Den ursprünglichen Charakter der Kirche zu bewahren und gleichzeitig der heutigen Zeit gerecht zu werden: Dieses Anliegen sollte mit den neuen Kirchenfenstern in der Giesinger Heilig-Kreuz-Kirche umgesetzt werden, die im Oktober 2019 feierlich übergeben wurden.
Die neuen Kirchenfenster in der Heilig-Kreuz-Kirche (Foto: EOM / Wolfgang Pulfer)
Blickt man beim Betreten der Kirche auf den Chorraum, erscheinen Muster und Farbe auf den nach oben spitz zulaufenden Fenstern zunächst schlicht und dennoch markant. Mit dem Einfall der Sonnenstrahlen leuchten sie in unterschiedlichen Blau- und Grautönen, die den Innenraum der Kirche in ein geheimnisvolles, zartes Licht hüllen. Die Abbildungen auf den Fenstern scheinen eine Art Fortführung des gotischen Musters auf dem purpurnen Wandteppich im unteren Bereich des Chorraums zu sein. Nähert man sich, gewinnen sie immer mehr an Kontur, und es wird deutlich, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Muster handelt. Sind es Federn? Engelsflügel? Erst bei genauerem Hinsehen werden sie erkennbar: hunderte Röntgenaufnahmen des menschlichen Thorax, keine gleicht der anderen. Was hat es mit diesem außergewöhnlichen Motiv auf sich?
Die im Jahr 1886 geweihte Heilig-Kreuz-Kirche ist die letzte vollständig erhaltene neugotische Kirche Münchens. Die Innenausstattung hat den Krieg weitestgehend überdauert, lediglich die umfassende Farbverglasung mit ihrer vielfältigen Kreuzesikonographie wurde zerstört. 2014, kurz vor Vollendung der umfassenden Innenrestaurierung, wurde ein künstlerischer Wettbewerb für eine neue Fenstergestaltung durchgeführt. „Es war uns wichtig, dass die Kirche durch zeitgenössische Kunst in die heutige Zeit kommt“, erklärt Pfarrer Engelbert Dirnberger. Allerdings konnte keine der eingereichten Arbeiten die Jury überzeugen. Zwei Jahre später entschied man sich schließlich zur Direktbeauftragung des international renommierten Video- und Fotokünstlers Christoph Brech.
„Ausschlaggebend für meinen Entwurf war die gobelinartige Bemalung der Wand im unteren Teil des Chors“, schildert der 55-jährige die Entwicklung seines künstlerischen Konzepts. Die Muster habe er nach oben hin individuell verändert weiterführen wollen. Dass er sich hierbei für die Verwendung von Thoraxaufnahmen entschied, hatte unterschiedliche Gründe. Einer davon sei die Betonung der Einzigartigkeit eines jeden Menschen. „Durch die Aneinanderreihung hunderter Lungenflügel werden die Unterschiede der menschlichen Anatomie erfahrbar.“ Mit dem Blick in den Körper hinein fielen alle Äußerlichkeiten weg. „Was bleibt, ist der Mensch in seinem Menschsein“, erläutert der Künstler sein Werk. Zudem werde das Kreuz des Menschen, bestehend aus Schlüsselbeinen und Rückgrat, dargestellt.
In einem aufwändigen Prozess bearbeitete Brech die Aufnahmen am Computer, bevor sie mit blauer Farbe auf hellblau gefärbtes Glas gedruckt und gebrannt wurden. „Die Fenster sollten Licht abhalten, aber auch durchlassen, und die Kirche lebendig wirken lassen“, beschreibt Katja Zukic von der Hofglasmalerei Gustav van Treeck, in welcher die Fenster hergestellt wurden, die große Herausforderung. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Je nach Sonnenstand und Jahreszeit variieren Farbe, Licht und Atmosphäre im „Giesinger Dom“. Auch von außen können die neuen Fenster bewundert werden.
„Ich war von der Idee spontan fasziniert“, erinnert sich Norbert Jocher, Leiter der Hauptabteilung Kunst im Erzbischöflichen Ordinariat. Die tiefschichtige Bedeutung der Fenstergestaltung verweise direkt auf die Kreuzthematik der Kirche: „Im Kreuz ist die Verheißung eines unsagbaren Leidens und Lebens. Und das Leben ist dem Menschen sozusagen in die Lunge eingehaucht worden.“ Die Fenster versinnbildlichen demnach gleichzeitig Leid und Vergänglichkeit sowie Hoffnung und Leben.
Röntgenaufnahmen als Metaphern des Lebens – Kritiker konnten diese Verbindung anfangs nur schwer verstehen. „Für die Gemeinde war es zunächst eine große Herausforderung, mit den Ideen von Christoph Brech zurechtzukommen“, gibt Dirnberger zu. Thoraxaufnahmen seien für viele mit Themen wie Krankheit und Belastung konnotiert gewesen. Nach einigen Gesprächen mit dem Künstler ließen sich die Gemeindemitglieder jedoch auf die außergewöhnliche Idee ein. Und nicht nur das, sie wirkten sogar aktiv an der Neugestaltung mit: Etwa 30 der insgesamt um die 1200 Röntgenaufnahmen haben Gemeindemitglieder selbst gestiftet. Sogar Pfarrer Engelbert Dirnberger und Christoph Brech sind in den neuen Kirchenfenstern mit ihren Aufnahmen verewigt. „Während der Gottesdienste bilden die Fenster das Pendant zur Gemeinde“, erklärt Brech. „Lichtbilder, nach oben schwebend, Engeln gleich.“
Text: Katharina Zöpfl
Die Heilig-Kreuz-Kirche von außen (Foto: EOM / Wolfgang Pulfer)