Fast lebendig wirkt die golden schimmernde Struktur. Mal grob-, mal feinmaschiger ist das konkav geformte Gitterwerk, mal mit glatter Oberfläche, mal mit Vertiefungen, die dazu verlocken, sie zu ertasten. Man fühlt sich an filigrane Zellstrukturen erinnert und folgt den Knotenpunkten und Verbindungen. Automatisch zieht das schlanke, acht Meter hohe Gebilde dabei den Blick vom halbkreisförmigen Marmoraltar nach oben, zu dem frei hängenden Kruzifix, das es elegant ummantelt.
Mit seiner organischen Anmutung verleiht das neue Altarretabel dem monumentalen Kreuz eine eigene Dynamik. In der Pfarrkirche St. Laurentius in Altmühldorf ist dank visionären Künstlern, innovativer Technologie und viel Engagement der Gemeindemitglieder ein faszinierendes Kunstwerk entstanden, das Impulse zu Andacht und Gebet gibt.
Aus 60 im 3D-Druck-Verfahren hergestellten Einzelteilen besteht das acht Meter hohe Retabel. Um sie zusammenzufügen, war logistische und handwerkliche Präzisionsarbeit gefragt.
Ein Grashalm als Vorbild
Für die Gestaltung des Retabels, ursprünglich eine hinter oder auf dem Altar angebrachte schmückende Wand, und der liturgischen Orte konnte das Münchner Künstlerduo „Empfangshalle“ gewonnen werden. „Corbinian Böhm und Michael Gruber, zwei sehr innovative Künstler, die aber in einer großen handwerklichen wie künstlerischen Tradition stehen und für dieses Projekt ihr Bestes gegeben haben“, sagt Dr. Alexander Heisig, Fachreferent für Zeitgenössische Kunst und Kirche im Erzbischöflichen Ordinariat München. Bei der Konzeption des Retabels arbeitete das Duo mit dem Münchner Architekten Oliver Tessin zusammen, der das Gitterstrukturkonzept sowie die Entwurfs- und Ausführungsplanung übernahm.
Laut Claudia Stadler, Pastoralreferentin in der Stadtkirche Mühldorf, war dabei der Gedanke, als Abschluss für den Chorraum einen goldenen Vorhang zu kreieren. Dieser sollte das barocke Kruzifix hinterfangen und dabei das Licht des dahinterliegenden Fensters mit einbeziehen. „Doch diese Idee brachte viele Schwierigkeiten mit sich. Der Raum war zu hoch und zu schmal und die Statik wurde zum Problem“, erklärt Stadler. „Da kam man auf die Idee: Wie macht es die Natur? Ein Grashalm ist ebenfalls sehr hoch und schmal, und es funktioniert durch die Zellstruktur – die Zellstruktur, die in der Mitte grobmaschig ist und außen feinporiger. Genau so sollte dieses Retabel entstehen.“ Dazu wurden die Erkenntnisse der so genannten Bionik genutzt.
Im Chorraum der Pfarrkirche St. Laurentius wurden
Altar, Ambo und Retabel in Korrespondenz mit
den zentralen Bildwerken wie dem barocken Kruzifix
neu gestaltet.
Komplexe Feinarbeit
„Das Gitterartige, Zelluläre, ist ein wesentliches Merkmal der Bionik – jener Technik, jener neuen Wissenschaft, die Konstruktionen sucht, bei der maximale Stabilität mit minimaler Masse verbunden werden“, erläutert Heisig. Für die Fertigung des Retabels wurden auf Grundlage eines computergenerierten digitalen Datenmodells im 3D-Druck 60 individuell geformte Einzelteile aus weißem Polyamid hergestellt. „Anschließend wurden die Kunststoff-Module mit Metall beschichtet und in komplexer Feinarbeit zu jenem acht Meter hohen Gebilde zusammengefügt, das nun den Abschluss der Kirche bildet“, weiß Heisig. „Technisch umsetzen konnten wir das Projekt nur dank der innovativen Kooperation mit der Oberpfälzer FIT AG, die dafür eigens ein neuartiges Fertigungsverfahren entwickelte“, ergänzt Heisig, so etwa für die Beschichtung der Elemente, für die eine neue Form des thermischen Spritzens eingesetzt wurde. Die Bronze-Aluminium-Legierung und ein abschließender, metallischer Lacküberzug verleihen dem Retabel seine goldschimmernde Oberfläche und stabilisieren es.
Durch Schlichtheit überzeugen
Die ursprünglich spätgotische Kirche St. Laurentius war im Laufe der Jahrhunderte mehrfach umgestaltet worden. Im Rahmen der 2015 begonnenen letzten Gesamtrenovierung sollte die architektonische Einheit des Kirchenraums gestärkt und ein überzeugender Raumabschluss gestaltet werden. „Bei der Renovierung war es uns wichtig, nicht einfach einen modernen Kirchenraum zu schaffen. Vielmehr ging es darum, die alten Kunstwerke, die sich in St. Laurentius befinden, optimal zu präsentieren und zu den neuen Elementen in Beziehung zu setzen“, erläutert Stadler. In Mühldorf gebe es „wunderbare barocke, reich verzierte Kirchen. St. Laurentius sollte durch seine Schlichtheit und Einfachheit bestechen“.
Um den Kirchenraum neu zu strukturieren, wurden über das Retabel hinaus die liturgischen Orte insgesamt neu gestaltet in Korrespondenz mit den zentralen historischen Bildwerken im Raum. Der neue Altar wurde aus Laaser Marmor gefertigt und verbindet sich mit seiner Form und Farbe harmonisch mit dem goldfarbenen Retabel und der barocken Raumschale. Ambo und Tabernakel-Stele sind aus demselben Stein gestaltet. Die Auflage des Ambos und der Tabernakel-Schrein greifen gestalterisch auf eigenständige Weise die zelluläre Struktur des Retabels auf. Dazu wurde feinmaschiges Metallgewebe zu einem Relief gefaltet, in Bronze abgegossen und vergoldet.
Im Rahmen der Gesamtrenovierung wurde die Kirche zudem grundlegend baulich instandgesetzt. Unter anderem wurden auch der alte Turmzugang freigelegt und in der Turmkapelle ein neuer Andachtsort geschaffen, dessen Zentrum eine spätmittelalterliche Skulptur mit einer Darstellung Christi, rastend kurz vor seiner Kreuzigung auf dem Berg Golgota, bildet.
Mit einem Netzwerk wurde das Retabel kürzlich verglichen. Das suggestive Kunstwerk weckt je ganz individuelle Assoziationen und gibt den Gläubigen Impulse im Gottesdienst und für die persönliche Andacht.
Greifbar gewordene Begeisterung
Claudia Stadler berichtet von der Begeisterung, mit der die Pfarrgemeinde das Projekt mitgetragen und in Zusammenarbeit mit dem Ordinariat vorangetrieben hat. Mit viel Einsatz sammelte die Pfarrei St. Laurentius zum Beispiel Spenden für die Renovierung. Einen Anteil der Kosten hat die Kirchenstiftung ohnehin aus eigenen Mitteln getragen und auch die politische Gemeinde beteiligte sich bei der Finanzierung. Die Gemeindemitglieder haben bei der Renovierung selbst tatkräftig mitgeholfen und viele Arbeitsstunden investiert. Auch die beteiligten Firmen waren teils so von dem Projekt überzeugt, dass sie es mit eigenen Sachleistungen unterstützt haben. Die FIT AG hat beispielsweise weite Teile der Entwicklung nicht in Rechnung gestellt. Aufgrund des anspruchsvollen künstlerischen Konzepts wurde das Vorhaben zudem vom „Verein Ausstellungshaus für christliche Kunst“ mit einer Summe von 170.000 Euro gefördert. Den größten Anteil der Gesamtkosten von 3,5 Millionen Euro für die Renovierung hat mit 3,1 Millionen Euro das Erzbischöfliche Ordinariat getragen.
Stadler erinnert sich an den Abschluss des Projekts: „Am 2. April 2019 ist das Retabel in einem Stück hierher nach Alt-Mühldorf gekommen. Mehr als 30 Menschen aus der Pfarrei haben sich an diesem Tag freigenommen, wollten mitwirken und mit dabei sein, wenn das Retabel hierher in die Kirche kommt. Doch zunächst war es nur ein Kunstwerk“. Erst zwei Tage später, als das barocke Kruzifix davorgehängt wurde, sei das Ensemble zu einem Blickfang im Kirchenraum geworden, „dem Blickfang, auf den die Menschen von Altmühldorf jetzt in jedem Gottesdienst schauen, auf den die Menschen blicken, wenn sie hierher in die Kirche zum Gebet kommen“. Am 5. Mai 2019 hat Kardinal Reinhard Marx, der Erzbischof von München und Freising, den neuen Altar schließlich geweiht und zum Abschluss der Renovierung einen festlichen Gottesdienst mit der Gemeinde gefeiert.
Kürzlich sei das Retabel mit einem Netzwerk verglichen worden, berichtet Stadler: „Ein Netzwerk, das trägt, ein Netzwerk, zu dessen Entstehung viele mit Herzblut und Engagement beigetragen haben.“
Text: Karin Basso-Ricci, Stabsstelle Kommunikation, August 2023
St. Laurentius
Münchener Str. 174
84453 Mühldorf am Inn
St-Laurentius.Altmuehldorf(at)ebmuc.de
Pater Dr. John Kuttikottayil MSFS, Pfarrvikar