Vor fünf Jahren kam Deutschland mit dem ersten Corona-Lockdown zum Stillstand. Gottesdienste waren untersagt. Die Seelsorge im Münchner Liebfrauendom um Dompfarrer Monsignore Klaus Peter Franzl wollte sich damit nicht abfinden und organisierte aus dem Stand eine tägliche Übertragung der Gottesdienste. Am 15. März 2020 begannen die Live Streams und damit eine Erfolgsgeschichte, deren Ende nicht abzusehen ist.
Der Regieraum für die Live-Übertragungen im Keller des Münchner Liebfrauendoms
Am 13. März 2020 beschlossen Bund und Länder zur Eindämmung der Corona-Pandemie auf Basis des Infektionsschutzgesetzes erste Schutzmaßnahmen. Zu diesen gehörte, Veranstaltungen oder sonstige "Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen“ zu verbieten – darunter fielen auch Gottesdienste. Bereits zwei Tage später übertrug das Domkapitel einen Gottesdienst, damals zunächst aus der Sakramentskapelle. „Wir wollten das seelsorgerische Angebot aufrecht erhalten“, erinnert sich Dompfarrer Monsignore Klaus Peter Franzl, „und die Technik hatten wir ja.“
In der Tat kamen dem Dom und den Gläubigen zugute, dass auf Initiative von Kardinal Friedrich Wetter bereits Anfang der nuller Jahre eine Übertragungsmöglichkeit geschaffen worden war. Damals war es zunächst nur darum gegangen, den Gottesdienstbesuchern in den Seitenschiffen, die das Geschehen im Kirchenschiff nicht sehen konnten, über Leinwände das Bild vom Chorraum zu zeigen. Dies entwickelte sich dann weiter zu punktuellen Übertragungen der Gottesdienste hoher Fest- und Feiertage ins Internet. Georg Walser vom Sankt Michaelsbund trieb diese Entwicklung hellsichtig voran.
Eine der beiden Leinwände während des Sonntagsgottesdienstes mit dem eingeblendeten Gebärdensprachdolmetscher
„Damals waren wir froh, wenn bei den Übertragungen 300 Menschen zusahen“, erinnert sich Peter Veth, der Beauftragte und Bevollmächtigte des Metropolitankapitels und der Koordinator der Medientechnik. Er und sein Team konnten mit Beginn des Lockdowns nahtlos an diese vorhandene Technik anknüpfen, was erklärt, weshalb der Dom so schnell in der Lage war, auf die neue Situation zu reagieren. Über Nacht wurde die Sakramentskapelle in ein „Fernsehstudio“ umgewandelt.
„Die ersten Gottesdienste in der Sakramentskapelle waren schon seltsam“, erinnert sich Monsignore Franzl, „weil ja außer mir oder dem jeweiligen Zelebranten nur ein Organist, ein Kantor und ein Ministrant da waren – alle weit auseinander stehend. Die einzige Kommunikation, die stattfand, war die mit dem Rotlicht, mit der Kamera.“ Diese Kommunikation habe man auch erst einmal lernen müssen. „Wir mussten diese unsichtbaren Mitfeiernden einbeziehen, sie begrüßen und während des Gottesdienstes immer wieder ansprechen. Man muss sich auch heute noch als Zelebrant immer wieder bewusst machen, dass hinter dem Rotlicht der Kamera Tausende von Menschen mitfeiern, und sie immer wieder anschauen und nicht nur ins Kirchenschiff blicken.“
Das Angebot stieß auf eine gigantische Nachfrage: In Spitzenzeiten saßen im Frühjahr 2020 rund 50.000 Interessierte vor ihren Computern und Fernsehern und verfolgten die täglichen Übertragungen. Zum Vergleich: Sind die Sitzplätze der Frauenkirche vollbesetzt, haben sich dort 800 Gläubige eingefunden. Die Übertragungen behielt der Dom auch dann noch bei, als die Gottesdienste unter Einhaltung von Abstandsregelungen auch wieder eingeschränkt ermöglicht wurden, und zeigte die Heiligen Messen jetzt aus dem Kirchenschiff.
Zu jenem Zeitpunkt konnten die Verantwortlichen des Live Streams ein Phänomen beobachten, das laut Monsignore Franzl den ersten Fingerzeig gab, dass die Übertragungen mehr als lediglich eine Corona-Notlösung waren: Die Zahlen blieben konstant hoch – unter der Woche bei bis zu 4.000 Zusehenden, an Wochenenden bis zu 8.000. „Hier war mehr passiert als nur eine Überbrückung in einer Krisensituation. Hier war eine virtuelle Gemeinde entstanden“, erinnert sich der Dompfarrer.
Zwei Kameras im Rückraum filmen den Einzug im Gottesdienst
Der Nachteil der virtuellen Gemeinde ist eben dieser – man sieht sie nicht. Und so bekommt das Domkapitular natürlich auch nicht mit, wie intensiv sich jemand dem Bild aus dem Dom widmet oder wie gut die Übertragung ankommt. Dass die Zahlen so konstant hoch geblieben sind, ist ein ermutigendes Zeichen für die Resonanz, doch wollte man es genauer wissen und gab deshalb eine Evaluation beim Zentrum für angewandte Pastoralforschung (zap) an der Ruhr-Universität Bochum in Auftrag. Dieses befragte rund 600 Personen online. „Wir wollten verstehen, was hinter der Kamera passiert“, erklärt Monsignore Franzl.
Die qualitativen Ergebnisse der Evaluation sind so ermutigend wie die reinen Zahlen. Besonders bedeutsam ist für den Dompfarrer, dass „die Menschen vom Anfang bis zum Ende einer Messe mitfeiern“. Das habe man schon aus den Reaktionen im Chat des Live Streams erahnen können, als protestiert wurde, dass die Übertragung schon mit dem Auszug der Zelebranten endete und nicht noch das Schlussstück der Orgel in Gänze übertragen wurde. Nun hat man es Schwarz auf Weiß. Ebenso bemerkenswert ist das Ergebnis, dass sich viele Zuschauerinnen und Zuschauer vollkommen auf den Gottesdienst konzentrieren und sogar ihr eigenes Ambiente dazu einrichten, zum Beispiel eine Kerze entzünden.
Recht nahe dran an dieser virtuellen Gemeinde ist von Beginn an Sandra Tjong als Stream-Betreuerin, seit vier Jahren als Teil eines vierköpfigen Teams. „Ich verteile das Signal, das Peter Veth und seine Kollegen aus dem Dom senden, auf verschiedene Plattformen und stelle sicher, dass es dort – auf der Website der Erzdiözese, auf YouTube und auf Facebook – läuft. Während der Übertragung betreue ich den Chat und behalte die Kommentare im Auge.“
Wenn im Chat Fragen zur Liturgie gestellt werden, die Sandra Tjong nicht beantworten kann, muss sie sich nicht sorgen. Sie hat zwar keine direkte Verbindung nach ganz oben, aber nach unten in den Regieraum zu Peter Veth, der laut der Stream-Betreuerin „wirklich alles weiß“. Über WhatsApp kommuniziert man schnell und kann so jede Frage beantworten.
Die Tonübertragung funktioniert per Ansteckmikrophonen, die eine freie Bewegung der Akteure im Raum erlaubt
Vor fünf Jahren musste Sandra Tjong noch einige Störer im Chat managen; das hat sich glücklicherweise reduziert. Geblieben ist die erstaunliche Internationalität der Zuschauenden, die sich beispielsweise aus Brasilien, Hongkong und Taiwan zuschalten. Und nach etwa ein, zwei Jahren setzte dann auch eine Interaktion der Teilnehmenden ein, bildete sich tatsächlich eine Art Gemeinde, in der man sich gegenseitig grüßt und verabschiedet oder auch über die Gesundheit unterhält. „Ich finde die gegenseitige Anteilnahme rührend“, verrät Sandra Tjong. Und wer sich gestört fühle, könne die Chat-Funktion ja abschalten.
Der eigentliche Ablauf des Gottesdienstes hat sich durch die Übertragungen nicht verändert, wohl aber der Auftritt der Zelebranten, die nun darauf achten müssen, dass sie sich in bestimmten Positionen und Sichtachsen zur Kamera bewegen und nicht aus deren Blickfeldern verschwinden oder sich gegenseitig verdecken. „Das ist wie im Theater“, beschreibt es Monsignore Franzl. „Man muss auf Markierungen achten, weil dort die Kameraeinstellung drauf geht.“ Inzwischen habe man es gelernt und es laufe wie selbstverständlich.
Ebenfalls verändert hat sich die Intensität der Kommunikation aller rund um die Gottesdienste und deren Übertragungen Involvierten. „Die Absprachen sind intensiver geworden“, befindet der Dompfarrer. „Wenn ich zelebriere, gehe ich eine halbe Stunde vorher in den Regieraum im Keller und spreche den Gottesdienst nochmal durch und schaue, ob alles passt. Die Abstimmungen mit der Musik und mit der Sakristei sind enger. Dass man fünf Minuten vor Beginn des Gottesdienstes in die Sakristei kommt, geht nicht mehr.“
Laut allen Beteiligten versteht man sich als Team. „Einer muss sich auf den anderen verlassen können“, meint Monsignore Franzl. „Die Technik muss sich darauf verlassen können, dass ich die Texte nehme, die auf dem Regiezettel stehen. Ich muss mich darauf verlassen können, dass die Kamera so aufnimmt wie besprochen. Was abgesprochen ist, muss umgesetzt werden. Nur so funktioniert das Ganze.“
Zwei der 14 fest installierten Kameras
14 fest installierte Kameras fangen das Geschehen im Kirchenraum ein, dazu können auch noch mobile Kameras kommen, beispielsweise um am Palmsonntag die Prozession um den Dom einzufangen. Für Peter Veth und sein neunköpfiges Team aus Tontechnikern und Regisseuren, die aber nicht alle gleichzeitig im Einsatz sind, beginnt der Arbeit rund um den Live Stream an Werktagen zwei Stunden vor Beginn des 18 Uhr-Gottesdienstes.
„Jeder dieser Gottesdienste ist ja im Grunde wie ein Fernsehgottesdienst, der entsprechend mit den Ablaufplänen vorbereitet werden muss. Es müssen alle Lautsprecher und alle Kameras überprüft werden, die ganze Ausstattung“, so Peter Veth. „Es gibt eine zweiseitige A3 große Check-Liste, die wir abarbeiten müssen – bis hin zur Kontrolle der Untertitel, die ich vorbereitet habe. Änderungen müssen kommuniziert werden, zum Beispiel den Stream-Betreuerinnen oder den Gebärdensprachdolmetschenden.“ An Sonn- und Feiertagen beginnen diese Arbeiten schon bis zu vier Stunden früher; bei besonderen Gottesdiensten mit Außenaufbauten wie in der Osternacht kann es sogar schon sechs Stunden vorher losgehen.
Bei den Gottesdiensten an Sonn- und Feiertagen sind Meike Döllefeld und Winfried Locher als Gebärdensprachdolmetscher dabei, die dann in das Live-Bild eingeblendet werden. 2020 dolmetschten die Beiden in der Sakramentskapelle, wo es in der Erinnerung von Meike Döllfeld, die gleich die Premiere begleitete, „ganz schön zapfig“ war. Inzwischen stehen sie und ihr Kollege im Pfarrsaal vor einem Greenscreen und können das Geschehen im Dom via Großbildschirm verfolgen. „Einerseits ist der Ortswechsel schade, weil wir nun weiter weg vom Geschehen sind, aber andererseits ist es schön warm und niemand läuft da während der Messe durch wie in der Sakramentskapelle“, erklärt Meike Döllefeld.
Hinter sich die Green Screen und vor sich der Bildschirm: Gebärdensprachdolmetscher Winfried Locher im Gemeindesaal
Alle notwendigen Materialien der Liedertexte, der Gebete, Predigt, Lesung und Fürbitten erhalten die Gebärdensprachdolmetschenden im Voraus, so dass sie sich gut vorbereiten können. Und der Clou: Inzwischen gibt eine sprachliche Direktverbindung in den Regieraum, anwählbar durch ein Fußpedal.
Neben den lateinischen Texten und der liturgischen Sprache empfindet Meike Döllefeld die fehlenden Rezipienten als eine Herausforderung. Und bei einem Gottesdienst mit seinen vielen Liedern und Gesängen stoße man als Gebärdensprachdolmetscherin auch an die Grenzen dessen, was man vermitteln könne. Nichtsdestotrotz ist es „ein schönes Gefühl, Teil davon zu sein, es zu ermöglichen, dass taube Menschen ganz selbstverständlich mitfeiern zu können – und auch vor Ort im Dom, denn dort werden wir ja auch auf den Leinwänden eingeblendet“.
Ist ein Gottesdienst vorbei und die Übertragung vorüber, endet die Arbeit nicht, sondern es folgt mitunter eine „Manöverkritik“. Monsignore Franzl erläutert: „Große Gottesdienste besprechen wir sowieso nach, aber inzwischen haben wir auch ein regelmäßiges Medien-Jour fixe, in dem wir schauen, was gut und was weniger gut gelaufen ist.“ Das Schauen ist dabei wörtlich zu nehmen: Dadurch dass die Gottesdienste auch aufgezeichnet werden, können Peter Veth und sein Team ganz konkret zeigen, wenn beispielsweise jemand aus dem Bild gelaufen ist oder in einem toten Winkel stand. „Daraus haben wir viel gelernt“, findet der Dompfarrer. Diese akribische Vorbereitung und das gute Zusammenspiel aller Beteiligten vor und hinter der Kamera haben dafür gesorgt, dass es in fünf Jahren keine größeren Pannen gegeben hat.
Auch das zwischenmenschliche Miteinander im Dom ist laut allen Beteiligten gut und konstruktiv, die Stimmung positiv. „Wir sitzen beispielsweise auf engstem Raum da unten im Regieraum und haben uns noch nie gestritten, es gab nie irgendeinen Ärger“, freut sich Peter Veth. Und wenn Bild, Ton, Musik und Atmosphäre perfekt harmonieren – das sind die Momente, die der Medientechniker als „erhebend“ empfindet und die ihm echte Freude bereiten und mit Stolz erfüllen.
„Das ist so professionell und toll gemacht“, findet Sandra Tjong, „dass es selbst über den Bildschirm, wo zwangsläufig etwas von der Atmosphäre abhanden kommt, besonders bei der Kirchenmusik richtig ergreifend sein kann.“
Ein ganz entscheidendes Ergebnis der Evaluation ist für Monsignore Franzl, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer die Live Streams als „Ergänzung, nicht als Ersatz für die Präsenzgottesdienste sehen“. Und so sind die Übertragungen nicht nur keine Konkurrenz für die Präsenzgottesdienste, sondern, wenn es nach dem Dompfarrer geht, sogar der Startpunkt für eine weiter gehende Entwicklung: „Ich würde mir wünschen, dass wir die Erfahrungen, die wir hier gesammelt haben, auch auf andere Bereiche ausweiten können – Stichwort Digitale Seelsorge. Kann Verkündigung über Social Media passieren? Kann man digitale Formate nutzen, um nicht nur Informationen und Einladungen zu vermitteln, sondern auch um in Verkündigungsformate einzusteigen?“
Die Zukunft wird es weisen, aber die Gegenwart legt derweil weiter das Fundament, sechsmal in der Woche, seit dem 15. März 2020 in rund 1.800 übertragenen Gottesdiensten.
Dom Zu Unserer Lieben Frau
Frauenplatz 1
80331 München
dompfarramt(at)muenchner-dom.de
Msgr. Klaus Peter Franzl, Pfarrer
Dr. Peter Joachim Artmann, Seelsorgemithilfe
Msgr. Wolfgang Huber, Seelsorgemithilfe
Dr. Johannes Lackermair, Seelsorgemithilfe
Bertram Machtl, Seelsorgemithilfe
Dr. Andreas Müller-Cyran, Seelsorgemithilfe
Msgr. Dieter Olbrich, Seelsorgemithilfe
OStR. G. R. Georg Walch, Seelsorgemithilfe
Anton Häckler, Adscribiert
Matthias Scheidl, Hauptberuflicher Diakon
Robert Scheingraber, Hauptberuflicher Diakon