Die Ferienzeit ist vorüber, aber Corona ist immer noch da. Wir spüren nach einigen Monaten: diese Krise ist ein wirklich bleibender Einschnitt in vielen Bereichen. Wir können die Folgen noch gar nicht absehen, aber wir sollten uns schon jetzt fragen: Was lernen wir in dieser Zeit? Was erfahren wir auch als gläubige Christen? Wie sollen wir als Menschen, die an Gott glauben, mit Corona und den Folgen umgehen? Was bedeutet es für unsere Zukunft und für unseren Auftrag in dieser Welt?
Für Christen kommt es ja immer wieder darauf an, das was im eigenen Leben und in Gesellschaft und Geschichte geschieht, im Blick auf die Zeichen der Zeit zu lesen, die wir im Licht des Evangeliums, also im Licht des Lebens und der Botschaft Jesu von Nazareth deuten sollen. Wir fragen uns ja deshalb im Blick auf unser Leben: Was hat dieses oder jenes Ereignis für eine Bedeutung? Warum ist etwas geschehen in meiner persönlichen Lebensgeschichte, das mein Leben so tiefgreifend verändert hat? Frohmachendes, wie auch Bedrückendes. Die Geburt eines Kindes oder der Tod eines Menschen, Krankheit oder auch Schuld und Versagen und große Freude in der Gemeinschaft und der Familie. All das sollen wir lesen im Licht des Evangeliums und im Blick auf den Gott, der uns grundsätzlich liebt und annimmt in der Person Jesu Christi.
Auch Geschichte und Gesellschaft sind Orte, an denen Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums gelesen werden können und müssen, damit wir ahnen, wie Gott uns in diesen Ereignissen anspricht. Wir wollen verstehen, was Gott uns in dieser Zeit sagen will, was Krieg und Krankheit, Versöhung, technische Fortschritte und Naturkatastrophen mit dem Wirken Gottes zu tun haben. Lässt er uns allein? Können wir im Leiden und Sterben vieler Menschen einen Sinn erkennen? Gibt es Hoffnung, Trost?
Auf diesem Hintergrund ist für mich in diesen Wochen und Monaten die Kraft des Gebetes noch einmal stärker geworden. Denn es kommt ja zunächst nicht darauf an, durch unsere Vernunft erklären zu wollen, was und wie Gott denkt und handelt, sondern in eine persönliche Beziehung einzutreten. Das Gebet öffnet den Raum dafür, dass wir uns öffnen für die liebende Gegenwart Gottes, des Vaters. In extremen Situationen sollte für einen gläubigen Menschen immer das Gebet an die erste Stelle rücken, das Gebet des Vertrauens, das Gebet der Hoffnung, das Gebet des Trostes, auch manchmal das Gebet als Schrei der Verzweiflung und der Angst. Dann öffnet sich – wenn auch manchmal sehr behutsam – der Raum des Verstehens und dann des Trostes. Dann wird unser Gebet ein Gebet mit „offenen Augen“. Wie können wir nun die Corona-Zeit in diesem Licht lesen und in der Sprache des Gebetes darauf reagieren und so dem Verstehen näher kommen?
Die Erfahrungen rund um die Corona-Pandemie machen deutlich, wie endlich und zerbrechlich unser Leben ist, wie sehr wir Geschöpfe sind, wie sehr Tod und Leid - nicht erst jetzt, sondern immer wieder - zu unserer persönlichen Lebensgeschichte und zur Geschichte der Menschheit insgesamt gehören. Die Schöpfung ist endlich und unser Leben geht auf den Tod zu. Die Schöpfung ist eine große Gabe Gottes, aber sie ist nicht der Schöpfer selbst, sie hat ein Ende. Und im Gebet sagen wir Ja dazu. Im Gebet nehmen wir unsere eigene Endlichkeit und Sterblichkeit an, wie schwierig es auch sein mag. Die höchste Form des Gebetes ist das Ja-Wort zum eigenen Tod, das Einverstandensein mit dem Willen Gottes, was ja meine Sterblichkeit einschließt: „Dein Wille geschehe!“
Das Gebet in dieser Zeit hat bei mir den Blick auf das absolute Geheimnis noch stärker hervortreten lassen, diese unbegreifliche Wirklichkeit, dieses über alle Vorstellungskraft hinausgehende Du, das wir mit einem menschlichen Wort „Gott“ nennen. Aber dieses Wort kann nie ganz umgreifen, was dieses Geheimnis bedeutet. Wir haben als Geschöpfe und Menschen keinen Anspruch darauf, alles zu wissen, alles zu verstehen, alles zu begreifen, alles in die Hand zu bekommen. Gott ist ja kein Teil der Schöpfung, er ist grundsätzlich „über uns hinaus“, „transzendent“. Aber unsere Hoffnung ist, dass dieses absolute Geheimnis sich zeigt und zuwendet im gekreuzigten Jesus von Nazareth. Das ist der Kern des christlichen Glaubens und der christlichen Hoffnung.
Das Gebet in diesen Wochen und Monaten ist deshalb ein Gebet der Hoffnung, weil wir nicht ins Leere hinein beten, sondern auf einen Gott schauen, der sich mit dem Leid der Menschen verbindet, der selber stirbt und den Tod annimmt und damit auch meinen Tod mitstirbt und so einen Wendepunkt ermöglicht, der Ausdruck findet in der österlichen Hoffnung. So hat sich – auf für mich – in diesen Wochen und Monaten der Blick auf das Kreuz als Zeichen der Hoffnung verstärkt.
Und: Das Gebet in dieser Corona-Zeit öffnet unser Herz für alle Menschen, besonders für die Schwachen, die Kranken, die Gefährdeten. Denn das Gebet ist nicht eine Form des Sichzurückziehens, sondern eine Form menschlicher Wachheit für die Wunden der Welt, eben ein Gebet mit „offenen Augen“. So ist das Gebet für andere und mit anderen ein Ausdruck der Liebe und der Verbundenheit aller Menschen, die alle Kinder Gottes sind und zu einer Menschheitsfamilie gehören.
Das kann dann auch Kräfte freisetzen für das Engagement im Einsatz für den Nächsten, im persönlichen Bereich, in der Nachbarschaft, der Familie, den sozialen und caritativen Einrichtungen, auch in der Politik. Aus der Kraft des Gebetes erwächst der Einsatz für das Leben in allen Dimensionen und grundsätzlich für alle Menschen. Auch das haben wir in diesen Wochen und Monaten erlebt. Möge diese Erfahrung auch nach der Krise nicht vergessen sein.
Gerade die Herausforderung der Corona-Zeit führt uns vor Augen, wie sehr wir als eine Menschheitsfamilie miteinander verbunden sind. Und dass es keine, wie Papst Franziskus gesagt hat, „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ geben darf oder eine Globalisierung, die nur wirtschaftlichen Interessen folgt und nicht die Not der anderen im Blick hat. Das Gebet macht uns hellwach für das, was in der Welt geschieht und öffnet unser Herz und gibt uns Kraft zum Handeln und weitet unseren Blick. Wird die „Corona-Zeit“ zu neuen Orientierungen für die gemeinsame Gestaltung des uns allen anvertrauten Hauses der Schöpfung führen? Ich hoffe es.
Und deswegen gilt für mich, dass gerade diese Zeit mein Gebetsleben reicher gemacht hat, mir noch deutlicher und klarer die Kraft und den Trost des Gebetes gezeigt hat. Ist das nicht auch die Sendung der Kirche mitten in der Welt: Im Gebet den Raum für das absolute Geheimnis Gottes zu öffnen und so neues Verstehen zu ermöglichen? Es gilt, das gemeinsame und öffentliche Gebet zu fördern und das geschieht ja auch im Gottesdienst, in der Feier der Sakramente, aber auch im ganz privaten, persönlichen Bereich. Das Netzwerk des Gebetes kann auch durch „social distancing“ nicht unterbrochen werden. Auch das ist eine Erfahrung dieser Zeit. Ohne Gebet können wir uns selbst und die Welt und auch diese Zeit nicht wirklich vom Evangelium her verstehen und so Kraft und Geduld erfahren für unseren konkreten Einsatz in der Welt und für den Nächsten in der Hoffnung, die uns der Blick auf den gekreuzigten Gott schenkt. So wird auch und gerade das geistliche Leben der Kirche zu einem „Gebet mit offenen Augen“, mitten in der Zeit der Krise, die uns herausfordert. Das Gebet klärt auf und gibt Orientierung. So kann sich auch und gerade in der Corona-Zeit unser Glaube bewähren.
Kardinal Reinhard Marx, September 2020