Patrozinium: Früher Sankt Bartholomäus, später Heilig Geist, dann St. Wilgefortis (19.Juli), ab 1921 wieder Hl. Geist, seit 1991 Hl. Kreuz / Sankt Wilgefortis (14. September)
Obwohl Neufahrn aufgrund des kiesigen Bodens ein sehr armes Dorf war, überrascht die Kirche die Besucher durch ihre prächtige Barockausstattung, die mit ihren reich mit Gold verzierten Altären und ihrem eleganten Stuck alle umliegenden Kirchen weit übertrifft. Grund dafür ist die im 17. und 18. Jahrhundert blühende Wallfahrt zu einer wundertätigen Christusfigur, die spätestens seit Beginn des 17. Jahrhunderts als Sankt Wilgefortis oder Kümmernis angesehen wurde. Bis zu 50 Pilgergruppen aus der Hallertau, dem Dachauer Land aber auch aus München kamen alljährlich als Wallfahrer nach Neufahrn.
In ihrem 1934 erschienen grundlegenden Werk über den Wilgefortis-Kult kamen Gustav Schnürer und Joseph Ritz zu dem Ergebnis, dass Neufahrn die Hauptkultstätte im süddeutschen Raum gewesen sei. Bei der Heiligen handele es sich um eine missverstandene Figur des romanischen Pantokrators, des Herrscherchristus am Kreuz. Die 146 cm große, romanische Figur war 1660/61 in den neuen barocken Hochaltar integriert worden und wurde als Jungfrau und Märtyrerin St. Wilgefortis verehrt.
Im Gegensatz zum Schmerzensmann am Kreuz, wie er seit der Gotik bekannt ist, trägt die Figur ein fast knöchellanges, grünes Kleid. Anstelle des Dornenkranzes hat sie eine goldene Krone auf. Dieser romanische Herrscherchristus am Kreuz war vor allem in der Ostkirche und im frühen Mittelalter weit verbreitet. Die Neufahrner Christus- oder Wilgefortis-Darstellung ist eine im Kern mittelalterliche Skulptur, die vermutlich bei einem verheerenden Kirchenbrand im Jahr 1580 sehr stark beschädigt wurde.
Obwohl als Originalschnitzarbeit aus dem 12. Jahrhundert heute nur noch der beim Brand weitgehend unzerstörte Oberkörper gelten kann, nennt der Kunsthistoriker Peter Steiner das Neufahrner Kreuz ”eines der ältesten und ehrwürdigsten monumentalen Zeugnisse des christlichen Glaubens im Bistum Freising”. Seine heutige romanische Fassung ist das Ergebnis der umfangreichen Restaurierungen in den Jahren 1933 und 1989.
1797 nannte der Neufahrner Benefiziat Franz Anton Reithmayr das Jahr 1397 als Ankunftsjahr des Kreuzes in Neufahrn. Auf sieben, detailreichen, gotischen Bildtafeln aus dem Jahr 1527 im Chor und der Florianskapelle ist die Legende von der Ankunft des Kreuzes festgehalten und es sind die ersten Wunder beschrieben.
Demnach schwamm ”das pilt” auf der Isar gegen die Stromrichtung. Zwei Holzfäller, die ”in der Au bei Mintring” arbeiten, entdeckten es. Beim Versuch das Kreuz zu bergen, verletzte einer mit der Axt die Figur, ”da ist bluet herausgerunnen”. Der Bischof wurde gerufen, der das Kreuz erhob und auf einen Halbwagen legte. Zwei Ochsen zogen es dann nach Neufahrn, wo es aufgestellt wurde. Dabei kam es erneut zu einer Verletzung des Corpus, wobei sich das Blutwunder wiederholte. Das Kreuz zog Pilger an, eine Tafel berichtet, dass einer blinden Frau und einem verkrüppelten Mann geholfen worden sei. Auf zwei Tafeln ist dargestellt, wie ein
Maler das Kleid der Skulptur rot als Königsgewand angemalt hat. Daraufhin habe er sein Augenlicht verloren. Er gelobte, das Gewand wieder in seiner ursprünglichen grün-blauen Farbe zu malen ”und ist darauf wieder sehend worden”.
Vermutlich waren durchziehende Kaufleute aus den Niederlanden die ersten, die die 1527 noch als „pilt“ bezeichnete, bekleidete Figur am Kreuz mit Königskrone als die Heilige Wilgefortis oder Kümmernis ansahen. Im Jahr 1607 schrieb der Neufahrner Benefiziat Gregorius Hörll die Legende der Heiligen Wilgefortis in ein Messbuch: Wilgefortis sei eine heidnische Königstochter gewesen, die sich heimlich zum Christentum bekehrt hatte. Als ihr Vater sie mit einem ebenfalls heidnischen Königssohn verheiraten wollte, der als wilder Christenverfolger bekannt war, betete Wilgefortis zu Jesus, er möge die Heirat verhindern. Daraufhin wuchs ihr ein Bart und sie kam als Braut nicht mehr in Frage. Ihr Vater, der inzwischen erfahren hatte, dass seine Tochter Christin geworden war, ließ sie deswegen wie Christus ans Kreuz schlagen. Dies habe sich in Steenbergen in Holland zugetragen.
Benefiziat Hörll berichtet, er habe in 15 Jahren selbst 45 Mirakel in Neufahrn erlebt. Neufahrn war als Wilgefortis- oder Kümmernis-Wallfahrtsort inzwischen so etabliert, dass der Freisinger Fürstbischof Veit Adam im 30-jährigen Krieg persönlich dreimal nach Neufahrn pilgerte. Zwischen 1650 und 1660 erkundigte sich die bairische Kurfürstin Maria Anna wiederholt beim Weihenstephaner Abt nach dem Neufahrner Kreuz. Sie stiftete für den neuen Hochaltar 100 Dukaten. Ihr Wappen ziert deswegen die beiden Säulenstühle.
Im Jahr 1715 ließ der Weihenstephaner Abt Ildephons Huber das ursprünglich gotische Gotteshaus barockisieren. Die gotischen Rippen im Gewölbe wurden abgeschlagen und durch ein reiches Rankenwerk ersetzt, die schlanken Fenster mit Spitzbögen bekamen eine runde barocke Fassung.
Die Altäre und die Raumschale präsentieren sich seit einer umfassenden Restaurierung zwischen 1984 und 1991 jetzt gänzlich in der Fassung des Jahres 1715, dem Höhepunkt der Wilgefortis-Wallfahrt. Sie sind das Ergebnis umfangreicher Befunduntersuchungen, die der umfassenden Renovierung. Der ursprünglich schwarz gefasste, wuchtige und reich vergoldete Hochalter aus den Jahren 1660/61 erhielt seine weiße Fassung des Jahres 1715. Mit seiner streng horizontalen Gliederung gilt der Altar als bedeutendes Werk der bairischen Spätrenaissance. Die mächtigen Figuren gehören bereits dem Barock an. Als Schöpfer des Hochaltars und der Figuren nennt die Kunsthistorikerin Sylvia Hahn den Freisinger Bildhauer Tobias Schmid.
Die drei Seitenaltäre aus dem späten 17. Jahrhundert sind der Heiligen Familie, den Heiligen Jungfrauen Barbara, Ursula und Katharina sowie dem Heiligen Florian geweiht. Die Sitzfigur des Heiligen Leonhard an der Südseite des Kirchenschiffes war bis zur Säkularisation 1803 in der Leonhardkapelle neben der Kirche untergebracht. Mit der Säkularisation wurde auch die Wallfahrt verboten, sie erlosch damit zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Die ehemalige Leonhardskapelle am Kirchenfriedhof war nach der Säkularisation Schulhaus, später hatte der Mesner hier eine Wohnung. Danach war sie Heimstäte des türkischen Arbeitervereins. Nach einem verheerenden Brand im September 2015 wird das Haus nun unter Anleitung des Landesamts für Denkmalpflege von der politischen Gemeinde restauriert.
Ernest Lang