Original-Handschrift des Weihnachtsliedes "Stille Nacht" in einer Ausstellung im Salzburg-Museum in Salzburg
Als Koadjutor Joseph Mohr und Lehrer Franz Xaver Gruber am Ende der Christmette im Jahr 1818 ihr „Kirchenlied auf die Heilige Christnacht“ anstimmten, konnten sie nicht ahnen, dass es seinen Siegeszug in die ganze Welt antreten würde und sie das bekannteste und erfolgreichste Weihnachtslied überhaupt geschaffen hatten.
Die jeweils sechs Zeilen des Gedichts Mohrs mit unterschiedlicher Silbenanzahl zu vertonen, stellte eine Herausforderung dar. Gruber wählte einen Siciliano, wie er es sicherlich von Vivaldi, Händel, Mozart und Haydn kannte. Der wiegende 6/8-Takt mit zahlreichen Punktierungen im Rhythmus wird seit alters her mit Pastoralen, also mit Hirtenweisen, assoziiert.
Die Pastorale versinnbildlicht das Hirtenidyll
In der aufkommenden Romantik mit ihrem Ideal der einfachen Naturverbundenheit versinnbildlicht die Pastorale das (verklärte) Hirtenidyll. So erfreuen sich Pastorellen auf der Orgel, wie von dem Landsberger Johann Anton Kobrich, im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit. Die Kyrievertonungen der beiden bekannten Pastoralmessen von Anton Diabelli (1830) und Karl Kempter (1851) stehen ebenso im wiegenden 6/8-Takt. Zahlreiche Weihnachtslieder erklingen als Pastorale und zugleich als Wiegenlied fürs Christkind, wie „Josef, lieber Josef mein, hilf mir wiegen das Kindelein“ („Resonet in laudibus“, 14. Jahrhundert), „Vom Himmel hoch, o Engel kommt – eja“ (1623) oder „Lasst uns das Kindlein wiegen“ (17. Jahrhundert).
Die Genialität der Kombination von Grubers Musik mit dem poetischen Text Mohrs mag den überragenden Erfolg des Liedes erklären. Einerseits die eingängige, anheimelnde Melodie, die einem ausgewogenen Spannungsbogen folgt, andererseits der typische alpenländische Volksmusikcharakter: Die zweite Stimme begleitet in Terz- beziehungsweise Sextparallelen; Akkordbrechungen ergeben die schlichte Harmonisierung, die sich auf die drei Dur-Hauptstufen Tonika, Dominante und Subdominante beschränkt. Die dritte und vierte Textzeile sind melodisch identisch, stehen jedoch nicht immer im Textzusammenhang. Hierdurch entsteht ein schwebender, sehr abwechslungsreicher Text- und Melodiefluss. Dazu begleitet vom Wirtshausinstrument Gitarre: seinerzeit unerhört in der Liturgie! Am Ende der Mette war es eine Provokation. Aber die reizende Legende von den Kirchenmäusen, die den Blasebalg der Oberndorfer Orgel zernagt hätten, muss wohl als Alibi herhalten …
Verbreitung in mehr als 300 Sprachen und Dialekten
1854 stellte Franz Xaver Gruber in seiner „Authentischen Veranlassung“ die Urheberschaft des Liedes klar, wurde doch „Stille Nacht“ eine Zeit lang für eine Komposition Michael oder Joseph Haydns, gar Mozarts gehalten. In über 300 Sprachen und Dialekten wird das Lied weltweit gesungen. In den USA wird „Silent Night“ häufig für eine amerikanische Volksweise gehalten. „Stille Nacht, heilige Nacht“ erfuhr über die Jahre verschiedene Veränderungen. Mitte des 19. Jahrhunderts entstand die vereinfachte Fassung, wie sie in unsere Gesangbücher Einzug gefunden hat. Es fehlt die Punktierung in Takt drei und vier sowie die traditionelle Wiederholung der letzten beiden Takte; der Ambitus der Melodie ist im neunten Takt erweitert. Die Sprache wurde moderner, synkopierte Silben wie „Heil’ge Nacht“ ausgeschrieben.
Vor zehn Jahren führte der Verfasser dieser Zeilen erstmalig das Lied in Originalgestalt mit allen sechs Strophen und Wiederholung der letzten Zeile samt Zwischenspielen auf. Die überwiegende Zahl der Gottesdienstteilnehmer war berührt von der etwa doppelt so langen Meditation, die in eine andächtige Stimmung zu versetzen vermag. Es bleibt zu wünschen, dass das 200-Jahr-Jubiläum Anlass ist, die originale Version von „Stille Nacht, heilige Nacht“ immer öfter erleben zu dürfen.
Text: Thomas Friese, Chorregent und Organist der Pfarrkirche St. Canisius in München-Großhadern, aus: Münchner Kirchenzeitung vom 23. Dezember 2018