Das kirchliche Verständnis der Ehe hat sich im Laufe der Geschichte zum Teil gravierend verändert. Die wesentlichen Sinngehalte, die der christliche Glaube für die Gestaltung der Lebensform Ehe bereithält, bieten aber auch heute noch eine plausible wie attraktive Orientierung.
Im April dieses Jahres brachte das Bundeskabinett einmütig eine Reform des Unterhaltsrechtes auf den Weg, das die Unterhaltsbedarfe der Kinder einer zuvor geschiedenen Ehe aufwertet, im Gegenzug die Versorgungsansprüche der zivilrechtlich nunmehr geschiedenen Eheleute aber als nachrangig abwertet. Diese Neujustierung kommentiert der Familienrechtler Dieter Schwab in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung kurz und bündig: „Das Kindschaftsrecht ist dem Eherecht sein Tod.“ Will sagen: Wenn der Staat familiäre Unterhaltsansprüche und dergleichen konsequent vom Kindeswohl entwickelt, zugleich aber die Normalform der Familie nicht mehr an die Institution Ehe bindet, schwindet faktisch sein Interesse an der ehelichen Lebensform. Politisch unterstützungswürdig ist folglich zwar die Familie, nicht aber mehr die Ehe als solche. Konsequent wäre es, so Schwab, jungen Erwachsenen zukünftig zu empfehlen: „Wenn Ihr heiraten wollt, geht zur Kirche.“
Freilich: Sind Heiratswillige für diesen Rat überhaupt aufgeschlossen? Denn nicht nur die Zahl ziviler Eheschließungen sinkt kontinuierlich. Viel stärker noch bricht die Zahl kirchlicher Trauungen ein, wie die jüngst kirchenamtlich veröffentlichten Zahlen belegen. Die Trauquote, also der Anteil kirchlicher Trauungen je hundert ziviler Eheschließungen, von denen mindestens einer der Partner katholisch ist, ist zwischen 1960 und 2004 von 75,1 Prozent auf 28,6 Prozent gesunken. Selbst wenn beide Partner katholisch sind, lassen sich nur noch 46,1 Prozent nach ihrer standesamtlichen Eheschließung kirchlich trauen. Diese Zahlen belegen: gerade die kirchlich geschlossene Ehe leidet selbst bei zivilrechtlich Verheirateten unter einem erheblichen Ansehensverlust.
Stetige Veränderung gehört zur Natur der Ehe
Ob der Ansehensverlust zu Recht oder zu Unrecht erfolgt, ist müßig zu diskutieren. Aufgabe theologischer Ethik ist es vielmehr, die wesentlichen Sinngehalte, die der christliche Glaube für die Gestaltung der Lebensform Ehe bereithält, so zur Sprache zu bringen, dass sie für die Lebensführung heutiger Menschen eine plausible wie attraktive Orientierung bieten. Sie kann dabei an der hohen Wertschätzung anknüpfen, der sich dauerhafte Paarbeziehungen und feste Familienbindungen nach wie vor in unserer Gesellschaft erfreuen. Besonders junge Menschen verbinden mit solchen Beziehungen emotionale Wärme, schützende Geborgenheit oder auch persönliche Anerkennung in einem verlässlichen Rahmen, den man nicht je den Tag neu und mühsam erkämpfen muss.
Natürlich hat sich auch das kirchliche Verständnis der Ehe – wie die Sozialgestalt der Ehe insgesamt – im Laufe der Geschichte stets entwickelt und teilweise sogar gravierend verändert. Die Moraltheologie kann keine Orientierungslinien vom Standpunkt einer überzeitlich gültigen „Natur der Ehe“ entfalten, da, worauf Walter Kasper aufmerksam gemacht hat, es eher zur „Natur“ der Ehe gehört, geschichtlich zu sein, also steten Veränderungsprozessen zu unterliegen. Gleichwohl gibt es Sinngehalte, die für eine christlich gelebte Ehe unverzichtbar wie unverwechselbar sind. Und diese Sinngehalte bergen angesichts der Herausforderungen moderner Lebenswelten ein beachtliches Orientierungspotential. Sie verdeutlichen, dass nicht nur die Ehe eine Zukunft (verdient) hat, sondern dass Frauen und Männer gerade heute in der Lebensform der Ehe ihre eigene Zukunft gewinnen können.
Als ich vor neunzehn Jahren heiratete, stand meiner Frau und mir ins überreichte (Familien-)Stammbuch geschrieben: „Eine privatrechtliche Ordnung darf die Ehe nicht in den Dienst außerhalb ihrer selbst liegender, wesensfremder politischer Zwecke einspannen. Sie hat in ihr selbst den Hauptzweck zu sehen. Der absolute Wert der Ehe prägt sich aus in einer von ihr vermittelten besseren und reicheren Entwicklung der Persönlichkeit mit und am anderen. Dazu fördert sie neben anderem auch die sittliche Bewährung des Menschen in der Paargemeinschaft und der Familie.“ Offen gestanden –
wenig einladend.
Gewiss aber einladender als die nüchterne Umschreibung der bürgerlichen Ehe als vertraglich geregeltes Arrangement von Sexualität, Nachkommenschaft und Versorgungsansprüchen. Zweifellos auch einladender gegenüber dem Ehemodell, das meinen Eltern 1950 noch ins Stammbuch geschrieben stand: meinem Vater wies es „die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten“ und damit „von Rechts wegen eine bedeutende Machtvollkommenheit“ zu, meiner Mutter hingegen gestattete es lediglich die so genannte „Schlüsselgewalt über den häuslichen Wirkungskreis“. Und auch das war ein immenser Fortschritt, denn nur wenige Jahre vorher hätten sie noch zivilrechtlich geheiratet unter dem „Geleit! Die Ehe kann nicht Selbstzweck sein, sondern muss dem einen größeren Ziele, der Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse dienen.“
Das bürgerliche Ehemodell der achtziger Jahre greift fraglos wichtige Errungenschaften und Einsichten auf: die Bedeutsamkeit stabiler Paarbeziehung für die Persönlichkeitsentwicklung der Ehepartner, die gleichberechtigte Rollenverteilung der Geschlechter, die Notwendigkeit partnerschaftlicher Konfliktlösung und manches Wichtige mehr. Doch neigt es dazu, in eigentümlicher Weise die Ehepartner um sich selbst kreisen zu lassen. Es nährt die Vorstellung zweier sich selbst genügsamer Partner, die sich nur deshalb zu einer Allianz fürs Leben verschwistern, um ihre je individuellen Lebensinteressen besser durchsetzen und verwirklichen zu können.
Parallel stärkt die weitgehende Privatisierung der Ehe die Tendenz, die eheliche Partnerbeziehung hochgradig zu intimisieren. Die Ehe wird in romantischer Weise zum zentralen Ort allen Glücks hochstilisiert. In der Folge laden sich die Erwartungshaltungen an den Partner, aber auch an sich selbst erheblich auf. Das führt nachweislich zu erheblichen Spannungen und Belastungen.
Gegen diese einengende Tendenz zur Privatisierung und Intimisierung setzt das Verständnis einer christlich gelebten Ehe einen wohltuenden Kontrast. Sie geht vom Kerngedanken personaler Liebe aus. Das Personale steht für die anthropologische Grundüberzeugung, dass sich die einzigartige Individualität jedes Menschen erst in den dialogischen Beziehungen zum mitmenschlichen Du entwickelt und darin selbst gewinnt. Dialogische Beziehungen nötigen den Einzelnen nie zur Selbstaufgabe, im Gegenteil: Es gibt eine Art und Weise, ein Mensch zu sein, die unverwechselbar und unaustauschbar, die authentisch ist.
In diesem Sinne ringt jede personale Beziehung auch um die Selbstwerdung eines Jeden, um sein Selbstwirklichwerden, ja, um seine Selbstverwirklichung. Gleichwohl steht keiner dem Anderen als fertige Identität gegenüber. Jeder gewinnt seine unverwechselbare, sich selbst verwirklichende Identität immer erst in und durch die Überschreitung seiner selbst auf Andere. Und zu diesen Anderen gehören grundsätzlich alle, deren Lebenswege mit dem meinem verwoben sind.
Christlich gelebte Ehe verschanzt sich nicht in Zweisamkeit
Dieses Verständnis von personal kennzeichnet auch die eheliche Liebe. Natürlich gilt meine Liebe diesem konkreten anderen Menschen. Der Andere ist eben nicht ein Irgendwer, sondern genau dieser da, dessen Nähe mich anzieht und dessen Lebensweg ich teilen will; dessen Nähe so groß und in diesem Sinne so intim ist, dass sie auch der versehrbaren Sprache der Leiblichkeit, der Sexualität also, in besonders einzigartiger und darin ausschließlicher Weise offen steht. Und dennoch weist die personale Liebe immer schon über die konkrete eheliche Gemeinschaft hinaus. Auch die Ehe lebt nur in und durch ihre dialogischen Beziehungen zu Anderen: zur Familie, zu Nachbarschaften, zu Bekanntschaften, zu Freundschaften. Es wäre für eine christlich gelebte Ehe völlig falsch, „wollte man“, wie Karl Rahner einmal apodiktisch festhielt, „die eheliche Liebe von vorneherein als Akt der Verschanzung in eine – im Grunde egoistische – Zweisamkeit verstehen. Ehe ist nicht ein Akt, in dem zwei ein ,Wir‘ bilden, das sich gegen ,alle‘ absetzt und verschließt, sondern der Akt, in dem ein ,Wir‘ konstituiert wird, das sich liebend allen öffnet.“
Darin dokumentiert eheliche Liebe das Umfassende, das Universale christlicher Liebe. Eheliche Liebe bedeutet deshalb nicht nur steten Aufbruch zu neuen Lebensabschnitten und Entwicklungsschritten dieser Zweierbeziehung. Sie bedeutet stets auch Aufbruch in die je größere Gemeinschaft mit anderen hinein. Die christliche Tradition hat diesen Aspekt gerne mit der Fruchtbarkeit einer ehelichen Gemeinschaft bezeichnet und besonders auf die Zeugung von Nachkommen bezogen.
Ehe als Alltagssakrament der Zuversicht
Es ist unstrittig, dass die Gründung einer neuen Familie mit eigenen Kindern einen unvergleichlichen Höhepunkt jenes Aufbruchs darstellt, mit dem ein Ehepaar sich auf andere hin entgrenzt. In der Gründung einer neuen Familie manifestiert sich unmittelbar die soziale Verantwortung einer ehelichen Liebe für anderes Leben, aus der heraus sie selbst neu leben lernt. Ebenso unstrittig ist, dass diese Fruchtbarkeit auch in anderen sozialen Dimensionen zum Tragen kommt. Das gilt für die wechselseitige Unterstützung der Eheleute selbst, die sich Beistand in guten wie in schlechten Tagen versprochen haben. Immerhin nennt der Römische Katechismus von 1566 als ersten Grund für die Ehe von Mann und Frau die „gegenseitige Hilfe, um die Beschwerlichkeiten des Lebens, besonders die Schwäche des Alters leichter ertragen zu können“.
Die Erfahrung von Vertrauen, von Achtung, von Wertschätzung und von Angenommensein – nicht zuletzt erfahren in der Sprache menschlicher Sexualität – ist im eigentlichen Sinne des Wortes für die Ehepartner lebensspendend. Fruchtbarkeit ehelicher Liebe nimmt dann aber auch Gestalt an in der Übernahme von Verantwortung in größerem Familienverbund, in der Nachbarschaft, nicht zuletzt im entschiedenen Engagement für die soziale und politische Humanisierung unserer Lebenswelt. In jeder dieser Dimensionen wird die personale Liebe einer Ehe zur Keimzelle einer humanen Gesellschaft. Das heißt: Auch unabhängig vom Wohl der leiblichen Kinder ist die Ehe staatlich unterstützenswert.
Eheleute, die sich nicht selbst genügen, sondern sich – gleichsam als Akt innerer Befreiung – auf andere hin entwerfen wollen; die dabei die Kraft aufbringen zum Wagnis, das mit jedem neuen Aufbruch in ungewisse Lebensabschnitte verbunden ist; die sich verausgaben können für das Wohl und Wehe, für das Glücken und Gelingen des Lebens anderer; diese Eheleute können nach christlicher Überzeugung aus einer Wirklichkeit schöpfen und leben, die nicht in des Menschen Hand ist.
Die christlich gelebte Ehe steht unter dem Zuspruch des Glaubens. Sie hofft und vertraut auf die heilbringende Gegenwart Gottes; eine heilbringende Gegenwart, die unserem konkreten Leben gilt und uns den Rücken stärken will; eine heilbringende Gegenwart, die auch durch des Menschen Hand mitgeteilt und erfahrbar werden will. Diese heilbringende Gegenwart Gottes wird mitgeteilt und erfahrbar, wo Menschen einander zum Lachen anstecken und ihre Lebensfreude zum gemeinsamen Lebensglück verschwistern; wo sie sich, ihre Zeit, ihre Energie an den Anderen wirklich verschenken, allein um sich am Glück des Beschenkten zu erfreuen.
Sie wird mitgeteilt und erfahrbar, wo Menschen ihr Ja zueinander nicht konditionieren oder kontingentieren, also nicht von Vorbedingungen abmachen oder nur für bestimmte Phasen und Lebensbereiche reservieren; wo sich dieses Ja gerade im Ringen um gemeinsame Entscheidungen und in konstruktiver Kritik am Anderen engagiert. Die heilbringende Gegenwart Gottes wird aber auch mitgeteilt und erfahrbar, wo Ehepartner vergeben können, ohne die mögliche Schuld des Anderen vorher gesühnt zu wissen; wo sie dem Anderen auch dann sein Erwünscht-, Anerkannt- und Angenommensein vermitteln, wo er widersprüchlich ist und fremd bleibt. Dort, wo Ehepartner einander nicht nur ertragen (was manchmal schon sehr viel ist), sondern sich respektieren und in ihren Potenzialen befördern, dort wird das Heil von Gott für uns Menschen, dort wird christliche Erlösung gegenwärtig.
Die Wertschätzung des Imperfekten
Auf diesen Zuspruch des Glaubens verweist die Sakramentalität der Ehe. Sakramentalität bedeutet ja, dass diese Lebensform ein Zeichen wie ein Werkzeug für die heilbringende Zuwendung Gottes zum Menschen ist. Dieses Zeichen und Werkzeug fällt freilich aus dem gewohnten Rahmen. Denn die christlich gelebte Ehe ist das einzige Zeichen und Werkzeug, das zwei Menschen durch ihr Handeln aneinander in ihrem Alltag immer neu vollziehen und so lebendig werden lassen. Denn nicht die Trauung ist ja das Sakrament, sondern das Leben selbst.
So besehen ist das Sakrament nicht einfach gegeben, sondern es wird und geschieht. Je mehr es den Eheleuten gelingt, so Joseph Ratzinger, „die Ehe aus dem Glauben zu leben und zu gestalten, desto mehr ist sie „Sakrament‘.“ Gewiss, der im Glauben erfahrene Zuspruch Gottes bedeutet keine Sicherheit auf Gelingen und Glücken. Wohl aber vermittelt er Zuversicht – die Zuversicht nämlich, dass das Wagnis jeden Aufbruchs nicht in einem Desaster enden muss, sondern zum beglückenden Gelingen führen wird. In diesem Sinne ist die Ehe das Alltagssakrament der Zuversicht.
Mit dem Widerfahrnis des heilenden Handeln Gottes im Rücken eröffnet sich Eheleuten die Möglichkeit eines Lebensstils, der wohltuende Gegenakzente zu mancherlei Verengungen moderner Eheformen und Paarbeziehungen setzen kann: Ein erstes Lebensstilelement lässt sich als bindungsreiche Freiheit benennen. Das meint die Freiheit einer Lebensführung, die weiß, dass die Verwirklichung ihrer Lebenspläne gerade im Reichtum ihrer sozialen Bindungen Gestalt annimmt; die weiß, dass bestimmte Bindungen, sollen sie für die eigene Lebensführung wirklich tragfähig sein, gerade nicht beliebig zur Disposition stehen können, sondern aus dem wechselseitigen Vertrauen auf Endgültigkeit und Unbedingtheit leben. Es geht um eine Freiheit, die das Ja zur liebenden Hingabe an den Partner nicht als Selbstaufgabe oder gar Unterwerfung missversteht, sondern als das Anvertrauen an den Anderen begreift; ein Anvertrauen, das das eigene Schicksal der gemeinsam zu meisternden Lebensgestaltung überantwortet; eine Freiheit schließlich, die sich und dem Anderen die nötigen Eigenständigkeiten zugesteht, aus der die Entwicklung des gemeinsamen Lebensprojekts ihre wesentliche Spannkraft bezieht.
Ein zweites Lebensstilelement ist eine ernsthafte Gelassenheit. Ernsthaft ist die Gelassenheit von Eheleuten, wenn sie sensibel ist für das Nichtgelingen, ja das Scheitern gemeinsamer Lebenspläne, für die unheilvollen Verstrickungen der Ehepartner, die sich etwa aus dem Dickicht geschlechtshierarchischer Rollenzuweisungen mit ihren Auf- und Abwertungen nur schwer befreien können und deshalb einander Verletzungen zufügen; wenn sie sensibel ist für Ohnmacht und Überforderung.
Ernsthafte Gelassenheit begegnet solchen kritischen Phasen einer Ehe, in dem sie behutsam nach Auswegen und Veränderungspotentialen sucht. Aber Gelassenheit weiß, dass das Gegenwärtige nicht die letzte Gelegenheit für das Gelingen und Glücken unseres Lebens ist, sondern auf Zeit setzen darf. Gelassenheit spendet mitunter Trost; ein Trost, der aufmunternden Beistand leistet in den Brüchen unserer Lebensgeschichte, die sich oftmals als die notwendigen Geburtswehen neuer glückender Lebensabschnitte erweisen.
Ein drittes Lebensstilelement ist die Wertschätzung des Imperfekten. Das mag irritieren. Denn die Sehnsucht nach etwas Perfektem, nach etwas Vollendeten ist nicht nur urmenschlich, sondern sie ist die entscheidende Triebfeder für Veränderungen innerhalb einer Ehe, die sich nicht abfinden will mit schmerzhaften Unzulänglichkeiten. Und dennoch plädiere ich für eine Wertschätzung des Imperfekten, weil es das Menschliche des Menschen auch in der Ehe wahrt. Das Imperfekte steht ja nicht nur für das Unzulängliche und Unfertige, sondern auch für das Unabgeschlossene, für das Entwicklungsfähige, für das Offene. Die Wertschätzung des Imperfekten rechnet mit den Veränderungen und Entwicklungen, die aus dem Spannungsbogen jeder menschlichen Lebensgeschichte resultieren.
Sie will einfach Lebensgeschichten offen halten. Sie wendet sich gegen eine Verblüffungsfestigkeit, die mit überraschend neuen Entwicklungen und Wendungen des Lebensschicksals nicht mehr rechnet. Sie wendet sich ebenso gegen einen manchmal schon zwanghaften Machbarkeitsanspruch, der die Lebensgeschichte eines Ehepaares nach Maß verplanen und jedes wichtige Lebensereignis – etwa auch den Kinderwunsch – generalstabsmäßig inszenieren will. Die Wertschätzung des Imperfekten stellt die Gretchenfrage: Geben wir einer Ehe nur eine vorausberechnende Prognose oder gewähren wir ihr eine noch unentdeckte und unverplante Zukunft?
In diesem Sinne ist die Wertschätzung des Imperfekten ein Lebenselixier ehelicher Liebe: „Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. (...) Die Liebe befreit aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden.“ Max Frisch, verschweigt trotz der Begeisterung, die aus seinen Worten für die Liebe schwingt, nicht, dass sich solche Liebe auch erschöpfen kann: „Nicht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. Er muss es sein. Wir können nicht mehr! Wir kündigen ihm die Bereitschaft, auf weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfassbar bleibt.“
Die Unauflöslichkeit der Ehe als befreiender Zuspruch
Das Alltagssakrament der Zuversicht will auch die Hoffnung vermitteln, dass Gottes Kraft gerade in Situationen der Erschöpfung gegenwärtig ist: wo die Energie zum Aufbruch sich verausgabt hat, wo das Lebensprojekt Ehe zu scheitern droht, eben weil es für das Vorkommnis der Liebe keine institutionellen Sicherheitsgarantien gibt. Doch warum verschweigen, dass selbst viele Gläubige das Sakramentale der Ehe hier nur selten als befreienden Zuspruch empfinden, da sie mit ihm nur deren strikte Unauflöslichkeit verbinden?
Natürlich darf die Unbedingtheit ehelicher Treue keinesfalls relativiert werden. Und zwar nicht nur aus dogmatischen, sondern ebenso aus anthropologisch-ethischen Gründen: Eine Relativierung würde nämlich das Fundament nichtkontingentierbarer Verlässlichkeit und unkonditionierten Versprechens untergraben und gerade darin die zukunftsspendende Attraktivität dieser Lebensform zerstören.
„Aber die Pastoral muss dann“, wie es der heutige Papst vor gut drei Jahrzehnten gefordert hat, „stärker von der Grenze aller Gerechtigkeit und von der Realität der Vergebung sich bestimmen lassen; sie darf den hier in Schuld geratenen Menschen nicht einseitig disqualifizieren gegenüber anderen Formen der Schuld. Sie muss sich der Eigentümlichkeit des Glaubensrechtes und der Glaubensrechtfertigung deutlicher bewusst werden und neue Wege finden, auch demjenigen die Gemeinschaft des Glaubens offen zu halten, der das Zeichen des Bundes nicht in seinem vollen Anspruch festzuhalten vermochte.“ Es mag sein, dass dieser Appell noch unzureichend eingelöst ist. Dennoch habe ich die Zuversicht, dass hier befriedigende Lösungen gefunden werden können. Eines ist gewiss: Solche Lösungen werden die Leuchtkraft der Lebensfülle, die von einem christlichen Aufbruch in Zuversicht für eine Zukunft von Frauen und Männer in einer Ehe auszustrahlen vermag, kaum verdunkeln, sondern eher noch stärker aufscheinen lassen!
Andreas Lob-Hüdepohl (* 1961) ist Gründungsmitglied des Berliner Instituts für christliche Ethik und Politik sowie seit 1997 Rektor der Katholischen Hochschule für
Sozialwesen Berlin.