Die Evangelien berichten von vielen Wundem Jesu: Er hat Kranke geheilt, Dämonen ausgetrieben, Brot vermehrt, Wasser in Wein verwandelt, den Sturm gebändigt, Tote auferweckt... und ist selbst von den Toten auferstanden. Stimmen diese Berichte wirklich? Wie glaubwürdig sind die Wunder im Neuen Testament?
Kritische Fragen zum Wahrheitsgehalt der Wunderberichte über Jesus gibt es schon lange. Eigentlich schon immer. Bereits Herodes war ungläubig-neugierig, als ihn erste Berichte über Jesus erreichten: „Der Tetrarch Herodes hörte von allem, was geschah, und wusste nicht, was er davon halten sollte.“ (Lk 9,7) Dass die Bibel von Wundern berichtet, ist eine Tatsache. Aber wie steht es um das historische Fundament dieser Berichte? Diesbezüglich gibt es verschiedene Erklärungsmodelle:
1. Die Jünger haben bestimmte Erlebnisse mit Jesus falsch gedeutet und Wunderer Zahlungen daraus gemacht.
2. Die Wunder wurden von den Jüngern nachträglich frei „erfunden“, um die Besonderheit Jesu zu unterstreichen.
3. Die Wunder sind lediglich Lückenfüller für das damals fehlende naturwissenschaftliche Wissen.
4. ... oder Die Wunder haben wirklich stattgefunden und wurden von den Evangelisten - jeder auf seine eigene Weise - festgehalten und überliefert.
1. Die Wunder als Missverständnisse
Schon im 17. und 18. Jahrhundert wurde die These entwickelt, die Wunderberichte in den Evangelien gingen. in Wirklichkeit auf natürliche Vorgänge zurück, die von den Jüngern fehlgedeutet wurden. Der aufklärerische protestantische Theologe Karl F. Bahrdt (1741- 1792) schlug für die Stillung des Sturms folgende Lösung vor: Als das Boot mit den Wellen kämpfe, habe Jesus seine aufgeregten Jünger angeherrscht: „Schweigt still!'' Zufällig legten sich die Wellen genau in diesem Augenblick, so dass die Jünger seine Worte als Befehl an den See auslegten: „Schweig still!“ Bei anderer Gelegenheit sei Jesus am Seeufer im Nebel gewandelt bzw. auf Baumstämmen, die im Wasser lagen: die Jünger hätten nur seine Umrisse gesehen und seien so zur Meinung gekommen. er könne auf dem Wasser wandeln. Ähnlich argumentiert: Heinrich E. G. Paulus (1761—1851): Bei der vermeintlichen Brotvermehrung härten viele Zuhörer Selbstverpflegung mitgebracht. Als Jesus sein eigenes Brot mit den Jüngern teilte, habe dies die übrigen Anwesenden angeregt, ebenfalls ihre Vorräte mit denjenigen zu teilen, die nichts hatten. So wurden alle satt, was man später für ein „Wunder- hielt. Im Fall von Totenerweckungen handelte es sich nicht um wirklich Verstorbene, sondern um Scheintote. Auf diese Weise seien alle vermeintlichen Wunder auf rein natürlicher Ebene erklärbar.
Die genannten Beispiele zeigen, wie konstruiert und simplifiziert das Lösungsmodell wirkt; bei vielen Wunderberichten ist es schlicht nicht anwendbar. Bei der Auferweckung des Lazarus nach vier Tagen betont seine Schwester Martha ausdrücklich: „Herr, er riecht aber schon.“ (Joh 11,39) Lazarus war nicht scheintot. Bei der Heilung des Blinden in Joh 9 wird an nicht weniger als fünf Stellen erwähnt, er sei ohne Augenlicht geboren worden (vgl. Joh 9,1.2.19.20.32). Es ging also nicht um eine vorrübergehende Sehschwäche, sondern um echte Blindheit. Es ist darum schwer vorstellbar, dass die Fülle der berichteten Wunder allein auf bloße Missverständnisse der Zuschauer zurückgeht.
2. Die Wunder als bewusst-erfundene Autoritätsaussage
Nach einer anderen These wurden die Wunder in den Evangelien bewusst erdichtet, um die besondere Persönlichkeit Jesu zu unterstreichen. Schon David F. Strauß (1808-1874) fasste in seinem Werk „Das Leben Jesu“, kritisch bearbeitet (1836), die Wunderberichte als erfundene Mythen auf, die Jesus als ersehnten Messias bezeugen. Jesus selbst habe den Wunderglauben eher abgelehnt, aber seine Jünger hätten von ihm — angeregt von Wunderberichten im Alten Testament - umso größere Taten erwartet und ihm solche zugeschrieben, um seinen Messias-Anspruch deutlich zu machen. Krankenheilungen, Totenerweckungen, Vollmacht über Naturphänomene oder Vermehrungswunder hätten darum nicht unbedingt eine historische Basis, sondern seien religiöse Aussagen mit geistlicher Bedeutung.
Das Erklärungsmodell krankt an zwei Schwierigkeiten:
(a) Verschiedener Erzählstil
Aus der Antike sind uns zahlreiche mythisch- erfundene Wunderberichte überliefert, die den besonderen Rang einer Persönlichkeit unterstreichen sollten. Der Stil solcher Berichte ist unverkennbar, In ausgeschmückter Rede werden die Großtaten möglichst eindrucksvoll präsentiert, das Tun des Helden steht im besonderen Fokus, konkrete historische Umstände und Details werden vernachlässigt. So berichtet z.B. Ovid in seinen Metamorphosen, wie die Götter Jupiter und Merkur in Menschengestalt vom alten Ehepaar Philemon und Baucis in ihre Hütte aufgenommen werden. Das Gastmahl wird blumig und detailreich dargestellt, um in einem fast magischen Weinwunder zu gipfeln: „Beide gewahren indes, wie der Krug, so oft er geleert ist, wieder allein sich füllt und von selber der Wein sich ergänzet.“ (Ovid, Metamorphosen 8,675) Der ganze Bericht ist grundverschieden vom Stil der biblischen Berichte.
Der Sprachwissenschaftler C.S. Lewis bemerkt dazu: „Ich habe mein Leben lang Gedichte, Epen, Visions-Literatur, Legenden, Mythen gelesen. Ich weiß, wie sie aussehen. Ich weiß, dass keines von ihnen dem [Evangelium] gleicht. Über diesen Text gibt es nur zwei mögliche Ansichten. Entweder ist er eine Berichterstattung (...) Oder aber es hat irgendein namenloser Schriftsteller im 2. Jahrhundert, ohne bekannte Vorgänger oder Nachfolger, plötzlich die ganze moderne, romanhafte, realistische Erzähltechnik vorweggenommen. (...) Der Leser, der das nicht sieht, hat einfach nicht lesen gelernt.“ (C.S. Lewis, Geblök eines Laien, S. 150f)
Tatsächlich gibt es außerhalb der Bibel Erzählungen über Jesus, die in solch mythischem Stil verfasst sind. Der Unterschied zu den Evangelien sticht sofort ins Auge. Im apokryphen (d.h. nicht von der Kirche anerkannten) Petrus-Evangelium wächst z.B. die Gestalt Jesu bei seiner Auferstehung in unermessliche Größe: „Jener Stein, der vor den Eingang des Grabes gelegt war, geriet von selbst ins Rollen und wich zur Seite, und das Grab öffnete sich, und beide Jünglinge traten ein. Als nun jene Soldaten dies sahen, weckten sie den Hauptmann und die Ältesten — auch diese waren nämlich bei der Wache zugegen. Und während sie erzählten, was sie gesehen hatten, sehen sie wiederum drei Männer aus dem Grabe herauskommen und die zwei den anderen stützen und ein Kreuz ihnen folgen und das Haupt der zwei bis zum Himmel reichen, dasjenige des von ihnen an der Hand Geführten aber die Himmel überragen.“ (Petrus-Evangelium)
(b) Inhaltliche Widersprüchlichkeiten
Hätten die Jünger mythische Wunderberichte als Beleg des Messias-Anspruchs von Jesus erfunden, würden sie wohl keine Details enthalten, die just diesen Anspruch relativieren oder abschwächen. Genau das lässt sich aber bei den Wunderberichten im Evangelium regelmäßig beobachten. Nach der Brotvermehrung will das Volk Jesus als Messiaskönig einsetzen. Doch statt freudiger Zustimmung, endlich als Messias erkannt zu sein, zieht sich Jesus auf den Berg zurück (Joh 6,15). Mit der anschließenden eucharistischen Rede stößt er einen Großteil seiner Anhänger so sehr vor den Kopf, dass sie sich von ihm abwenden (Joh 6,66). Als erfundene Geschichte zur Bekräftigung seines Messias Anspruchs ist Joh 6 unplausibel. Gemäß den Evangelien wirkte Jesus viele Heilungen am Sabbat und provozierte damit wiederholt den Konflikt mit der jüdischen Autorität (vgl. Mk 3,2; Lk 13,14; 14,1; Joh 5,10; 9,14...). Mk 6,22-25 berichtet von einer Blindenheilung, die erst nach der zweiten Handauflegung vollständig gelingt. All diese Texte ergeben als frei komponierte Geschichten zur Bekräftigung des Messias Anspruchs von Jesus keinen Sinn.
Liest man die Berichte im Evangelium im Vergleich zu mythischen Erzählungen und nimmt man ihre Details auch ernst, wenn sie Jesu Anspruch scheinbar relativieren, dann können sie nur schwer als erfundene Messias Bestätigung gelesen werden.
3. Die Wunder als Lückenfiiller wissenschaftlicher Unwissenheit
Nach einem dritten Erklärungsmodell gehen die Wunderberichte zurück auf die naturwissenschaftliche Unwissenheit früherer Zeiten. Weil man in der Antike noch nichts von empirischer Psychologie wusste, wurden entsprechende Krankheiten als dämonische Besessenheit erklärt. In Wirklichkeit habe Jesus keine Teufel ausgetrieben, sondern mit seiner starken Persönlichkeit oder durch Suggestion quasi als Psychiater geheilt. Auch psychosomatische Wechselwirkungen waren damals unbekannt, so dass bei anderen Heilungen der Eindruck eines übernatürlichen Wunders entstehen konnte. Irgendwann werde die Wissenschaft für alle berichteten Wunder eine plausible natürliche Erklärung anbieten.
Im Fall dämonischer Besessenheit und psychosomatischer Symptome scheint das Argument bis zu einem bestimmten Grad denkbar, denn in solchen Fällen sind Krankheitsursachen tatsächlich nicht immer sofort von außen eindeutig diagnostizierbar. (Aus gutem Grund erlaubt die Kirche auch heute Exorzismen erst nach sorgfältiger Prüfling, ob natürliche Erklärungen ausgeschlossen sind.) Doch das naturwissenschaftliche Unwissen kann unmöglich alle Wunderberichte erklären. Wenn in Joh 2 zu lesen ist, dass im Rahmen einer Hochzeit 600 Liter Wasser zu Wein wurden, geht diese Darstellung nicht auf wissenschaftliches Unwissen zurück. „Damals wusste man noch nicht, dass…“ Dass was? Es gibt keinen natürlichen Prozess, der von Wasser unmittelbar zu Wein führt. Das weiß man heute, das wusste man damals. Darum sprach man von einem Wunder. Ähnlich beim Wunder der jungfräulichen Empfängnis Mariens, die man mit dem Hinweis auf das lückenhafte Wissen der Antike über die menschliche Fortpflanzung zu erklären versucht hat. Letztes stimmt ohne Zweifel. Aber dass eine Frau ohne Zutun eines Mannes auf natürlichem Weg kein Kind empfangen kann, war bereits zur Zeit des heiligen Josefs allen Leuten klar. Nur darum überlegte er, seine Verlobte im Stillen zu entlassen. Wenn er trotzdem zur Überzeugung kam, das Kind sei vom Heiligen Geist, dann nicht aufgrund seines biologischen Unwissens bezüglich der menschlichen Zeugung, sondern weil er der Botschaft des Engels glaubte. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass dem heiligen Josef der Glaube an ein Wunder leichter fiel als einem naturwissenschaftlich gebildeten Menschen unserer Zeit.
Gleiches lässt sich bei fast allen Wundern zeigen: Die Berichte von Brotvermehrung, Wandeln auf dem Wasser. Erweckung von vier Tage alten Leichen uvm. lassen sich nicht mit mangelnder Kenntnis von Naturgesetzen erklären. Auch wenn damals die genaue Funktionsweise von Hefebakterien, der Wasseroberflächenspannung oder des Verwesungsprozesses unbekannt war - jeder wusste, dass aus fünf Broten nicht 5000 Männer satt werden und man im Wasser für gewöhnlich versinkt.
4. Die Wunder als Glaubenszeugnisse über historische Begebenheiten
Wenn die Wunderberichte (1) keine reinen Missverständnisse sind, (2) wenn sie nicht bewusst erfunden sind, (3) wenn sie nicht der damaligen wissenschaftlichen Unwissenheit geschuldet sind, dann liegt die Folgerung nahe, dass sie (4) wirklich stattgefunden haben könnten. Genauer: Dass sie Zeugnisse von Menschen sind, die in ihrer Begegnung mit Jesus Dinge erlebt haben, die ihren natürlichen Erfahrungsbereich überschritten haben. Dass es sich bei den Evangelien nicht um Polizeiberichte im neuzeitlichen Sinn handelt, muss nicht eigens erwähnt werden. Minutiöse Chronologie und protokollarische Exaktheit sind neuzeitliche Erfindungen und waren der damaligen Zeit fremd. Aber das unerwartet-wunderbar Erlebte wurde weitererzählt mit dem Anspruch, sich auf historische Begebenheiten zu beziehen. Damit ist die Historie der Wunder Jesu natürlich nicht im mathematischen Sinn bewiesen; bei geschichtlichen Fragen ist das prinzipiell nicht möglich. Aber es wurde deutlich, dass es durchaus vernünftig ist, die Wunderberichte der Evangelien als Zeugnisse über geschichtliche Begebenheiten zu lesen.