwei Blindenheilungen: 8,22-26 und 10,46-52. Wer sich mit Jesus auf den Weg macht, der bleibt nicht blind, sondern wird ein Sehender!
 
Mk verzichtet – im Vergleich zu Mt und Lk – nicht nur auf eine Geburt Jesu zu Beginn; auch sein „Ende“ gestaltet sich anders – für manche regelrecht als „Zumutung“ (16,1-8): Kein Auferstandener erwartet die drei Frauen, die zum leeren Grab kommen; „nur“ ein Engel schickt sie „heim“ nach Galiläa – dort werden sie ihn erleben! Der letzte Vers im Mk verstört: Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich.
 
Kann man so ein Evangelium enden lassen? … ohne „Happy End“? In Flucht, Verschweigen, Furcht? Nein! – Schon wenige Jahrzehnte später, mit der Verbreitung des Mt- und Lk-Evangeliums gönnt sich auch die Mk-Gemeinde ein „besseres“ Ende und ergänzt Mk um ein weiteres Kapitel (16,9-20).
 
Und doch soll die theologische Herausforderung des ursprünglichen Mk-Endes noch einmal pointiert dargestellt werden: Mit 16,8 bin ich als Leser/Hörer persönlich angefragt. Wenn ich auch fliehe, wenn ich meine Erfahrungen mit Jesus verschweige, wenn ich Angst vor den Konsequenzen des Weges mit Jesus habe – dann ist seine Mission zu Ende! Aber das werde ich doch nicht tun …!?

Zum Weiterdenken
  • Wo mache ich „Weg-Erfahrungen“? Wo lerne ich Neues – über mich, über den Glauben, über Gott? Wo bin ich im Austausch mit anderen Menschen darüber?
  • Wie sehr brauche ich immer wieder ein Happy End, das mich für Mühen und Auseinandersetzungen „entschädigt“?

3.2. Das Matthäus-Evangelium
 
Text
Mt 1-28: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Überblick

Matthäus schreibt sein Evangelium um 85 n. Chr. zunächst für eine judenchristliche Gemeinde im Umkreis von Jerusalem. Infolge des jüdischen Krieges und der Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.) wird auch die Mt-Gemeinde vertrieben und findet sich im heidnischen Umfeld wieder (Syrien, Jordan-Tal?) und muss sich der neuen Herausforderung stellen, dass auch Heiden in die Nachfolge Jesu Christi drängen. Die Mt-Gemeinde gehört nicht mehr dem jüdischen Synagogenverband an; eine schmerzhafte Trennungsgeschichte mit vielen Verletzungen (und „antijüdischen“ Aussagen) wirkt noch jahrelang nach.(6)
 
Matthäus stellt die Geschichte Jesu im Lichte alttestamentlicher Zitate dar (33 ausdrückliche Reflexionszitate) und macht so deutlich, dass Gottes Verheißungen an das Volk Israel im Wirken Jesu zur Fülle gekommen und Jesus der Messias ist; demzufolge ist das Neue Israel, ein Volk aus Juden und Heiden, aufgebaut auf dem Felsen Petrus. Er will seiner Gemeinde erklären, warum es aufgrund des Christusgeschehens nicht mehr genügt, Jude zu bleiben, sondern warum es sich lohnt, Christ zu werden. Das „Mehr“ beschreibt er als die neue, bessere Gerechtigkeit … als Barmherzigkeit. Seiner Gemeinde hilft er, den Bruch mit Israel zu verarbeiten; er warnt sie vor falscher Heilssicherheit (mit dem Blick auf das „alte“ Israel), vor den Folgen von Unbarmherzigkeit und Kleinglauben.
 
Bis zum II. Vatikanischen Konzil wurde im katholischen Gottesdienst überwiegend das Mt-Evangelium gelesen, weil es das „kirchlichste“ Evangelium war, insofern es sich auf das Petrus-Amt berufe.
 
Das Mt-Evangelium – ein Glaubensgrundkurs für eine lernende Gemeinde
 
Wer Mt fortlaufend liest, wird zahlreiche Spannungen und Widersprüche feststellen – z.B.: Ablehnung der Heidenmission (10,5) vs. allgemeiner Missionsbefehl (28,19).
10,5 „Diese Zwölf sandte Jesus aus und gebot ihnen: Geht nicht zu den Heiden und betretet keine Stadt der Samariter …“
28,19 „Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes …“(7)
 
Wie kann das sein? Eine Hypothese hilft beim Verstehen: Mt und seine Gemeinde lebten in den ersten Jahrzehnten in Jerusalem (bis 70); es waren fast ausschließlich Juden(christen), bei denen Tora und Tempel hoch geachtet waren. Nach der Zerstörung Jerusalems wandern sie aus – nach Syrien(?). Dort stoßen viele Nichtjuden dazu: Die Gemeinde steht vor völlig neuen Fragen und Herausforderungen, die zu heftigen Auseinandersetzungen und Spannungen führen:
  • Sollen wir Heiden aufnehmen?
  • Dürfen wir die religiösen Traditionen des Judentums einfach aufgeben?
  • Inwieweit müssen die Speisevorschriften auch von Heiden(christen) eingehalten werden?
Über diesen „Abgründen“ beginnt Mt seine Gratwanderung:
  • Er will die Jesus-Überlieferung schriftlich festhalten, damit sie nicht verloren geht.
  • Er will seiner traditionsbewussten Gemeinde helfen, sich in neuer Situation zurechtzufinden.
Mt will viel Tradition festhalten (was ihnen ans Herz gewachsen ist) – 5,19: „Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich.“
 
Zugleich ist klar: Wir müssen umdenken! … aber nicht mit der Brechstange! Wie heute!

Zwei Beispiele beleuchten diese Herausforderungen:
 
1. Beispiel: Die Magier aus dem Osten (2,1-12): Vertreter orientalischer, heidnischer Weisheit stehen den Autoritäten Herodes, Hohepriester und Schriftgelehrte gegenüber; diese kennen zwar die Bibel, aber nach Betlehem gehen sie nicht! Die Heiden finden zum Glauben!
 
2. Beispiel: Die Syrophönizierin (15,21-28): Eine anstößige Begegnung zeigt die „Pädagogik“ des Mt: Wenn sich sogar Jesus von einer heidnischen Frau eines Besseren belehren lässt, wenn er sich letztlich zu einer grenzenlosen Mission bekennt, dann haben auch die „Engen“ und Ängstlichen der Mt-Gemeinde Nachholbedarf.
 
Anfang und Ende des Mt
 
Die Kindheitsgeschichten zu Beginn des Mt sind wie ein Präludium; das Anliegen des Mt klingt bereits voll an: Die Botschaft Jesu findet ihren Weg zu den Heiden! Am Ende mündet das Mt in den Missionsbefehl des Auferstandenen (28,19): Geht zu allen Völkern.
 
Schon der Rahmen diese „Glaubenskurses“ ist also wichtig:
a) Jesus wird angekündigt als der Immanuel (1,23), der „Gott-mit-uns“ (= Jahwe); so hat er sich durch die Geschichte gezeigt (deshalb auch der Stammbaum Jesu 1,1-17).
b) Bis zum Ende zeigt es sich, dass er diesen Namen zurecht trägt und dass diese Zusage weiterhin gilt für alle Zeiten (28,19): „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt!“
Die Mitte des Mt-Evangeliums: Speisenwunder und Seesturm (Mt 14,13-21 bis Mt 14,22-33)
 
An zentraler Stelle und mit dem ihm eigenen Rückgriff auf die Bilder und Verheißungen im AT weist er auf die herausragende Bedeutung Jesu in der Heilsgeschichte hin.
 
Im Speisenwunder klingen bekannte „Melodien des AT“ an:
  • Ex 16: Jahwe ernährt sein Volk in der Wüste mit Manna und Wachteln (vgl. auch Ps 105,40).
  • 1 Kön 17: Elija und die Witwe von Sarepta (der Ölkrug und der Mehltopf werden nicht leer).
  • 2 Kön 4,1-7; 42-44: Elischa sättigt 100 Männer mit 20 Gerstenbroten.
Die kaum verklausulierte Botschaft von Mt lautet: Jesus ist viel größer als Elischa und Elija!
 
Jesus zeigt den Menschen, wie Gott ist: Gott ist wie ein guter Hirt – und an Jesus können die Menschen dies ablesen: Er heilt sie. Er lässt sie lagern auf grünem Gras (vgl. Ps 23,1f). Er lässt sie nicht verhungern.
 
Auch die Zahlensymbolik des Speisenwunders ist bewusst gewählt: 5 Brote – 2 Fische – 12 Körbe
a) 5 + 2 = 7 – die heilige Zahl; Symbol Gottes.
b) Die Heilige Schrift besteht für die Juden aus Tora (5 Bücher Mose), Propheten und Schriften (5 + 2). Jesus erfüllt das Wort Gottes, indem er es der Menge als Nahrung reicht! So gering der Vorrat auch erscheinen mag, er wird nicht weniger …
c) 12 Körbe bleiben übrig – 12 = heilige Zahl = Ausdruck der göttlichen Fülle; wenn der Mensch sich von Gottes Wort und Weisung leiten lässt, findet er hin zu einem erfüllten Leben.
 
Auch Seesturm und Seewandel greifen alttestamentliche Motive auf:
  • Durchzug durchs Schilfmeer (Ex 14,21-31)
  • Durchzug durch den Jordan bei der Landnahme (Jos 3-4)
  • Elija durchquert den Jordan (2 Kön 2,7f.14)
Wasser ist für Israeliten die Chaosmacht, symbolisiert die Macht des Todes und des Untergangs. „Gehen auf dem Wasser“ (= göttliche Eigenschaft) = Gott/Jesus ist Herr über das Chaos und den Tod. Der Zweifel/Unglaube ist mit „an Bord des Schiffleins Petri“ – er gehört von Anfang an zur Kirche. Vertrauen auf Jesus besiegt die Angst vor Tod und Untergang.
 
Der Auftrag des Herrn („Fahrt voraus ans andere Ufer!“) bedeutet nicht: Richtet es euch hier bequem ein! Wer sich diesem Auftrag stellt, dem bläst immer der Wind ins Gesicht!
 
Die Reden Jesu im Mt
 
Mt gliedert den Redestoff Jesu in fünf große Reden – angelehnt an die 5 Bücher Mose (= Tora):
a) Bergpredigt – Mt 5-7
b) Aussendungsrede – Mt 10
c) Gleichnisrede – Mt 13
d) Gemeinderede – Mt 18
e) Endzeitrede – Mt 24-25
 
Bisweilen bin ich als Leser irritiert über das Gottesbild, das mir Mt präsentiert: Ist der barmherzige Gott (z.B. in 18,12-14) derselbe, der als strenger endzeitlicher Richter auftritt (z.B. in 25,31-46)? Es muss festgehalten werden, dass die Gerichtsthematik für Mt und seine Ethik enorm wichtig ist; er verkündet keine „Friede-Freude-Eierkuchen“-Romantik, sondern appelliert an die große Verantwortung, die jedem Christen aufgrund seines Glaubens zukommt.
 
Mt und das Judentum

 
Ein letzter problematischer Aspekt muss genannt werden: Mt und das Judentum. Eine verhängnisvolle Wirkungsgeschichte nimmt im Mt ihren Augangspunkt. Antijüdische Auslegungen haben eine Blutspur durch 2000 Jahre gezogen; ein Beispiel dafür ist der „Blutruf“ in der Passion (27,25): „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Kann man aufgrund dieses Verses von einer „Kollektivschuld des jüdischen Volkes“ am Tod Jesu sprechen?! – Mitnichten!
 
Das Mt-Evangelium steht ganz auf dem Boden des Judentums! (vgl. die vielen AT-Zitate!) Mt ringt mit der Tatsache, dass sich nicht ganz Israel diesem „Immanuel“ angeschlossen hat; das lastet er der jüdischen Führungsschicht an! Dass diese „blinde Führer“ seien, wirft er ihnen mehrfach vor (Mt 23).
 
Die scharfe Form der Auseinandersetzung ist mehr als innerjüdischer Konflikt zu verstehen – im 1. Jh. war das durchaus üblich! Das ist bei der Auslegung unbedingt zu beachten; es wäre fatal, wenn sie allgemein auf die Juden bezogen würde.

Zum Weiterdenken
  • Wie steht es um mein Gottesbild? Überwiegt der barmherzige oder der richterliche Aspekt?
  • Welche Umwelt trifft auf mich zu: eine eher „heidnische“, aber interessierte, anonym-christliche oder eine volkskirchlich-katholische Welt? Wo erlebe ich Offenheit, wo Grenzen?
  • Wie kämpfen in mir – angelehnt an den Seesturm – Zweifel und Vertrauen auf Jesus?

3.3. Das Lukas-Evangelium
 
Text
Lk 1-24: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
 
Überblick

Lukas, ein gebildeter Heidenchrist, will den überlieferten Christus-Glauben seiner heidenchristlichen Gemeinde zuverlässig und neu verkünden. Sein Evangelium, geschrieben in gutem Griechisch, entsteht um 85 n. Chr. in einer weltoffenen Atmosphäre. Jesu heilendes Wirken, seine Zuwendung zu den Sündern usw., erzählt in anrührenden Bildern und Geschichten, ist für Lukas das Entscheidende. Jesus ist der Heiland, der Freund der Sünder und Verlorenen. In diesem menschenfreundlichen Jesus wird Gottes Erbarmen erfahrbar. Das Heil ereignet sich mitten in dieser Welt, im römischen Reich; aber nicht der Kaiser ist der Retter, sondern Jesus Christus. Die Frohe Botschaft ist „heutig“ (7 x „heute“).
 
So verknüpft Lukas sein Evangelium mit der Weltgeschichte; diese wird dadurch zur Heilsgeschichte. Seine Gemeinde muss er ermuntern, Jesus täglich nachzufolgen durch Wachen, Beten, Geduldigsein und soziales Verhalten. Der Geist Gottes ist das „Antriebsprinzip“ Jesu, seiner Gemeinde und der Kirche – bis heute. Die Apostel sind die Garanten der Lehre und verbinden das Leben Jesu mit der Gemeinde/Kirche.
 
Lukas ist auch Verfasser der Apostelgeschichte, des Buches, das die Verbreitung der Frohen Botschaft bis nach Rom und „an die Grenzen der Erde“ beschreibt.
 
Dem Lukasevangelium ist es ein großes Anliegen zu zeigen, dass mit Jesus der „Heiland“ für diejenigen gekommen ist, die aus sozialen oder religiösen Gründen ausgegrenzt werden (Arme, Behinderte, Zöllner, Sünder, Samaritaner, Frauen). So offenbart Jesus auf besondere Weise die bedingungslose Menschenliebe Gottes, die zugleich für jeden Getauften eine Einladung zur Nachahmung bedeutet.
 
Wie für Mt und Mk ist auch für Lukas Jesus der Messias (hebr. „der von Gott Gesalbte“) und somit die Erfüllung der prophetischen Verheißungen. In Jesus als Retter (Lk 2,11) erfüllt sich der Heilswille Gottes. Das Heil ist somit gegenwärtig. Daher ist Zurückhaltung angezeigt bei all den Versuchen, Zeitpunkt und Umstände des endgültigen Anbruchs der Gottesherrschaft bestimmen zu wollen. Lk ist universal ausgerichtet, denn nach der Auferstehung Jesu und dem Untergang Jerusalems und des Tempels bricht endgültig die Zeit der sog. Heidenmission und damit die Sammlung der Kirche aus allen Völkern an.

Schlüsselszene: Das Auftreten Jesu in seiner Heimat Nazaret
 
Die Szene Lk 4,16-30 spricht programmatisch vom Inhalt der Verkündigung Jesu, von der Ablehnung in Israel und der Hinwendung zu den Heiden; die Verkündigung Jesu wird gekennzeichnet als „geistgewirkt“, als Heilsbotschaft an die Armen und Unterdrückten, als „Gnadenjahr des Herrn“. Die Formulierungen zitieren Jes 61,1f;58,6 – und „heute“ erfüllen sich diese Verheißungen.
 
Der Ablehnung hier entspricht die wachsende Ablehnung Jesu durch die Führenden Israels; sie setzt sich in der Apg fort. Folgerichtig kommt es zur Hinwendung zu den Heiden(8). Lk spannt einen großen Bogen von Betlehem (= äußerster Rand des Römischen Reiches) über Israel bis nach Rom und ins ganze Römische Reich (Apg) – von den tempelfrommen Juden Zacharias und Elisabeth bis zu den Heiden in Apg 28. Wenn das Evangelium in Rom angekommen ist, ist es im gesamten Imperium gegenwärtig – d.h. überall auf der Welt!
 
„Heute“
 
Eine Eigenart von Lk ist das „heute“; siebenmal kommt es vor – an folgenden Stellen:
Lk 2,11: Botschaft an die Engel auf dem Feld
Lk 4,21: seine „Primiz-Predigt“ in Nazaret
Lk 5,26: Heilung eines Gelähmten
Lk 19,5.9: Einkehr bei Zachäus
Lk 22,61: Petrus-Erfahrung während der Passion
Lk 23,43: Trostwort an den Mit-Gekreuzigten
Lk 24,21: auf dem Weg nach Emmaus
 
Das „heute“ im Lk-Evangelium weist nicht auf einen bestimmten Tag hin, an dem dies geschehen ist, sondern zielt darauf, dass jeder Tag ein „heute“ ist:
  • An jedem Tag kann ich hören (und verkünden), dass der Retter in die Welt gekommen ist …
  • An jedem Tag gilt es, den Armen und Unterdrückten eine befreiende Botschaft zu verkünden …
  • An jedem Tag kann ich Gottes Wunder entdecken …
  • An jedem Tag will Jesus bei mir und bei Sündern einkehren und allen Beteiligten sein Heil schenken …
  • An jedem Tag kann Verrat an Jesus geschehen …
  • An jedem Tag ist es möglich, mit Jesus ins Paradies „hinüber zu sterben“ …
  • An jedem Tag will mir der Auferstandene begegnen und mich daran teilhaben lassen …
„Sieben“ steht für die göttliche Vollkommenheit. Sieben Tage ergeben eine Woche; am siebten Tag ruht Gott von seinem Werk. 7 x „heute“ ist im Lk-Evangelium kein Zufall; das lukanische „heute“ ist ein Schlüssel zum Geheimnis des Glaubens und Lebens, weil alle wichtigen Herausforderungen des Lebens zugleich Gottes Wirken durchscheinen lassen können. An jedem Tag kann sich Gott mir/uns offenbaren …

Was u.a. nur bei Lk steht
  • die Kindheitserzählungen (Lk 1-2)
  • Frauen im Gefolge Jesu (Lk 8,2-3)
  • Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,29-37)
  • Marta und Maria (Lk 10,38-42)
  • Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lk 15,11-32)
  • Einkehr beim Oberzöllner Zachäus (Lk 19,1-10)
  • die klagenden Frauen am Kreuzweg (Lk 23,27-32)
  • die Emmaus-Geschichte (Lk 24,13-53)
Hierin zeigt Lukas sein Verständnis der Frohbotschaft Jesu für seine Gemeinde auf eine fast unwiderstehliche Art und Weise auf. Jesus-Geschichten, die uns seit Kindheit vertraut sind, stammen oft aus dem Lk-Evangelium. Seine einfühlsame und bildhafte Sprache ist heilsam.

Zum Weiterdenken
  • Lk hat vor allem die Armen und Randständigen im Blick (wie auch Papst Franziskus). Was muss sich ändern, dass auch die Kirche ihren Fokus auf sie legt?
  • Wo ist heute „Zentrum“, wo „Rand“?
  • „Unser Retter ist heutig!“ – Wie würde diese Einsicht unser Glauben und Leben verändern?