In unserem heutigen Sprachgebrauch werden »Labyrinth« und »Irrgarten« meist miteinander gleichgesetzt und verwechselt.
Ein Irrgarten ist ein verschlungenes Netz von Wegen, das vor immer neue Wahlmöglichkeiten stellt, die in die Irre führen können. Sie zwingen da und dort zum Umkehren und zur Erprobung anderer Möglichkeiten.
Ein Labyrinth ist ein kreuzungsfreier, einliniger Weg, der unterwegs zu keiner Entscheidung zwingt, sondern zu einer Mitte - dem Ende des Weges - hinführt. Man kann das Labyrinth nur an einer Stelle betreten. Der Weg führt über viele Umwege, die sich nicht umgehen und überspringen lassen, vom Ausgangspunkt ins Zentrum.
Die älteste bekannte Darstellung eines Labyrinths ist eine ca. 5000 Jahre alte Felszeichnung auf Sardinien.
Das älteste Bauwerk (ca. 1800 v.Chr.), das als Labyrinth bezeichnet wurde, war der Totentempel des ägyptischen Pharaos Amenemhet III., der 3000 Kammern umfasste.
Mit dem Wort »Labyrinth« wird oft der kretische Mythos verknüpft: das Labyrinth als unterirdisches Gefängnis des menschenfressenden Ungeheuers Minotauros. Wer einmal in diese Unterwelt hinabstieg oder als Opfer hinabsteigen musste, fand nicht mehr hinaus. Erst dem Helden Theseus gelang es mit Hilfe seiner Geliebten Ariadne, ins Innere des Labyrinths einzudringen und den gefährlichen Minotauros zu töten. Der Faden der Ariadne ermöglichte es ihm, wieder ans Licht zurückzufinden. Durch Theseus hat sich im Mythos der Weg des Todes zu einem Lebensweg gewandelt.
Das Labyrinth ist schon in den ersten christlichen Jahrhunderten in die Symbolwelt des Christentums integriert worden. Seine Ursymbolik ließ sich leicht auf das Geheimnis des Glaubens deuten: auf den Tod und die Auferstehung Jesu Christi. Christus konnte sogar als der neue Theseus gedeutet werden, der die Unterwelt besiegt hat und endgültig das neue Leben hervorgebracht hat. Wer sich auf den Weg des Labyrinths einlässt als einen Weg, der mit dem eigenen Tod und der Todesverfallenheit der ganzen Schöpfung konfrontiert, findet schließlich in der Mitte den Ort der Gnade, des Erbarmens und wird mit Christus zu einem neuen Leben geboren.
Im Mittelalter - vor allem in der Gotik – entstanden große Kirchenlabyrinthe, vor allem in französischen Kathedralen, aber auch in Italien und Deutschland.
Wir haben für die Gestaltung unseres Kirchplatzes ein achteckiges Labyrinth gewählt. Wer es betritt, muss 11 Umgänge durchschreiten, bis er ins Zentrum gelangt.
Kurz zur Deutung:
Die Zahl Acht ist in der Bibel eine ausgesprochene Glückszahl (acht Seligpreisungen!), aber vor allem ist sie die Zahl des Neuanfangs: Acht Menschen überleben die Sintflut (Gen 6,18; 1 Petr 3,20). Meist wurde am 8. Tag die Beschneidung durchgeführt (Lk 1,59.64).
Die Auferstehung Jesu hat am achten Tag stattgefunden.
Die Zahl Elf spielt im »Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg« (Mt 20,1-16) eine wichtige Rolle.
Die elfte Stunde ist die letzte Chance. Wer sie verstreichen lässt, ist ein Narr. (Die Zahl Elf wird dadurch zur Narrenzahl.)
Die Zahl Zwölf ist eine göttliche Zahl. Sie symbolisiert den Himmel. [Wer nach elf Umgängen das Zentrum des Labyrinths betritt, hat somit die Zwölf, den Himmel erreicht.
Jesus sagt von sich:
»Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6).
Nachfolge Jesu heißt:
Eine Entscheidung treffen für Jesus, d.h. getauft zu werden.
Die Taufkirchen des Mittelalters hatte meist eine achteckige Form. (Ich möchte nur an die Baptisterien in Ravenna erinnern.)
Mein Vorgänger, Pfr. Metzger, hat den neuen Taufstein in unserer Pfarrkirche bewusst in achteckiger Form gestalten lassen.
Die Hoffnung, die das Zentrum unseres christlichen Glaubens ausmacht, besteht darin, dass wir mit Christus von den Toten auferstehen.
Die Mitte unseres Labyrinths ist genau an der Stelle, wo wir das Osterfeuer entzünden, an dem die Osterkerze entzündet wird, das Symbol für den
auferstanden Herrn.
Er, der Herr, ist es, der mit uns geht. Er selber ist der Weg, auf dem wir ins ewige Leben gelangen.
Das Labyrinth ist ein Symbol des eigenen Lebensweges.
Deshalb ist es ist notwendig, das Labyrinth zu erfahren, es zu durchschreiten, es zu begehen!
Wer das Labyrinth betritt – sich auf den Weg macht – hat nicht mit Orientierungsproblemen zu kämpfen.
Wer sich einlässt, kann sich auf seine innere Erfahrung konzentrieren.
Wer das Labyrinth als eigenen Lebensweg annimmt, kommt sicher ans Ziel.
Werner Eichinger, Pfarrer