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In dieser Rubrik stellen wir in loser Reihenfolge aktuelle Themen aus christlicher Sicht zur Verfügung, die wir für lesenswert halten.

WIE GLAUBWÜRDIG SIND DIE BERICHTE DER EVANGELIEN ÜBER DIE WUNDER JESU?

VON PATER Markus Christoph SJM

Jesu Wunder 1
Die Evangelien berichten von vielen Wundem Jesu: Er hat Kranke geheilt, Dämonen ausgetrieben, Brot vermehrt, Wasser in Wein verwandelt, den Sturm gebändigt, Tote auferweckt... und ist selbst von den Toten auferstanden. Stimmen diese Berichte wirklich? Wie glaubwürdig sind die Wunder im Neuen Testament?
 
Kritische Fragen zum Wahrheitsgehalt der Wunderberichte über Jesus gibt es schon lange. Eigentlich schon immer. Bereits Herodes war ungläubig-neugierig, als ihn erste Berichte über Jesus erreichten: „Der Tetrarch Herodes hörte von allem, was ge­schah, und wusste nicht, was er davon halten sollte.“ (Lk 9,7) Dass die Bibel von Wundern berichtet, ist eine Tatsache. Aber wie steht es um das historische Fundament dieser Berich­te? Diesbezüglich gibt es verschiedene Erklärungsmodelle:
 
1. Die Jünger haben bestimmte Erlebnisse mit Jesus falsch gedeutet und       Wunderer Zahlungen daraus gemacht.

2. Die Wunder wurden von den Jüngern nachträglich frei „erfunden“, um die Be­sonderheit Jesu zu unterstreichen.

3. Die Wunder sind lediglich Lückenfüller für das damals fehlende naturwissen­schaftliche Wissen.
4.  ... oder Die Wunder haben wirklich stattgefunden und wurden von den Evangelis­ten - jeder auf seine eigene Weise - festgehalten und überliefert.

1. Die Wunder als Missverständnisse
 Schon im 17. und 18. Jahrhundert wurde die These entwickelt, die Wunderberichte in den Evangelien gingen. in Wirklichkeit auf natür­liche Vorgänge zurück, die von den Jüngern fehlgedeutet wurden. Der aufklärerische pro­testantische Theologe Karl F. Bahrdt (1741- 1792) schlug für die Stillung des Sturms folgende Lösung vor: Als das Boot mit den Wellen kämpfe, habe Jesus seine aufgeregten Jünger angeherrscht: „Schweigt still!'' Zufällig legten sich die Wellen genau in diesem Augen­blick, so dass die Jünger seine Worte als Be­fehl an den See auslegten: „Schweig still!“ Bei anderer Gelegenheit sei Jesus am Seeufer im Nebel gewandelt bzw. auf Baumstämmen, die im Wasser lagen: die Jünger hätten nur seine Umrisse gesehen und seien so zur Meinung ge­kommen. er könne auf dem Wasser wandeln. Ähnlich argumentiert: Heinrich E. G. Paulus (1761—1851): Bei der vermeintlichen Brotver­mehrung härten viele Zuhörer Selbstverpflegung mitgebracht. Als Jesus sein eigenes Brot mit den Jüngern teilte, habe dies die übrigen Anwesenden angeregt, ebenfalls ihre Vorräte mit denjenigen zu teilen, die nichts hatten. So wurden alle satt, was man später für ein „Wunder- hielt. Im Fall von Totenerweckungen handelte es sich nicht um wirklich Ver­storbene, sondern um Scheintote. Auf diese Weise seien alle vermeintlichen Wunder auf rein natürlicher Ebene erklärbar.
Die genannten Beispiele zeigen, wie konstruiert und simplifiziert das Lösungsmodell wirkt; bei vielen Wunderberichten ist es schlicht nicht anwendbar. Bei der Auferweckung des Lazarus nach vier Tagen betont seine Schwes­ter Martha ausdrücklich: „Herr, er riecht aber schon.“ (Joh 11,39) Lazarus war nicht schein­tot. Bei der Heilung des Blinden in Joh 9 wird an nicht weniger als fünf Stellen erwähnt, er sei ohne Augenlicht geboren worden (vgl. Joh 9,1.2.19.20.32). Es ging also nicht um eine vorrübergehende Sehschwäche, sondern um echte Blindheit. Es ist darum schwer vorstell­bar, dass die Fülle der berichteten Wunder al­lein auf bloße Missverständnisse der Zuschau­er zurückgeht.

2. Die Wunder als bewusst-erfundene Autoritätsaussage

Nach einer anderen These wurden die Wunder in den Evangelien bewusst erdichtet, um die besondere Persönlichkeit Jesu zu unterstrei­chen. Schon David F. Strauß (1808-1874) fasste in seinem Werk „Das Leben Jesu“, kritisch bearbeitet (1836), die Wunderberichte als er­fundene Mythen auf, die Jesus als ersehnten Messias bezeugen. Jesus selbst habe den Wun­derglauben eher abgelehnt, aber seine Jünger hätten von ihm — angeregt von Wunderberich­ten im Alten Testament - umso größere Taten erwartet und ihm solche zugeschrieben, um seinen Messias-Anspruch deutlich zu machen. Krankenheilungen, Totenerweckungen, Voll­macht über Naturphänomene oder Vermeh­rungswunder hätten darum nicht unbedingt eine historische Basis, sondern seien religiöse Aussagen mit geistlicher Bedeutung.

Das Erklärungsmodell krankt an zwei Schwie­rigkeiten:
(a)   Verschiedener Erzählstil
Aus der Antike sind uns zahlreiche mythisch- erfundene Wunderberichte überliefert, die den besonderen Rang einer Persönlichkeit un­terstreichen sollten. Der Stil solcher Berichte ist unverkennbar, In ausgeschmückter Rede werden die Großtaten möglichst eindrucks­voll präsentiert, das Tun des Helden steht im besonderen Fokus, konkrete historische Um­stände und Details werden vernachlässigt. So berichtet z.B. Ovid in seinen Metamorphosen, wie die Götter Jupiter und Merkur in Men­schengestalt vom alten Ehepaar Philemon und Baucis in ihre Hütte aufgenommen werden. Das Gastmahl wird blumig und detailreich dargestellt, um in einem fast magischen Weinwunder zu gipfeln: „Beide gewahren indes, wie der Krug, so oft er geleert ist, wieder allein sich füllt und von selber der Wein sich ergänzet.“ (Ovid, Metamorphosen 8,675) Der ganze Be­richt ist grundverschieden vom Stil der bibli­schen Berichte.
Der Sprachwissenschaftler C.S. Lewis bemerkt dazu: „Ich habe mein Leben lang Gedich­te, Epen, Visions-Literatur, Legenden, My­then gelesen. Ich weiß, wie sie aussehen. Ich weiß, dass keines von ihnen dem [Evangeli­um] gleicht. Über diesen Text gibt es nur zwei mögliche Ansichten. Entweder ist er eine Be­richterstattung (...) Oder aber es hat irgend­ein namenloser Schriftsteller im 2. Jahrhundert, ohne bekannte Vorgänger oder Nachfolger, plötzlich die ganze moderne, romanhafte, re­alistische Erzähltechnik vorweggenommen. (...) Der Leser, der das nicht sieht, hat einfach nicht lesen gelernt.“ (C.S. Lewis, Geblök eines Laien, S. 150f)
Tatsächlich gibt es außerhalb der Bibel Erzäh­lungen über Jesus, die in solch mythischem Stil verfasst sind. Der Unterschied zu den Evangelien sticht sofort ins Auge. Im apokry­phen (d.h. nicht von der Kirche anerkannten) Petrus-Evangelium wächst z.B. die Gestalt Jesu bei seiner Auferstehung in unermessliche Größe: „Jener Stein, der vor den Eingang des Grabes gelegt war, geriet von selbst ins Rollen und wich zur Seite, und das Grab öffnete sich, und beide Jünglinge traten ein. Als nun jene Soldaten dies sahen, weckten sie den Haupt­mann und die Ältesten — auch diese waren nämlich bei der Wache zugegen. Und während sie erzählten, was sie gesehen hatten, sehen sie wiederum drei Männer aus dem Grabe her­auskommen und die zwei den anderen stützen und ein Kreuz ihnen folgen und das Haupt der zwei bis zum Himmel reichen, dasjenige des von ihnen an der Hand Geführten aber die Himmel überragen.“ (Petrus-Evangelium)

(b)  Inhaltliche Widersprüchlichkeiten
Hätten die Jünger mythische Wunderberich­te als Beleg des Messias-Anspruchs von Jesus erfunden, würden sie wohl keine Details ent­halten, die just diesen Anspruch relativieren oder abschwächen. Genau das lässt sich aber bei den Wunderberichten im Evangelium regelmäßig beobachten. Nach der Brotvermehrung will das Volk Jesus als Messiaskönig einsetzen. Doch statt freudiger Zustimmung, endlich als Messias erkannt zu sein, zieht sich Jesus auf den Berg zurück (Joh 6,15). Mit der anschließenden eucharistischen Rede stößt er einen Großteil seiner Anhänger so sehr vor den Kopf, dass sie sich von ihm abwenden (Joh 6,66). Als erfundene Geschichte zur Bekräfti­gung seines Messias Anspruchs ist Joh 6 unplausibel. Gemäß den Evangelien wirkte Jesus viele Heilungen am Sabbat und provozierte damit wiederholt den Konflikt mit der jüdischen Au­torität (vgl. Mk 3,2; Lk 13,14; 14,1; Joh 5,10; 9,14...). Mk 6,22-25 berichtet von einer Blin­denheilung, die erst nach der zweiten Handauflegung vollständig gelingt. All diese Texte ergeben als frei komponierte Geschichten zur Bekräftigung des Messias Anspruchs von Jesus keinen Sinn.
 
Liest man die Berichte im Evangelium im Ver­gleich zu mythischen Erzählungen und nimmt man ihre Details auch ernst, wenn sie Jesu An­spruch scheinbar relativieren, dann können sie nur schwer als erfundene Messias Bestätigung gelesen werden.

3. Die Wunder als Lückenfiiller wissenschaftlicher Unwissenheit
Nach einem dritten Erklärungsmodell gehen die Wunderberichte zurück auf die naturwis­senschaftliche Unwissenheit früherer Zeiten. Weil man in der Antike noch nichts von em­pirischer Psychologie wusste, wurden entspre­chende Krankheiten als dämonische Besessen­heit erklärt. In Wirklichkeit habe Jesus keine Teufel ausgetrieben, sondern mit seiner starken Persönlichkeit oder durch Suggestion quasi als Psychiater geheilt. Auch psychosomatische Wechselwirkungen waren damals unbekannt, so dass bei anderen Heilungen der Eindruck eines übernatürlichen Wunders entstehen konnte. Irgendwann werde die Wissenschaft für alle berichteten Wunder eine plausible na­türliche Erklärung anbieten.
Jesu Wunder 2
Im Fall dämonischer Besessenheit und psycho­somatischer Symptome scheint das Argument bis zu einem bestimmten Grad denkbar, denn in solchen Fällen sind Krankheitsursachen tat­sächlich nicht immer sofort von außen eindeu­tig diagnostizierbar. (Aus gutem Grund erlaubt die Kirche auch heute Exorzismen erst nach sorgfältiger Prüfling, ob natürliche Erklärun­gen ausgeschlossen sind.) Doch das naturwis­senschaftliche Unwissen kann unmöglich alle Wunderberichte erklären. Wenn in Joh 2 zu lesen ist, dass im Rahmen einer Hochzeit 600 Liter Wasser zu Wein wurden, geht diese Dar­stellung nicht auf wissenschaftliches Unwis­sen zurück. „Damals wusste man noch nicht, dass…“ Dass was? Es gibt keinen natürlichen Prozess, der von Wasser unmittelbar zu Wein führt. Das weiß man heute, das wusste man damals. Darum sprach man von einem Wun­der. Ähnlich beim Wunder der jungfräulichen Empfängnis Mariens, die man mit dem Hin­weis auf das lückenhafte Wissen der Antike über die menschliche Fortpflanzung zu erklä­ren versucht hat. Letztes stimmt ohne Zweifel. Aber dass eine Frau ohne Zutun eines Mannes auf natürlichem Weg kein Kind empfangen kann, war bereits zur Zeit des heiligen Josefs allen Leuten klar. Nur darum überlegte er, seine Verlobte im Stillen zu entlassen. Wenn er trotzdem zur Überzeugung kam, das Kind sei vom Heiligen Geist, dann nicht aufgrund seines biologischen Unwissens bezüglich der menschlichen Zeugung, sondern weil er der Botschaft des Engels glaubte. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass dem heiligen Josef der Glaube an ein Wunder leichter fiel als einem naturwissenschaftlich gebildeten Men­schen unserer Zeit.
Gleiches lässt sich bei fast allen Wundern zei­gen: Die Berichte von Brotvermehrung, Wan­deln auf dem Wasser. Erweckung von vier Tage alten Leichen uvm. lassen sich nicht mit man­gelnder Kenntnis von Naturgesetzen erklären. Auch wenn damals die genaue Funktionsweise von Hefebakterien, der Wasseroberflächenspannung oder des Verwesungsprozesses un­bekannt war - jeder wusste, dass aus fünf Bro­ten nicht 5000 Männer satt werden und man im Wasser für gewöhnlich versinkt.

4. Die Wunder als Glaubenszeugnisse über historische Begebenheiten
Wenn die Wunderberichte (1) keine reinen Missverständnisse sind, (2) wenn sie nicht be­wusst erfunden sind, (3) wenn sie nicht der damaligen wissenschaftlichen Unwissenheit geschuldet sind, dann liegt die Folgerung nahe, dass sie (4) wirklich stattgefunden ha­ben könnten. Genauer: Dass sie Zeugnisse von Menschen sind, die in ihrer Begegnung mit Jesus Dinge erlebt haben, die ihren natür­lichen Erfahrungsbereich überschritten haben. Dass es sich bei den Evangelien nicht um Polizeiberichte im neuzeitlichen Sinn handelt, muss nicht eigens erwähnt werden. Minutiöse Chronologie und protokollarische Exaktheit sind neuzeitliche Erfindungen und waren der damaligen Zeit fremd. Aber das unerwartet-wunderbar Erlebte wurde weitererzählt mit dem Anspruch, sich auf historische Begebenheiten zu beziehen. Damit ist die Historie der Wunder Jesu natürlich nicht im mathematischen Sinn bewiesen; bei geschichtlichen Fragen ist das prinzipiell nicht möglich. Aber es wurde deutlich, dass es durchaus vernünftig ist, die Wunderberichte der Evangelien als Zeugnisse über geschichtliche Begebenheiten zu lesen.