Reise durch die Bibel - Etappe 1
Urgeschichten - Was „im Prinzip“ und immer gilt

Helmut Heiss

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Wie eine „Grundsatzrede“ eröffnen die Ur-Geschichten die Bibel und das Buch Genesis: „Grundsätzlich“ ist es mit den Menschen so wie bei Adam und Eva, bei Kain und Abel, bei Noah und beim Turmbau von Babel. So ticken der Mensch und die Welt eben – und Gott bringt sich ein in dieses Geschehen! Es lohnt sich, hinter diese altbekannten und verkannten Geschichten zu schauen.

1. Einstieg
 
Galaxie
Schöpfung oder Evolution, Genesis oder Darwin, Glaube oder Naturwissenschaft …? Bis heute gibt es einen vermeintlich unüberbrückbaren Widerspruch zwischen diesen beiden Polen. Doch dieser Konflikt ist lösbar. Die Bibel möchte keine naturwissenschaftlichen Aussagen machen; ihr geht es um grundsätzliche Aussagen zum Menschsein, zum Leben an sich und über Gott.

Es geht um Fragen wie:
  • Wie ist der Mensch „prinzipiell“?
  • Wie ist Gott „prinzipiell“?
  • Wie kann Zusammenleben (im Einklang mit der Welt, mit anderen, mit Gott) gelingen?
  • Herrschen in dieser Welt böse, chaotische Mächte, der Zufall, oder gibt es Grund zu Hoffnung und Vertrauen?
Wenn die Bibel mit dem Buch Genesis und den ersten Worten „Im Anfang schuf Gott“ beginnt, ist damit keine Zeitschiene gemeint; im lateinischen Bibel-Text („Vulgata“) heißt es „In principio …“ – d.h.: Im Prinzip schuf Gott … - grundsätzlich verdanken Welt und Mensch sich Gott. Aus dieser Haltung heraus begegnet uns in Genesis 1 und 2 kein „Schöpfungsbericht“, sondern vielmehr ein Hymnus, ein Loblied auf den Schöpfergott.

Zum Weiterdenken

  • Kann ich an ein Lied naturwissenschaftliche Maßstäbe anlegen?

2. Texte

Genesis 1,1-2,4a: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Genesis 2,4b-25: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Genesis 3,1-24: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Genesis 4,1-16: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Genesis 6,6-9,17: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Genesis 11,1-11: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017

3. Wissen und Verstehen

3.1. Das 7-Tage-Werk Gottes

Text
Genesis 1: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017

Was an erster Stelle in der Bibel steht, wurde nicht als erstes geschrieben – etwa von einem Chronisten, der dabei war und minutiös mitschrieb. Der sog. „Schöpfungsbericht“ ist als Loblied auf den Schöpfergott vielmehr eine gedeutete Heilsgeschichte – vergleichbar einem „Blick in den Rückspiegel“. Im Babylonischen Exil (587-538 v. Chr.) reflektierte Israel die eigene Geschichte: „Wie geht alles zusammen, was wir momentan durchmachen – an Chaos und Bedrohung?“ Das wichtigste Ziel ist also: den Glauben stärken – Antworten auf neue Fragen finden – Hoffnung und Zuversicht gewinnen.

„Glauben“ bedeutet in der Bibel immer: „(ver)trauen“ auf den Ich-bin-da-Gott, der den Exodus ermöglicht und begleitet hat. Glauben ist kein Vermuten („Ich glaube, dass es morgen regnet“), sondern ein Beziehungsgeschehen („Ich glaube Dir“ bzw. „Ich glaube an dich“). Das hebräische Wort für „glauben“ („Amen“) ist verwandt mit dem Wort „fest sein, Halt haben“, also etwa: „Ich mach' mich fest in dir“.

Für das Volk Israel im Babylonischen Exil ging es ans Eingemachte: Die Götter dort schienen viel stärker als ihr Gott; die Städte und Tempel waren viel größer und eindrucksvoller als ihre daheim. Hatten sie sich prinzipiell in Gott getäuscht? Diese Zweifel und Ängste, das weltanschauliche Chaos, das sie durchlebten, bedeuteten eine große Herausforderung. Einer Gruppe von Priestern gelang es, mit einem Schöpfungslied das Vertrauen auf Gott wieder neu zu verankern. Dass es ein Lied ist, das verrät die Strophenstruktur:

Gott sprach: … Es werde …
So geschah es.
Gott sah, dass es gut war.
Es wurde Abend, und es wurde Morgen: … Tag

Gott erschuf die Welt, indem er Ordnung in das Chaos brachte; dem entspricht die klare Struktur des Textes; der innere Rhythmus wird von der Zählung der Wochentage bestimmt und zielt auf den 7. Tag als Ruhepol hin; d.h. die Zeitstruktur wird so zur grundlegenden Ordnung der Welt und des Lebens. Die acht Schöpfungswerke (der Mensch zuletzt) münden ein in den siebten Tag (Ruhetag, Sabbat); die 7-Tage-Woche mit dem Sabbat wird zu einem Identifikationsmerkmal Israels. Auch im heidnischen Babylon können sie ihr „Anderssein“, ihren Glauben an Gott so leben.

Zur Struktur noch einige Anmerkungen:

Am 1., 4. und 7. Tag (also am Anfang, in der Mitte und am Ende des Liedes) spielt die Zeit eine wichtige Rolle als grundlegender Ordnungsfaktor:
1. Tag: Rhythmus Tag – Nacht
4. Tag: die „zählbare“ Zeit – Tage, Monate, Jahre, geprägte Festzeiten
7. Tag: Zeit des Schaffens – Zeit der Ruhe, die der ganzen Zeit erst Sinn und Fruchtbarkeit gibt
2. und 3. Tag: die Lebensräume werden geschaffen (Himmel, Wasser, Land …)
5. und 6. Tag: die Lebewesen beziehen ihr „Quartier“ (Fische, Vögel, Vieh, Pflanzen … – der Mensch)

Nach diesem Schöpfungslied (= „erster Schöpfungsbericht“) wird allen Lebewesen prinzipiell ein gemeinsamer Lebensraum zugeteilt.

Besondere Beachtung verdient v 27: „Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.“ Prinzipiell also ist Gott nicht nur männlich, sondern männlich und weiblich zu denken und zu glauben. Die ganze Bibel verwendet immer wieder auch weibliche und mütterliche Bilder für Gott. Auch die jahrhundertelange Minderbewertung der Frau gegenüber dem Mann kann sich nicht auf die Bibel berufen; lediglich eine „männliche Lesebrille“ identifiziert solche Über- und Unterordnungen in der Bibel und in der Kirche.

Zum Weiterdenken
  • Kann dieses Schöpfungslied angesichts von Klimawandel, Artensterben, Verschmutzung der Weltmeere, Überbevölkerung usw. heute noch als „Loblied“ auf Gott dienen?
  • Vertrauen auf Gott …! – Inwiefern ist das angesichts der vielfältigen Bedrohungen des Lebens heute gerechtfertigt?
  • Welche männlich-weiblichen Eigenschaften können die Gottebenbildlichkeit des Menschen am besten beschreiben?

3.2.     Gott formt den Menschen aus Erde

Text
Genesis 2: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017

Älter als das Schöpfungslied in Gen 1 ist der sog. „zweite Schöpfungsbericht“ in Gen 2. Der chaotische Urzustand wird anders beschrieben: als Urwüste (statt Urmeer). Die Weltschöpfung vollzieht sich nach der Weise eines Gartenbaus (statt Raumarchitektur) – als Bewässerung einer Wüste – erzählt aus der Perspektive von Bauern.

Auch die Entstehungssituation von Gen 2 ist vom Exil in Babylon geprägt; doch ist eine ältere Grundschrift vorauszusetzen. Sie skizziert die gegenseitigen Beziehungen Gott-Mensch-Welt in Form einer lebendigen Geschichte, die nicht störungsfrei, sondern ambivalent abläuft.

Gott wird als Handwerker/Töpfer dargestellt, der den Menschen aus Lehm formt; darin spiegelt sich die Überzeugung, dass der Mensch nicht aus seinen erzeugten Gütern, sondern allein aus der Güte und Gabe Gottes lebt. Wir begegnen einem menschlichen Gott, gleich einem Vater/ einer Mutter, der für den Menschen sorgt (anders als in Gen 1, wo er eher wie ein erhabener und mächtiger König/Gott erscheint, der allein durch sein Wort schafft). Wie ein Töpfer formt er den Menschen aus dem Ackerboden zu einem Kunstwerk; es macht ihm nichts aus, sich dabei die Hände schmutzig zu machen; seine mütterliche Fürsorge für den Menschen ist das unvergleichbare Merkmal des Gottesbildes in Gen 2.

Der Mensch als Beziehungswesen wird geschildert mit den Charakteristika: „Erdwesen”/Erdling (hebr.: adama), „Lebewesen” mit Gottes Odem, sorgsam weltgestaltendes Wesen, partnerschaftlich-gemeinschaftliches Wesen, zur Gemeinschaft mit Gott fähig.

Um den Menschen herum ordnet Gott die Welt. Zwischen Gott und Mensch besteht die enge Beziehung von Schöpfer und Geschöpf – die Urbeziehung des Menschen schlechthin. Ein Menschenbild, in dem Gott nicht vorkommt, ist unvollständig. Aber: Der Mensch ist nicht Gott, sondern nur Geschöpf!

Gott blies in seine Nase den Lebensatem (2,7b): Lebensatem (hebr. Verständnis vs. griechische Vorstellung: Seele) der hebräische Mensch unterscheidet zwischen Leichnam und Lebendigem Wesen (nicht zw. Leib und Seele). Solange der Mensch atmet, lebt er; das ist an der Nase erkennbar, fühlbar. Zugrunde liegt diese Vorstellung: Gott bläst das Leben in die Nase des Menschen; d.h. der Mensch verdankt seine Lebendigkeit Gott – vgl. auch Ps 104,29)

Der Garten symbolisiert die Sorge Gottes um den Menschen als Nahrungsgrundlage, Lebensraum. Die Gaben der Natur (Baumkulturen waren für Israeliten besonders paradiesisch) sind Zeichen der wohlwollenden Fürsorge Gottes: „in Eden, im Osten” – als ideales Land örtlich und zeitlich nicht zu definieren: „in weiter Ferne” und „irgendwann einmal” … Zwei Bäume spielen eine bedeutende Rolle, die jedoch botanisch nicht näher zu definieren sind: Baum des Lebens - Baum der Erkenntnis von Gut und Böse!

Ein Strom, der sich in vier Flüsse teilt: eine Voraussetzung für große Fruchtbarkeit (Gihon und Pischon sind nicht sicher lokalisierbar); weist die Gihonquelle in Jerusalem vielleicht darauf hin, dass die Stadt in Verbindung mit dem Paradies steht? – Möglicherweise ist mit 2,10-14 auch eine antike Weltkarte beschrieben.

Das Verbot (2,16f), vom Baum der Erkenntnis zu essen, weist auf eine Möglichkeit/Fähigkeit des Menschen hin, die er nicht gebrauchen soll; denn darin bestimmt er (autonom), was heilsam und schädlich, zuträglich oder abträglich für das menschliche Leben ist (z.B. heute: Gen-Schere crispr, Abtreibung, pränatale Diagnostik, genmanipuliertes Saatgut …). Was für den Menschen und sein Leben förderlich oder schädlich ist, soll er sich allein von Gott sagen lassen (vgl. auch Gen 3).

Das besondere Wesen der Frau zeigt sich darin, dass sie „aus etwas vom Mann“ gebaut ist (21-23); d.h. sie ist eng mit dem Mann verbunden und wesensverwandt. Nur der Mensch ist dem Menschen ein entsprechendes, weil wesensgleiches Gegenüber – gleichwertig, aber verschiedenartig; dem Mann nicht untergeordnet, sondern „beigesellt“ oder gegenübergestellt. Die tatsächliche Unterordnung der Frau unter den Mann ist nach Gen 3 Zeichen der gebrochenen, schulderfüllten Welt. Die vierte Grundbeziehung (Mann-Frau; Mensch-Mitmensch) ist wesentlicher als die Beziehung Mensch-Tier bzw. Mensch-Natur.

Die Ehe (2,24) entspricht der uralten Erfahrung: Mann und Frau ziehen einander an. Auffallend ist dabei: die Einheirat des Mannes in die Familie der Frau: sie werden ein Fleisch” – d.h. sie werden ein Herz und eine Seele; sie leben in der Ehe ihre Wesensverwandtschaft (das darf man nicht auf das körperliche Einswerden oder die Zeugung reduzieren). Sie waren nackt, aber sie schämten sich nicht …: 2,25 – in diesem Bild begegnet uns ein ungebrochenes Verhältnis der Menschen zueinander, das Leben im Heil/Shalom.

Zum Weiterdenken
  • Ist der vielfache Versuch von Genmanipulation (im Dienst höherer landwirtschaftlicher Erträge oder zur Beseitigung von Erbkrankheiten) vom biblischen Auftrag zum Bebauen und Behüten gedeckt?
  • Mann und Frau werden ein Fleisch … – gleichgeschlechtliche Partnerschaften und diverse Lebensformen haben davon ausgehend kein Bestandsrecht, oder?

3.3. Paradies und Sündenfall

Text
Genesis 3: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Adam und Eva mit Schlange
Ging es in Gen 2 vorrangig um die Frage, wie das Verhältnis Mensch-Gott, Mensch-Mitmensch und Mensch-Natur von Gott her gedacht ist, wirft Gen 3 ein Licht darauf, wie die Lebensverhältnisse de facto sind. Was hier nacheinander erzählt wird, fällt in der Wirklichkeit zusammen – als Ideal und Realität.

Der sog. „Sündenfall“ entwickelte eine erstaunliche Wirkungsgeschichte durch die Jahrtausende – vor allem in der „Erbsündenlehre“. Paulus nimmt Bezug darauf, dass durch die Tat Adams alle seine Nachkommen die Folgen seiner Tat tragen müssten. Mit anderen Worten: Jeder Mensch ist ohne sein Zutun bereits in eine Schuldverflochtenheit hineingeboren; der Glaube an Gott ist die einzige Möglichkeit, diesem „Teufelskreis“ zu entrinnen; d.h. Vertrauen hilft gegen Misstrauen und Zweifel!

Beim Lesen von Gen 3 ist darüber hinaus eine exegetische Grundregel zu beachten:

Texte, die die Gegenwart mit Hilfe einer Ursprungsgeschichte deuten, müssen von hinten nach vorne gelesen werden: am „Ende“ steht die Ausgangserfahrung des Verfassers:
  • Wie kommt es zur Eigenart der Schlange? (3,14ff): Gen 3,1
  • Warum bereitet eine Geburt Schmerzen? (3,16): Gen 3,6ff
  • Warum ist das Verhältnis Mann-Frau gespannt? (3,16): Gen 3,6ff
  • Warum fällt der Broterwerb so schwer? (3,17ff): Gen 3,1-13
  • Warum gibt es den Tod? (3,19): Gen 3,3
Es geht also nicht um einen Bericht „als der liebe Gott noch auf Erden wandelte …”, sondern um einen fragenden Rückblick aus bedrängter Gegenwart. Schrittweise wird geschildert, wie die drei lebenserhaltenden Beziehungsebenen zerbrechen:
  • Misstrauen gegen Gottes Weisung (1-5)
  • Erfahrung der Nacktheit – Bedürfnis, sich voreinander zu verbergen (7)
  • Verhältnis Mensch-Schöpfung wird mühsam – Strafansagen (14-19)
Je nach Standpunkt begegnet uns hier eine Entwicklungs-, Entfremdungs- oder Emanzipationsgeschichte: das gehört zur Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Zum Erwachsenwerden gehört die Ablösung vom Elternhaus; eigene Wege bergen in sich ein Risiko … – aber: „no risk, no fun“!

Die Schlange ist ein Beleg dafür, dass die Mythen der umliegenden Völker auch in Israel verbreitet waren. Dort ist die Schlange oft ein Symbol für Fruchtbarkeit, für Leben, für magisches Wissen; sie ziert die kanaanäische Muttergöttin Anat und den Fruchtbarkeitsgott Baal. Im Grunde steht die Schlange also für die ständige Versuchung Israels, der „Schlange“ Kanaans nachzugeben und von ihr mehr Leben zu erwarten als von Jahwe; man kann die Schlange in Gen 3 nicht mit dem Teufel identifizieren!

Das Geschehen in Gen 3 folgt dem Ablauf eines Gerichtsverfahrens (3,9-24):

a) Verhör (9-13)

„Wo bist du?” – Die Frage basiert nicht auf der Unkenntnis Gottes, sondern sie soll den Menschen zum Reden und zum Eingeständnis bringen. Doch anstatt eines Schuldbekenntnisses zeigt Adam Angst vor Gott (völlig neu) – und darin sein schlechtes Gewissen. Die weiteren Fragen Gottes sind als Hilfestellung gedacht, um doch noch zum Bekenntnis zu gelangen; doch Adam schiebt die Schuld weg – auf die Frau – auf Gott selbst – dann auf die Schlange. Das Bewusstsein der Nacktheit zeigt, dass die Ur-Beziehung zu Gott gestört ist.

„Was hast du getan?” – die erwartete Antwort wäre: „Ich habe gesündigt!”

b) Urteil (14-19)

Das Wort an die Schlange ist auch an die außerisraelitischen Fruchtbarkeitskulte gerichtet: Das Fluchwort Jahwes (v 14) beschreibt die Ungöttlichkeit und den Unwert der außerisraelitischen Religionen. Im Hintergrund steht auch die erstaunte Frage: Wie kann man nur Gott untreu werden und sich von einem Kult Leben erwarten, dessen Symbol die staubfressende Schlange ist? Das Wort an die Frau weist hin auf schmerzvolle Geburten und auf die Herrschaft des Mannes (v 16). Das Wort an den Mann nimmt die Mühseligkeit der Arbeit und des Lebens in Blick (v 17).

Der Erzähler beobachtet die gegenwärtige Welt des Menschen, die voller Not ist; die Nöte sind Hinweise auf das durch die Sünde gestörte Verhältnis zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch und Mensch. All das sind Sinnbilder der Unordnung, der heil-losen Welt; Schuld daran hat nicht Gott, sondern der Mensch.

c) Trost (20-21)

Trotz alledem bleibt Gott um den Menschen besorgt. Adam beschreibt das Wesen seiner Frau als „Eva” (= Leben, Lebensspenderin) – d.h. die Ehrenbezeichnung der Frau als Mutter; die Fruchtbarkeit der Frau (wenn auch unter Schmerzen) bleibt als Gabe Gottes erhalten. Gott betätigt sich als „Schneider”, der den Menschen in seiner Hilflosigkeit nicht allein lässt.

d) Strafvollzug (22-24)

Zum Ausdruck kommt, was Folge der Sünde ist: Auflösung der Gemeinschaft Gott-Mensch, d.h. die Strafe wirkt sich dort aus, wo der Mensch gesündigt hat: als Verlust der göttlichen Nähe! V 22 klingt merkwürdig … – als ob Gott Angst vor einem Konkurrenten hätte! Aber: durch den Tod erfährt der Mensch, dass er nicht gottgleich ist. Nur Gott lebt ewig! Die Vertreibung aus dem Garten ist ein Bild für den Verlust der Nähe Gottes. Die Wächterfiguren am Garten bedeuten, dass der Mensch von sich aus die Lebensgemeinschaft mit Gott nicht wiederherstellen kann.

Zum Weiterdenken
  • Warum fällt es eigentlich so schwer, sich zu seiner Schuld zu bekennen? Ist Versöhnung als mögliches Ziel so unrealistisch oder unattraktiv?
  • „Zurück in die gute alte Zeit“ – ein Sehnsuchtsbild, das in Zeiten des Wandels oft beschrieben wird. Was kann dagegen locken, den Weg nach vorne – in die Zukunft – zu suchen?
  • Zu heutigen Verständnis von Gleichberechtigung lässt sich Gen 3 nicht leicht zitieren. Doch eignet sich Gen 3 wirklich zum Festschreiben „alter“ Machtstrukturen?

3.4. Vom Bruder zum Mörder

Text
Genesis 4: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017

Eine Grundfrage menschlichen Lebens lautet: Wie gelingt Geschwisterlichkeit? So ist Gen 4 weniger historisch als menschheitsgeschichtlich zu lesen: Solange es Menschen gibt, existieren Kain und Abel – ja, als Typen leben sie oft in uns.

Möglicherweise entspringt Gen 4 einer alten Erzählung um den Keniter-Stamm, der ursprünglich südlich von Palästina lebte und ebenfalls Jahwe verehrte.

Die Geschichte hat einen klaren Aufbau:

a) die zwei ungleichen Brüder werden charakterisiert (1-5)

Kain ist eigentlich die Hauptperson der Geschichte; Abel wird eher beiläufig erwähnt. Kain, der Erstgeborene und kommende Patriarch, hat einen entsprechenden Namen (Kain – hebr. „Besitzer“); er ist der erste Ansprechpartner Gottes. Abel hat nur eine Nebenrolle; er macht nach, was Kain tut – z.B. opfern. Auch sein Name ist bezeichnend (Abel – hebr. „Nichts“, „Hauch“).

[In diesem Zusammenleben von „Besitzern“ und „Habenichtsen“ spielt Gott eine besondere Rolle: Er engagiert sich für die Schwachen! – Und das bleibt in der gesamten Bibel seine Eigenart!]

Es wird kein Grund genannt, warum Gott auf Kain nicht „schaut“ (auch wenn später viele Gründe in die Geschichte hineininterpretiert wurden). Es ist einfach die Wahrnehmung Kains (und die menschliche Urerfahrung), sich benachteiligt zu fühlen. Gott lehnt auch Kain nicht ab; dieser bleibt sein Ansprechpartner. Aber er erwartet von seinem Partner, dass er auf den „Kleinen“ achtet; er ist überrascht, dass Kain die Augen abwendet und sich ärgert. Die Erwartung Gottes, solidarisch zu sein, ist entwaffnend …

b) Gott ruft zur Verantwortung (6-12)

Zweimal fragt Gott Kain „Warum …?“ – Neid und Zorn sind keine selbstverständlichen Reaktionen auf das Glück eines anderen. Gott möchte die Logik der Gewalt unterbrechen, doch es gibt kein Happy End – der Brudermord zerstört auch Kains Gottesbeziehung.

Die Kain-Abel-Geschichte verknüpft die beiden Beziehungsebenen: das Verhältnis zu Bruder/Schwester und die Beziehung zu Gott hängen eng zusammen. „Wo ist dein Bruder / deine Schwester?“ – am solidarischen Blick auf unsere „Habenichts-Geschwister“ hängt unser kirchliches, gesellschaftliches, staatliches und weltweites Wohl!

Es geht also nicht um eine vermeintlich wichtigere Gottesbeziehung – und um eine vermeintlich weniger wichtige Mitmenschlichkeit; Gott gegenüber sind wir rechenschaftspflichtig über das Wohlergehen unserer direkten und weltweiten Mitmenschen.

c) die Folgen sind verheerend (13-16)

In den Worten Kains begegnet uns ein Klagelied, das anrührt – doch das Entscheidende fehlt: die Bitte um Vergebung. Gott antwortet dem Kain auch ohne Bitte – mit einem Zeichen. Es ist unklar, worin dieses „Kainsmal“ bestanden hat; entscheidend ist jedoch, dass auch der Mörder unter dem Schutz Gottes bleibt – auch die Tötung des Mörders wäre Mord!
Die Folge der Sünde – als „Strafe“ – ist anschaulich: ein Leben fern von Gott und in Mühsal. Das Land Nod ist – wie Eden – nicht lokalisierbar (nod – hebr. ruhelos); Kain geht ins Land „Ruhelos“, weg von Gott ins Elend.

Zusammenschau von Gen 3 und 4

Beide Erzählungen stehen nebeneinander und in Ergänzung zueinander; das wird auch durch den parallelen Aufbau deutlich.

Es geht um zwei Grundsünden:
a) die Sünde direkt gegen Gott (= Bruch der vertikalen Beziehung des Menschen)
b) die Sünde gegen den Mitmenschen (= Bruch der horizontalen Beziehung des Menschen)

Jeder Mensch ist Adam und Eva, Kain und Abel; das macht den Unheils-Zustand der Welt im Prinzip aus. Das Wegschieben der Schuld (3,12f) und die Leugnung der Tat (4,9) sind zwei typische Reaktionen des Sünders; beides führt zu einer oft endlosen Verstrickung von Schuld und damit zur sog. „Erbsünde“.

Zum Weiterdenken
  • Warum fällt es eigentlich so schwer, sich zu seiner Schuld zu bekennen? Ist Versöhnung als mögliches Ziel so unrealistisch oder unattraktiv?
  • Wenn es ums Erben geht, werden Geschwister manchmal zu „Erbfeinden“. Warum ist ein oft lebenslanges Gefühl von Neid scheinbar stärker als geschwisterliche Solidarität?
  • Das „Recht des Stärkeren“ erscheint bisweilen als „Naturgesetz“. Warum tut sich die Solidar-gemeinschaft (in der Gesellschaft und weltweit) so schwer in ihrem Selbstverständnis?

3.5. Sintflut und Bund Gottes

Text
Gen 6,6-9,17: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017

Die Geschichte von der Arche Noach und der Sintflut findet sich in allen Kinderbibeln; die Arche gibt es als Playmobil-Set; der Regenbogen hat sich als Greenpeace-Logo etabliert. Das Thema fasziniert auch uns Erwachsene – in historisch-naturwissenschaftlicher Hinsicht:
  • Wann und wo fand eine solche Sintflut statt? Ein Katastrophenszenario wird rekonstruiert.
Wer den biblischen Text liest, merkt schnell, dass darin viel tiefere Fragen behandelt werden – von philosophischer und theologischer Natur:
  • Wie ist der Zustand der Welt?
  • Welches Verhältnis hat Gott zu seiner Schöpfung?
  • Welche Rolle spielt der Mensch dabei?
  • Ist die Schöpfung von Gott geliebt, auch wenn sie nicht ideal ist?
Die Frage „War es wirklich so?“ wird diesen biblischen Texten nicht gerecht!

Die Sintfluterzählung endet mit einem massiven „nie wieder!“ – das wird mehrmals wiederholt! Der Schöpfung wird trotz ihrer Unvollkommenheit Bestand zugesichert. Das ist die große Botschaft dieser Geschichte … – und Aufgabe des Menschen ist es, diese Schöpfung zu bewahren und nicht selbst zu einem Ende zu führen.

Man muss also (auch) diesen Text von seinem Ende her lesen: Gott garantiert den Fortbestand!

Zwischen Schöpfung und Flut besteht ein Zusammenhang; sie bilden einen Rahmen für das Tun der Menschen. Die Flutgeschichte ist nichtsdestotrotz eine Rettungsgeschichte, eine Happy End-Story.

Die Geschichte, die sich auf drei Kapitel erstreckt, ist aus mehreren Quellen zu einem Gesamttext geworden; Verdopplungen, widersprüchliche Zahlenangaben und Details, zwei Gottesnamen (Jahwe und Elohim) weisen auf einen komplexen Entstehungsprozess hin.

Noach ist der Mensch, wie Gott ihn gedacht hat: untadelig und gerecht. In ihm dürfen wir uns wiederfinden. Seine Gerechtigkeit erwächst aus der Gemeinschaft mit Gott. Ganz anders wird der Zustand der Erde geschildert: verdorben – erfüllt mit Gewalttat … Nichts erinnert mehr an den Schöpfungshymnus von Gen 1! – Die Gewaltspirale hat zu einem Zustand geführt, dass das Ende allen Fleisches vor Gott gekommen ist (Gen 6,13).

So ergeht der Auftrag zum Bau der Arche (6,14-16): „arca“ (lat.) - tewa (hebr.) = Kasten (wie beim Binsenkästchen Moses auf dem Nil – Ex 2,3): Es geht um Rettung! Die Arche ist ein Raum, der vor dem bedrohlichen Wasser geschützt ist (vgl. Gen 1)

Nach der Flut (9,1-17) findet Gott Wege, seine Utopie von der guten Schöpfung weiterzuverfolgen und Regelungen des Zusammenlebens zu finden. Der Fruchtbarkeits-Segen (Gen 1) wird wiederholt; auch wenn der Blick auf die Schöpfung nun realistischer erscheint und das Gewaltpotenzial mit einschließt; das Verhältnis Mensch-Tier ist nicht mehr ungetrübt (9,2-4). Die Zeit nach der Flut entspricht offensichtlich der Welt, wie sie sich den biblischen Verfassern tatsächlich darstellt! – Und dennoch atmet sie die Utopie des Anfangs, atmet sie Gottes Geist!

Am Ende der Flut wird der Bund errichtet (9,8-17): Mit Noach, seiner Familie, allen folgenden Generationen … – sogar mit den Tieren! Gott gibt sich selbst (nicht den Menschen) ein Zeichen für das „Nie wieder!“: seinen Bogen setzt er in die Wolken. Dabei ist nicht zuerst an einen idyllischen Regenbogen zu denken, sondern an den „Kriegsbogen“ (hebr. gäschät) Gottes; d.h.: von Gott ist keine Gewalt mehr zu befürchten; er ist ein Anwalt der guten Schöpfung! Der Bogen ist ein Erinnerungszeichen, dass ein ewiger Bund zwischen Gott und der Schöpfung besteht!

Die Sintflut war ein Topthema des Alten Orients. In der Bibel findet sich nicht die älteste Flut-Erzählung; nahezu alle alten Kulturen kennen eine solche (z.B. das Gilgamesch-Epos oder der Atramchasis-Mythos der Sumerer). Das Alte Israel konnte gar nicht anders, als diesen populären Sintflut-Stoff zu übernehmen; freilich reflektierte es den eigenen Glauben auf diesem Hintergrund und schuf ein eigenes Dokument des Glaubens an Gott.

Zum Weiterdenken

  • Was ist heute angesichts Klimawandel, Artensterben und vielfältigen Raubbaus an den Ressourcen der Erde angebracht: Pessimismus oder Optimismus?
  • Wie kann ich selber „kleine Archen“ des Überlebens bauen?
  • Wie soll ich umgehen mit der „bösen Welt“?

3.6. Turmbau und Sprachverwirrung

Text
Genesis 11,1-9: Einheitsübersetzung 2016 | Lutherbibel 2017
Der Turm von Babel (Pieter Bruegel d.Ä.)
Der Turm von Babel (Pieter Bruegel d.Ä.)
Gen 11 bildet den Abschluss der Urgeschichte und den Übergang zur „Familiengeschichte“ mit Abraham. Es geht um die Vermessenheit der Menschen, einen Turm bis zum Himmel zu bauen, also um den Versuch, über die eigenen Grenzen hinaus in den Bereich Gottes vorzustoßen – das endet übel.

Wir dürfen in historischer Hinsicht an die Stufentürme (Zikkurat) Babylons denken, die auf die Israeliten gewiss einen großen Eindruck gemacht haben. Dennoch verarbeitet Israel hier nicht nur seine geschichtlichen Erfahrungen, sondern entwickelt eine eigene theologische Deutung:

Anfangs gibt es eine Sprache auf der Erde; durch Wanderung gelangen die Menschen an einen Ort, wo sie ein Volk werden. Sie halten anscheinend die Vielfalt nicht aus (vgl. Gen 10,31). Haben sie Angst? D.h. kein Vertrauen auf Gott? Vielfalt erleben sie wohl als Bedrohung; in angstbesetzter Uniformität streben sie nach Höherem, nach Selbstvergöttlichung. (Anm.: Muss man nicht auch an Ideologien wie den Nationalsozialismus denken?) Man kann die Erzählung also auch als Kritik an erzwungener Uniformität und Totalitarismus lesen: Wenn Menschen sich aus Angst in Konformität und Uniformität flüchten, dann entsteht eine unheilvolle Bewegung, die allzu leicht in Größenwahn endet.

Die Endsituation wird eindrücklich beschrieben: Verwirrung und Zerstreuung. Geradezu ironisch wird einerseits erzählt, dass die Menschen einen Turm „bis in den Himmel“ bauen wollen, um sich einen „großen Namen“ zu machen; andererseits ist dieser Turm so niedrig, dass Gott vom Himmel herabsteigen muss, um ihn aus der Nähe zu betrachten. Die Sünde Adams, Kains und der Zeitgenossen Noachs setzt sich fort; doch Gott verzichtet (erneut) auf die Vernichtung der Menschen; er verwirrt nur ihre Sprache und zerstreut sie in alle Welt.

[Eine „Spiegelgeschichte“ zur Sprachverwirrung findet sich in der Pfingsterzählung der Apostelgeschichte – Apg 2: Das Evangelium ist für alle verständlich und schafft ein neues Volk.]

Insgesamt bilden die Kapitel 1 – 11 von Genesis die sogenannte Urgeschichte. Sie zeigen in Bildern (oder wie in einem Spiegel), wie es um die Menschheit bestellt ist. Diese Kapitel bilden, so könnte man sagen, den dunklen Hintergrund für das, was ab Kap. 12 erzählt wird: die Heilsgeschichte.

Zum Weiterdenken
  • Wenn Vielfalt eigentlich bereichert … Was macht mir/uns dann Angst davor?
  • Inwieweit hängt die Sprachverwirrung heute (gesellschaftlich und weltweit) von der „Ich-ich-ich“-Denke ab und von mangelhafter Solidarität?
  • Auch „Leuchtturm-Projekte“ geraten manchmal in den Verdacht, es geht um einen „großen Namen“, nicht um Solidarität …