„Jesus der Retter ist da!“ Zur theologischen Bedeutung des Stille-Nacht-Lieds

Kapelle in der Nacht im Schnee mit Beleuchtung
Vor mehr als 200 Jahren erklang das Lied "Stille Nacht" in der Kirche St. Nicola im österreichischen Oberndorf zum ersten Mal. An ihrer Stelle steht heute die Stille-Nacht-Kapelle (Foto).
In Bethlehem an der Geburtsgrotte wird kaum ein Lied so oft angestimmt wie „Stille Nacht, heilige Nacht“, das vor 200 Jahren an der Weihnachtskrippe in Oberndorf von dem Priester und Textautor Joseph Mohr und dem Lehrer, Organisten und Komponisten Franz Xaver Gruber zum ersten Mal aufgeführt wurde.
 
Die Kirche St. Nicola von damals steht nicht mehr. Sie musste wegen irreparabler Bauschäden 1910 abgerissen werden. Auf ihrem Schutthügel wurde 1937 die „Stille-Nacht-Kapelle“ errichtet und geweiht. Man wurde gewahr, dass dieses Weihnachtslied auf der ganzen Welt bekannt ist und in über 300 Sprachen gesungen wird. In die 1906 neu errichtete Pfarrkirche wurden das Hochaltarbild des heiligen Nikolaus und die meisten übrigen Bilder und Figuren übertragen. Sie sind heute die stillen Zeugen von dem damals erstmaligen Gesang dieser beiden Freunde.

Von Oberndorf in die ganze Welt

Der Orgelbauer Carl Mauracher brachte das Lied von hier aus nach Tirol ins Zillertal, und die Sängerfamilien Rainer und Strasser sangen es als berührende Zugabe bei ihren Auftritten in Leipzig, St. Petersburg und New York. Schon bald in Gesangbüchern gedruckt und verbreitet, wurde es zu dem Lied in Familie und großer Feiergemeinschaft, das zu Weihnachten in den Wohnstuben, in den Kirchen, ja selbst in den Schützengräben den Menschen zu Herzen ging.
 
Unzählige Werke – literarische, historische, musikalische, dramaturgische und filmische – wurden in diesem Jubiläumsjahr geschaffen. Viele Gedenkfeiern, Artikel, Sendungen in Rundfunk, Fernsehen und Sozialen Medien kreisen um dieses Lied. Auch ich selber habe von meinem Freund, Geigenbauer Hermann Reutterer, zu Ehren meines priesterlichen Mitbruders Joseph Mohr, der bekanntlich sehr gut Geige spielte, eine Geige bauen lassen. In Hallein freuen sie sich über die neu geweihte Gruber-Orgel.

"Stille Nacht" ist ein Friedenslied


Der Stille-Nacht-Gesellschaft wurde in diesem Jahr der Kulturerbe- Preis der Europäischen Union verliehen. „Ihre erfolgreiche Darstellung und Dokumentation der Ursprünge dieses in ganz Europa so beliebten Liedes wurden von der Jury anerkannt und besonders geschätzt“, heißt es in der Begründung. Das Lied gehört zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO.
 
Als Friedenslied wird „Stille Nacht“ bezeichnet. Das Wort „Friede“ kommt nicht ausdrücklich vor. In der vierten Strophe (siehe Text unten) klingt aber etwas an. In der Geburt Jesu ist nach dem Bekenntnis der Christen jene Vision des Propheten Jesaja der weihnachtlichen Lesung angebrochen: „Ein Kind wurde uns geboren,ein Sohn wurde uns geschenkt. Die Herrschaft wurde auf seine Schulter gelegt. Man rief seinen Namen aus: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens.“ (Jes 9,5) Diesem Kind wird unser Geburtstagslied gesungen. Es lädt uns und die ganze Welt ein, diesen Jesus mit ganzem Herzen zu suchen und ihn kennen zu lernen. Denn er führt den Menschen zur Mitte, zu dem, was Bestand hat, in das absolute Vertrauen. Darin liegt der Friede, der von Gott kommt.

Meisterwerk der Verkündigung

Die kürzeste Lebensbeschreibung Jesu ist sein Name, übersetzt heißt er: „Gott rettet.“ Sein ganzes Leben gibt Jesus drein, um zu zeigen, was Recht und Gerechtigkeit ist und Heil und Rettung für die Menschen und die Welt. Viermal schließen die Strophen des Originaltextes mit Jesu Namen: „Da uns schlägt die rettende Stund; Jesus! in Deiner Geburth!“ (zweite Strophe), „Uns der Gnade Fülle läßt seh’n Jesum in Menschengestalt!“ (dritte Strophe), „Und als Bruder Huldvoll umschloß Jesus die Völker der Welt!“ (vierte Strophe), „Jesus der Retter ist da!“ (letzte Strophe).
 
Das Lied ist ein kleines Meisterwerk der Glaubensverkündigung, eine Frucht der Meditation der Schrifttexte der Heiligen Nacht.
 

Text: Nikolaus Erber, Pfarrer im österreichischen Oberndorf und Dekan des Dekanates St. Georgen, aus: Münchner Kirchenzeitung vom 23. Dezember 2018

 

Gott liebt alle Menschen Zur vierten Strophe von "Stille Nacht"

Die theologische Bedeutung des Stille-Nacht-Lieds ist nicht ganz einfach zufassen, besonders, wenn man das Lied auf die drei Strophen beschränkt, die uns allgemein bekannt sind. Eigentlich wäre es wichtig, die vierte Strophe der Urfassung des Liedes mitzusingen, in der es heißt:

„Stille Nacht! Heil’ge Nacht!
Wo sich heut alle Macht
Väterlicher Liebe ergoß,
Und als Bruder Huldvoll umschloß
Jesus die Völker der Welt!“

Gott umschließt alle Völker mit seiner Liebe! Er kennt keine Grenzen, keine nationalen und keine religiösen. Ihm sind alle Menschen gleich wichtig. Er liebt alle!

Als Christen haben wir den Auftrag, immer wieder an diesen Gott zu erinnern, der alle mit seiner Liebe umschließt.

Als Christen haben wir den Auftrag, uns um das Wohl aller zu kümmern. Wir sind Sauerteig und sorgen dafür, dass über der Sorge für das eigene Volk die weltweite Solidarität nicht vergessen wird, die uns ans Herz gelegt ist.
Verbindend und versöhnend wirken für eine gerechte und offene Welt, in der Grenzen immer unwichtiger und die grenzenlose Solidarität immer wichtiger werden, das ist unser Auftrag als Christen, das steckt auch im Text des Stille-Nacht-Lieds, dessen Jubiläum wir heuer feiern.
 

Stiftsdekan Simon Eibl, Leiter des Pfarrverbands Laufen. Zu der Salzach-Stadt gehörte bis 1816 der Vorort Oberndorf. Aus: Münchner Kirchenzeitung vom 23. Dezember 2018