Kirche ist nur dann lebendig, wenn sie auch außerhalb der Kirche lebendig ist. Es tut unserer Kirche daher gut, eine Kultur des Unterwegsseins zu pflegen. Bergexerzitien oder spirituelle Bergwanderungen greifen diese Sehnsucht nach spirituellem Neuland auf.
Reise zu Fuß: Für viele Menschen hat es eine hohe Attraktivität, im Unterwegssein ungeschminkt wieder mit sich in Kontakt zu kommen
Das Selbstverständnis von Kirche ist seit jeher von der Erfahrung des Unterwegsseins geprägt. Die Bibel ist voll von Geschichten, in denen sich Lebenswege als ein Unterwegssein mit Gott offenbaren. Die schönste: Abraham führt seine Familie nach Kanaan. Die turbulenteste: Das Volk Israel flieht aus Ägypten und 40 Jahre lang durch die Wüste. Die spannendste: das Buch Jona. Die prägendste bis heute: Jesu Botschaft auf seinem Weg durch Galiläa. Das Ringen und Streiten, das Hoffen auf und die Freude an Gott prägen unser Gottesverständnis bis heute.
Das Leben an der kurzen Leine
Warum aber diese Unruhe? Warum das große Wandern? Gerade in unserer postmodernen Welt, könnte man vermuten, haben Lebenswege, die von Gott träumen, keinen Platz. Alle Daten sind an jedem Platz dieser Welt abrufbar. Wissenschaft und Technik eliminieren sämtliche Unwägbarkeiten. Wir haben das Leben an die kurze Leine genommen.
Um sich selbst, aber auch Gott wieder auf die Spur zu kommen, nutzen viele Menschen neben dem Pilgern die Angebote von Bergexerzitien oder spirituellen Bergwanderungen
Doch es gibt sie noch, diese Unruhe: Der Wunsch nach echten und tiefen Erfahrungen, die über die Gewissheiten hinausweisen, ist groß. Für viele Menschen hat es eine hohe Attraktivität, im Unterwegssein ungeschminkt wieder mit sich in Kontakt zu kommen. Sie wandern, pilgern, wallfahren oder gehen einfach nur spazieren. Sie wollen auch heute noch wandernd im Gespräch oder in Gedanken dem Gottesgeheimnis einen Schritt entgegengehen. Ganz wie in den alten Geschichten.
Wer für sich solche Erfahrungen sucht, muss also weg – heute wie damals. Als eine gefragte Möglichkeit, sich selbst, aber auch Gott wieder auf die Spur zu kommen, haben sich in den vergangenen Jahren neben dem Pilgern die Angebote von Bergexerzitien oder spirituellen Bergwanderungen entwickelt.
Fern fester Strukturen
Fernab von Digitalisierung und Taktung des Alltags wird in der Bergwelt ein Raum betreten, der wieder offensteht, das Leben neu zu deuten. Die Natur kann dabei helfen, denn dichter Nebel und ewige Weiten, karge Worte beim Gehen oder eine gemeinsame Gipfelbrotzeit, saftige Bachlandschaften leblose Steinwüsten tragen eine Botschaft. Erfahrungen des Wanderns gehen weniger in den Verstand als vielmehr direkt ins Herz. Dort, wo das Leben nicht nach Plan verläuft, gewinnen Vertrauen, Liebe und Freundschaft an Bedeutung.
Kirche ist nur dann lebendig, wenn sie auch außerhalb der Kirche lebendig ist. Es tut unserer Kirche daher gut, eine Kultur des Unterwegsseins zu pflegen. Bergexerzitien oder spirituelle Bergwanderungen greifen diese Sehnsucht nach spirituellem Neuland auf. Dabei wird deutlich: Der Wunsch, im Glauben – gerne als „ecclesia“, als Gemeinschaft – unterwegs zu sein, ist größer denn je. Wer wandernd in das Wunder der Schöpfung eintaucht, erkennt darin unscheinbar die Spur ihres Schöpfers.
Text: Robert Hintereder, Fachbereichsleiter Tourismus und Sport im Erzbistum, entnommen aus Münchner Kirchenzeitung vom 27. Mai 2018, Nr. 21