Unter dem Kreuz
Er steht unter dem Kreuz. Er fühlt sich, als müsse er zerspringen oder als müsse der Sturm, der in ihm tobt, seinen Körper wie ein Segel zerreißen.
Da sind Trauer und Schmerz, den geliebten Meister so leiden zu sehen, dass es ihm vorkommt, als hinge er mit ihm am Kreuz.
Da sind die Wut und der Zorn des Donnersohnes: auf die Soldaten, die Jesus all das antun; auf die Pharisäer, die aus Neid den Messias zu diesem schmählichen Tod gebracht haben; auf Judas, den Treulosen. Doch am schmerzlichsten ist der Zorn, den er gegen sich selbst hegt, dass er nicht den Mut aufgebracht hat, sein Leben für den Meister einzusetzen.
Aber auch die Angst nagt an ihm: War nicht vielleicht doch alles Täuschung? Haben die Pharisäer doch recht und es war alles Scharlatanerie, auf die sie hereingefallen sind?
Da bewegt sich der Gekreuzigte und Hoffnung flackert in Johannes auf. Ist jetzt vielleicht der Moment gekommen, wo ER die Spötter zum Schweigen bringt? Wo er tatsächlich vom Kreuz herabsteigt, wo er die zwölf Legionen Engel ruft und mit dem Schwert dreinschlägt?
Jetzt öffnet Jesus den Mund, fast unhörbar kommt es über seine Lippen:
„Frau, siehe deinen Sohn!“
Im ersten Moment versteht er nicht.
„Sohn, siehe deine Mutter!“
Da durchzuckt es ihn: Das sind die letzten Worte des Meisters. Alles in ihm will schreien: „Nein, das darf nicht geschehen. Hilf dir, sonst sind wir verloren!“
Da sieht er die Mutter. Sie steht da, bebend wie der Fels unter ihr vor Trauer und Schmerz, von dem Johannes sieht, dass er ihr noch viel tiefer geht als ihm. Und doch: Es geht etwas von ihr aus, das er in sich nicht findet: Hoffnung.
Nicht eine stürmische und doch trügerische Hoffnung auf eine schnelle Rettung, sondern ein echtes, tiefes Vertrauen in Gottes Allmacht, Weisheit und Güte.
Diese Hoffnung trifft ihn in der Finsternis, die Golgotha umgibt wie ein Lichtstrahl eines neuen Morgens. Der Schmerz ist immer noch da, doch er weiß: Wenn sie noch hoffen kann, lebt die Hoffnung noch. Er weiß nicht, wie das Geschehene je wieder in Ordnung kommen könnte; er weiß nur: Der Meister hat mir seine Mutter geschenkt und mit ihr Hoffnung.
Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich