Plädoyer für Toleranz und Menschlichkeit Der Klassikchor München führt das Konzert „Annelies“ in der KZ-Gedenkstätte Dachau auf

80 Jahre nach der Entdeckung des Verstecks von Anne Frank und ihrer Familie bringt der Klassikchor München das zeitgenössische Chorwerk „Annelies“ von James Whitbourn zu Gehör. Die Vertonung der Tagebuchauszüge von Anne Frank bedient sich vielfältiger musikalischer Stilepochen - eine besondere Herausforderung für Chorleiter Clayton Bowman und die ehrenamtlichen Sängerinnen und Sänger.
 
Gedenken an Anne Frank in der Gedenkstätte KZ Bergen-Belsen
Erinnern an Anne Frank in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen
Es geschah am 4. August vor 80 Jahren: Polizisten entdecken in einem Hinterhaus in Amsterdam das Versteck von Anne Frank und ihrer Familie. Sie sowie weitere Juden und zwei Helfer werden abgeführt. Anne wird über das niederländische Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz deportiert. Von dort kommt sie in das KZ Bergen-Belsen. Wahrscheinlich im Februar 1945, nur wenige Wochen vor der Befreiung, stirbt die wohl berühmteste Tagebuchschreiberin der Welt im Alter von 15 Jahren.

60 Jahre später kommt in London das Chor- und Ensemble-Werk „Annelies“ des zeitgenössischen britischen Komponisten James Whitbourn zum ersten Mal auf die Bühne. In diesem Konzert werden Worte aus dem Tagebuch der Anne Frank, die mit korrektem Vornamen Annelies hieß, in Musik umgesetzt. Das Schicksal des jüdischen Mädchens Anne Frank dient seit der ersten Veröffentlichung eines Auszugs ihrer Tagebücher im Jahr 1947 als Mahnung, den Holocaust und die Schrecken der Nazi-Herrschaft nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Dieses „Nie vergessen“ hat sich auch die Katholische Seelsorge an der KZ-Gedenkstätte Dachau zum Auftrag gemacht. Fortlaufend sucht die Leiterin der katholischen Gedenkstättenseelsorge, Judith Einsiedel, nach Wegen, dem geschehenen Leid nicht auszuweichen, sondern sich ihm zu stellen, und für die Würde der Opfer einzutreten. Weil die Bischöfliche Beauftragte für KZ-Gedenkstättenarbeit in der Erzdiözese München und Freising in ihrer Freizeit im Klassikchor München mitsingt, sei auf diesem Weg schließlich die Idee entstanden, mit dem Klassikchor „Annelies“ in der Evangelischen Versöhnungskirche der KZ-Gedenkstätte Dachau aufzuführen, erklärt Judith Einsiedel.
 

Religiöse Elemente in der Komposition

 
Dirigent Clayton Bowman
Clayton Bowman
Klassikchorleiter Clayton Bowman greift die aus seiner Sicht „wertvolle Idee“ auf und macht sich an die Umsetzung. Gerne hätte sich der Künstler zur Vorbereitung mit dem Komponisten James Whitbourn über dessen Werk „Annelies“ unterhalten. Dazu kommt es aber nicht: Whitbourn stirbt überraschend im März dieses Jahres. Trotzdem nimmt der US-amerikanische Dirigent die Herausforderung zusammen mit den bis zu 30 ehrenamtlichen Sängerinnen und Sängern des Klassikchores an. Einmal pro Woche wird mit Klavierbegleitung geprobt.

Bowmans Ziel ist es, das Werk für die Zuhörer zugänglich zu machen. Denn „Annelies“ sei, so der Chorleiter, keine Unterhaltsmusik, es habe einen tieferen Sinn, und man müsse der Ernsthaftigkeit, die dem Werk innewohnt, gerecht werden. Herausarbeiten möchte Bowman die verschiedenen Stilepochen von „Annelies“. Manchmal klinge es wie leicht zugängliche Filmmusik, dann käme auch Musik ins Spiel, die Anne Frank zu ihrer Zeit gehört hat. Mit einem Walzer beschreibe der Komponist zum Beispiel einen Traum Anne Franks, der im Tanz die grauenvolle Realität des Mädchens in eine hoffnungsvolle Traumwelt verwandelt.

Whitbourn nutze zudem auch religiöse Elemente wie das Kyrie. Das habe im Werk zwar keine liturgische Funktion im katholischen Sinne, funktioniere aber dennoch als hoffnungsvoller Gebetsmoment. Das Vorfahren des Wagens, mit dem Anne Frank nach ihrer Verhaftung weggebracht wird, beschreibe Whitbourn mit einer Art Gregorianik: „Ein einstimmiger Männergesang, wie man ihn aus der Gregorianik kennt.“ Dieses musikalische Stilelement sorge dafür, dass ein nicht-geistlicher Text eine spirituelle und religiöse Dimension erhalte. Und dann ist da noch die Tradition der jüdischen Klezmer-Musik, die, so Bowman, im Werk allein schon durch die Besetzung des Orchesters mit Klarinette, Cello, Violine und Klavier zum Ausdruck komme. In „Annelies“ seien viele kleine Klezmer-Melodien versteckt, alte Melodien, die Anne Frank gekannt haben dürfte.
 

Intoleranz hat wieder Konjunktur

 
Klassikchor München
Der Klassikchor München mit Dirigent Clayton Bowman
Verstärken wird den Klassikchor bei der „Annelies“ Aufführung die Sopranistin Flore van Meerssche. Die Belgierin vereine in ihrer Stimme Klarheit, Dramatik und Wärme, schwärmt Bowman. Der Solo-Gesang in „Annelies“ schwanke zwischen flehentlich bis sehr leise und intim. „Ich kenne nicht viele, die das mühelos umsetzen können und dabei die ganze Zeit die Wärme in der Stimme behalten“.

Wichtig war für den Chorleiter auch, das Werk nicht unkommentiert auf die Bühne zu bringen. Mit Grußbotschaften von Überlebenden und Befreiern des KZ Dachau aus dem Jahr 2020 und Kindergedichten aus dem KZ Theresienstadt, die von Schauspieler Daniel Holzberg rezitiert werden, möchte Bowman die Zuhörer dafür sensibilisieren, dass zwischen dem Werk und der heutigen Zeit, zwischen Anne Frank und den Geschehnissen in Dachau, ein Zusammenhang besteht. Er mache sich Sorgen, dass das Wort Intoleranz in der heutigen Zeit wieder Konjunktur habe. Die gesprochenen Texte sollen dem entgegen wirken und zusammen mit dem musikalischen Werk für Toleranz und Menschlichkeit werben.
 
Text: Paul Hasel, Redakteur beim Sankt Michaelsbund, Juli 2024
In der Pfarrkirche Herz Jesu in München-Neuhausen (Lachnerstraße 8) wird das Werk am Sonntag, 14. Juli, um 19 Uhr im Rahmen der Reihe „Offene Tore“ aufgeführt.  Am Mittwoch, 17. Juli, um 20 Uhr wird „Annelies“ in der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau (Zugang über den Karmel Heilig Blut, Alte Römerstraße 91) zu Gehör gebracht.

Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit
Alte Römerstraße 75
85221 Dachau
Telefon: 08131-32 17 31
JEinsiedel(at)eomuc.de
http://www.gedenkstaettenseelsorge.de
Fachbereichsleiterin:
Judith Einsiedel, Pastoralreferentin