Rund 100 Mitwirkende auf und hinter der Bühne sorgen in der Jugendkirche in München-Haidhausen für ein besonderes Theatererlebnis. "Gerichtet" macht einen rund 4.000 Jahre alten Stoff aus dem Alten Testament in der Gegenwart sinnlich erlebbar - mit Schauspiel, Musik, Gesang, Film und Lichteffekten.
Eine multimediale Erfahrung - "Gerichtet" in der Jugendkirche
Kampfszene in der Probe zu "Gerichtet"
Es ist eine Abrechnung zwischen zweien, die sich vielleicht einmal wirklich geliebt haben. Doch nun, in der Rückschau, im fiebergleichen Traum von Simson, dem starken, narzisstischen Helden, sind nur Hass und Verachtung geblieben. Er und die Frau, die er einst sitzen ließ und die seinetwegen den Flammentod starb, schleudern sich Worte wie Faustschläge entgegen. Schließlich wirft die Frau mit einem Stuhl nach Simson; beide gehen aufeinander los und können nur von drei Anwesenden daran gehindert werden, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Der Stuhl ist derweil von der riesigen Tischplatte, auf der die Gruppe steht, auf den Boden der Jugendkirche in der Münchner Preysingstraße geknallt. „Das sollte bei der Premiere möglichst nicht passieren“, meint Schauspielerin Hanna Blüm alias Simson trocken.
Denn am 27. April 2024 werden an der Stelle, wo nun der Stuhl liegt, Zuschauer:innen sitzen, die der Uraufführung von „Gerichtet“ beiwohnen werden, dem Stück, das Regisseur Cornelius Heuten, seine Regieassistentin und vier Darstellerinnen gerade proben, während sich im Hintergrund bereits die Mitglieder der Band sammeln, die das Stück mit Musik und Songs begleiten werden. Um die große, aus zusammen geschobenen Tischen gebildete Fläche inmitten der Jugendkirche werden an drei Seiten die Stuhlreihen der Zuschauer:innen stehen, am Kopfende derweil die Band und ein Chor musizieren und singen. An den Wänden flimmern Filme über Leinwände und Lichteffekte erhellen den Kirchenraum.
„Gerichtet“ geht auf eine sieben Jahre alte Idee von Cornelius Heuten zurück, die seit zwei Jahren von einem sich ständig vergrößernden Team aus Kunstschaffenden – inzwischen sind es insgesamt rund 100 Schauspieler:innen, Bühnenschaffende, Sänger:innen und Musiker:innen – realisiert wird. Die Musik komponierten Andreas Bichler und Jonas Nerb. Seit Dezember laufen die Proben, die sich nun dem Ende nähern – worüber alle froh sind, auch wenn manche schon jetzt der Wehmut darüber beschleicht, dass drei Wochen später „alles vorbei sein wird und wir uns wieder in alle Winde zerstreuen“. Die wievielte Probe es an diesem Abend ist, vermag keiner zu sagen; das es genügend sind, darin sind sich alle einig. Dabei steht der Lackmustest noch aus: Das Zusammenführen von Schauspiel, Band, Chor und Film in den Durchlaufproben.
„Ich hatte schon länger vor, ein Theaterstück mit Musik aufzuführen“, erklärt der aus Holzkirchen stammende Autor und Regisseur, der evangelische Theologie und Theaterwissenschaften studierte und derzeit an der Ruhr Universität Bochum Szenische Forschung lernt. 2019 inszenierte er in der Holzkirchner Kirche St. Josef mit der Pfarrjugend „Die Dornen Isais“. Aus dieser Zeit sind ihm einige seiner Schauspieler:innen treu geblieben und machen wieder mit. Es ist vertrautes Terrain, nur alles eine Nummer größer.
v.l.: Caroline Dauer, Caroline Schur, Hanna Blüm und Katharina Antonin bei der Probe
Doch so ambitioniert wie der organisatorische Aufwand ist der Inhalt des Stücks. Denn „Gerichtet“ basiert auf dem „Buch der Richter“ aus dem Alten Testament, einer Schrift, die laut Cornelius Heuten „in Teilen 4.000 Jahre alt ist“. Die fünf Episoden, die der Autor und Regisseur aus diesem Text gewonnen hat, „thematisieren sexualisierte Gewalt, Krieg, Folter, Mord, ritualisierte Gewalt und verwenden teilweise diskriminierende und sexistische Sprache“, wie es vorwarnend auf der Website von „Gerichtet“ heißt, wo ein Besuch erst ab 14 Jahren empfohlen wird. Und in der Tat gibt bereits die Probenszene, die auf den Kapiteln 13 bis 16 im „Buch der Richter“ basiert, davon eine gute Ahnung.
Noch brisanter könnte der Stoff allerdings aufgrund der aktuellen Lage im Nahen Osten wirken. Cornelius Heuten betont, dass er seine Bearbeitung von „Das Buch der Richter“ als eine Parabel und nicht als eine Stellungnahme zum Gaza-Konflikt versteht – zumal Idee und Konzeption wie erwähnt schon Jahre zurück reichen. Aber auch ihm ist klar, dass das Potential für Missverständnisse und Unverständnis besteht bei einer Geschichte, die auch von Krieg und Kriegsverbrechen – ganz explizit wird auch Gaza im Bibeltext erwähnt – auf dem Gebiet des heutigen Westjordanlandes, Gaza und Israel handelt.
„Die sich im Buch der Richter immer wiederholenden Geschichten haben mich fasziniert“, begründet der Regisseur seine Stoffwahl. „Ich las den Text, der mir zeigte, wie die Menschen Gesetzen gerecht werden wollen, die nicht mehr ihrer Lebensrealität entsprechen und gegen die sie in der Folge wieder und wieder verstoßen, was Gott missfällt, der dann sein eigenes Volk bestraft. Mir kam das Wort von Jesus in den Sinn, dass der Sabbat für den Menschen gemacht sei, nicht der Mensch für den Sabbat.“
„Gerichtet“ ist ein Kooperationsprojekt des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend und der Erzdiözese München und Freising, die es mit einem fünfstelligen Betrag unterstützt, gefördert zudem vom Bezirk Oberbayern und dem Bezirksjugendring Oberbayern. Dennoch geht es nicht ohne ehrenamtliches Engagement. „Mehr als 90 Prozent unserer Leute machen das in ihrer Freizeit, haben sich teilweise unbezahlten Urlaub genommen und hängen sich mit viel Zeit und Leidenschaft rein“, berichtet Cornelius Heuten. „Über die Zeit haben wir uns noch besser kennen gelernt, neue Freundschaften sind entstanden.“
Hanna Blüm ist noch länger ein Teil der Truppe, stand schon vor fünf Jahren bei „Die Dornen Isaias“ für Cornelius Heuten auf der Bühne und ist wie die meisten der anderen Darstellerinnen und Darsteller bei Ministrant:innen und Pfadfinder:innen und in der Katholischen Jugendarbeit aktiv gewesen. „Die Proben sind ein intensiver und zeitaufwendiger Prozess, aber auch ein sehr schöner, weil wir als Gruppe immer mehr zusammen gewachsen sind.“ Für die Studentin hat „Gerichtet“ die aktuellen Geschehnisse rund um Israel „nachvollziehbarer“ gemacht: „Das Stück ermöglicht einen anderen Blickwinkel, regt zum Nachdenken an und zeigt, wie weit der Grundkonflikt in die Geschichte zurück reicht.“
Hanna Blüm in der Rolle des Simson
Viele Schauspielerinnen und Schauspieler übernehmen in den Episoden des rund zweieinhalb Stunden langen Stücks mehrere Rollen. Caroline Dauer, die schon lange auf der Bühne steht und bereits in Holzkirchen bei Projekten von Cornelius Heuten mitwirkte, spielt zum Beispiel Jael, Abimelech und Shaya, die Mutter Simsons. „Das ist nicht ohne“, meint die Studentin, „aber es macht auch sehr viel Spaß. Ich kann mich in ganz unterschiedliche Richtungen ausprobieren. Die Mutter ist sehr liebevoll, Abimelech dagegen sehr hinterhältig.“
Hanna Blüm erzählt: „Wenn ich anderen von unserem Stück erzähle, sind die einfach nur beeindruckt von der Größe des Ganzen und von der Menge an Leuten, die mitmachen.“ Cornelius Heuten ist „sehr bewegt, wenn ich sehe, wie viele sich auf dieses Projekt eingelassen haben“. Er finde es total schön, wie alle bei den Proben mitgingen und dass man über alles reden und diskutieren könne – „hier haben einfach die richtigen Leute zueinander gefunden.“
Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) der Region München
Preysingstr. 85
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