Der zerbrochene Mond Die Geschichte einer Nonne, die das Fronleichnamsfest beinahe erfunden hat

"Prophetin des Fronleichnamsfestes“ hat man sie genannt, die Nonne Juliana von Lüttich, deren visionärer Kraft und gelassener Hartnäckigkeit die Weltkirche dieses prächtige Fest mit dem demonstrativen, öffentlichen Charakter angeblich verdankt. Aber von ihrem Leben und Glauben weiß man nicht viel mehr als die Rahmendaten, und das ist ganz richtig so. Denn Juliana mag eine hochgebildete, streng disziplinierte Klosterfrau gewesen sein, die ihre „Gesichte“ in einprägsame, starke Formulierungen kleidete – erfunden hat sie das Fronleichnamsfest nicht, dessen Botschaft und theologischer Gehalt damals sozusagen in der Luft lagen.
Fronleichnam
Um 1192/93 im belgischen Rétinne bei Lüttich geboren, wurde sie seit ihrem 15. Lebensjahr im Lütticher Kloster Mont-Cornillon der Augustiner-Chorfrauen erzogen. 1222 wählte man sie zur Priorin. Weil sie aber so streng an der Regel festhielt und bei der Wahrung der Disziplin offenbar hart durchgriff, vertrieben sie ihre Mitschwestern zweimal aus dem Kloster. Juliana starb in der Verbannung, in Fosses bei Namur, am 5. April 1258. Dargestellt wird sie in Nonnentracht mit Buch, Kelch oder Monstranz, an ihrer Seite manchmal ein grimmig dreinblickender Teufel, der sich über das auf ihr Drängen eingeführte segensreiche Fest mächtig geärgert haben soll.
 
Denn das ist das Einzige, was man über die dürren Lebensdaten hinaus von Juliana weiß: Schon als junges Mädchen hatte sie die Vision von einem wunderbar strahlenden Mond, dessen glänzende Scheibe von einer breiten, finsteren Linie durchschnitten war. Erst nach zwanzig Jahren vertraute sie diese Geschichte ihrer Freundin, der frommen Klausnerin Eva, an – samt Deutung, die ihr damals vom Himmel zuteilgeworden sei: Der scheinbar zerbrochene schöne Mond symbolisiere das Kirchenjahr, dem zum vollen Glanz noch ein Fest zu Ehren der heiligen Eucharistie fehle.
 
Zwanzig Jahre Schweigen über eine Botschaft, die Juliana als eine persönliche Sache zwischen sich und Gott, als intime Erfahrung eines leidenschaftlichen Gebetslebens betrachtete – und doch auch wieder als Mission, als Lebensaufgabe. Denn nach ihrer Freundin Eva erfuhren bald auch der begeisterte Seelsorger Johannes von Lausanne, Kanonikus an St. Martin zu Lüttich, der gelehrte Dominikanerprovinzial Hugo von Saint Cher und der Lütticher Erzdiakon Jakob Pantaleon von den seltsamen Visionen.
 
Ihren theologisch gut abgesicherten Argumenten gelang es offensichtlich, den zunächst abwehrenden Lütticher Bischof Robert de Thorete zu überzeugen. Denn 1246 ordnete Robert für seine Diözese ein alljährlich am Donnerstag nach dem Dreifaltigkeitssonntag zu begehendes Fest zu Ehren der Eucharistie an. Robert starb zwar noch im selben Jahr, und weil sich seine Nachfolger nicht recht für die Idee erwärmen konnten, waren es anfangs nur die Kanoniker von St. Martin, die Roberts Dekret befolgten und das neue Fest feierten.
 
Aber Julianas gelehrte Gutachter machten Karriere: Hugo von Saint Cher, der zum Kardinallegaten für die Niederlande und Westdeutschland aufgestiegen war, führte das Fest überall dort ein, wo er zu bestimmen hatte. Und der Archidiakon Pantaleon wurde 1261 zum Papst gewählt, nannte sich Urban IV. und machte die Fronleichnamsfeier 1264 für die ganze Kirche verpflichtend. Er war der Erste, der den Begriff „festum sacratissimi corporis Domini nostri Jesu Christi“ verwendete, woraus im Deutschen „Fronleichnam“, Leib des Herrn, wurde.
 
Als Papst Urban IV. – der mit dem Fest den Glauben an die von der Reformation bestrittene dauerhafte Wesensverwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi stärken wollte – später aus der zunächst nur lokal befolgten Anregung der Lütticher Ordensfrau ein zentrales Christusfest machte, war noch keine Rede von einer feierlichen Aussetzung des Allerheiligsten oder gar von einer prunkvollen Prozession. Festliche Freude und jubelnden Gesang empfahl er den Christen allerdings in seiner Einführungsbulle. Ein junger Mitbruder Julianas aus dem Männerkloster Mont- Cornillon schuf die ersten schönen liturgischen Texte, die nur in Bruchstücken (zum Beispiel im Freisinger Kathedralbrevier oder in der ehemaligen niederbayerischen Zisterzienserabtei Aldersbach) erhalten und in der Gelehrtenwelt umstritten sind.
 
Die schon 1264 in St. Gereon zu Köln bezeugte Fronleichnamsprozession blieb zunächst eine Ausnahme; in Spanien setzte sie sich relativ früh durch, als von Laienbruderschaften prachtvoll mit Spielen und Schauwagen organisierte Ausdrucksform gefühlvoller Volksreligiosität. Aus Spanien brachten die Jesuiten die Prozession gegen Ende des Mittelalters – als die mit Elementen des Aberglaubens und der Wundersucht durchsetzte Verehrung der Hostie und des heiligen Blutes immer beliebter wurde – nach Süddeutschland.
 
Bei diesen theatralisch aufgeputzten Prozessionen zogen bunt geschmückte Pferdegespanne Festwagen, auf denen die Zünfte biblische Szenen von der Erschaffung des Menschen aus Lehm und von der Arche Noah über die Kreuzigung Christi bis zum Jüngsten Gericht dargestellt hatten. Bald schon kam es zu Exzessen und Konflikten mit der Obrigkeit. So mussten die Landshuter seit 1807 auf königlichen Befehl auf die 24 Höflinge, zwölf Edelknaben und neun berittenen Geharnischten verzichten, die das Allerheiligste zu begleiten pflegten und laut Dekret aus München damit die „reine Jesusreligion“ entehrten.
 
Text: Christian Feldmann, freier Journalist, Rundfunkautor und Theologe, entnommen aus der Münchner Kirchenzeitung vom Mai 2018, Nr. 21