Ein Ort, an dem sich festgefahrene Haltungen entkrampfen können, Unterschiede wie Gemeinsamkeiten erkannt werden und Konflikte nicht mehr zu Hass und gegenseitiger Dialogverweigerung führen: Das College of Interreligious Studies in München ermöglicht das Kennenlernen anderer Religionen und den interreligiösen Austausch.
Bewohnerinnen und Leiterin des College of Interreligious Studies (v.l.n.r.): Judy Tzyy-Yuh Mah, Maya Tohmaz und Melanie Fersi
Maya Tohmaz verstand zuerst gar nicht, warum der Benediktinerpater sie auf einen der zwölf Stühle am Altar bat. Von den christlichen Gründonnerstagsgottesdiensten hatte sie schon einmal gehört, aber noch nie zuvor einen gesehen. „Und dann kommt der Priester und wäscht mir die Füße - einer muslimischen Frau, in einer katholischen Kirche!“ Diese Geste werde sie nie vergessen: „So einen Moment gibt es nur einmal im Leben.“
Zufällig oder willkürlich war dieser Moment nicht. Die 29-jährige lebt im College of Interreligious Studies, untergebracht in einem Trakt des Benediktinerklosters Sankt Bonifaz mitten in München. Es ist ein ungewöhnliches Studentenwohnheim, das vor eineinhalb Jahren gegründet wurde und in dem zurzeit 14 junge Männer und Frauen aus zwölf Nationen und sechs unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen leben. Wer dort einen Platz bekommt, verpflichtet sich, einmal in der Woche an einem gemeinsamen Treffen teilzunehmen, Vorträge zu besuchen und in einem 100-stündigen Praktikum eine andere Religion kennen zu lernen.
Respekt und Religion
Die Bewohnerinnen und Bewohner können neben ihrem regulären Studium ein akademisch anerkanntes Zertifikat für interreligiöse Studien und nach zwei Jahren sogar einen Master of Religious Studies erwerben. Dabei kooperiert das College mit der Universität Salzburg.
Maya Tomaz kommt aus Syrien und studiert Bauingenieurswesen an der Technischen Universität München. Sie hat auch schon in anderen Wohnheimen gelebt, fühlte sich dort aber meistens recht allein, und einen Austausch über Gott und die Welt gab es schon gar nicht. Dabei hätte sie den anderen Studierenden schon gern ab und zu die Gretchenfrage gestellt: „Nun sag’, wie hälst du’s mit der Religion?“
In ihrer Herkunftsfamilie sei ihr immer ein bisschen vermittelt worden, dass Andersgläubige nicht so eng mit ihrer Religion verbunden seien wie Muslime. Wie ernst auch Christen aus unterschiedlichen Kirchen, Buddhisten oder Hinduisten ihren Glauben nehmen, erfährt sie im College for Interreligious Studies. Maya hat sich dafür entschieden, in Praxisbegegnungen vor allem das Christentum kennen zu lernen. Das Gründonnerstagserlebnis bewegt sie noch immer: „Ich denke, ein solcher Respekt und eine solche Demut sind ein großer menschlicher Fortschritt.“ Auch in ihr hat sich dadurch etwas verändert: Dass der Himmel nur Muslimen offensteht, wie sie das als Kind gehört hat, überzeugt sie jetzt nicht mehr.
Fußwaschung und fernöstliche Meditation
Judy Tzyy-Yuh Maa nickt, als sie das hört. Die 30-jährige Pädagogikstudentin aus Taiwan ist „really exited“, wirklich begeistert, diese religiöse Vielfalt kennen zu lernen. Als Buddhistin waren ihr das Christentum oder der Islam bisher weitgehend fremd. Nun erfährt sie von der Vielfalt auch innerhalb dieser Religionen. Ihrerseits kann sie von den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Buddhismus und Taoismus in ihrer Heimat erzählen. Kommt sie aus den Vorlesungen zurück ins College, dann sei das wie „nach Hause zu kommen“. Dort hört sie aus erster Hand, wie andere Bewohner fernöstliche Meditationstradition erleben, die sie in ihren Praktika kennen lernen.
Dominik Hohla interessiert sich dafür besonders. Bevor der 21-jährige Österreicher nach München gezogen ist, hat er seinen Zivildienst in Indien geleistet. Sein Vater arbeitet für das Erzbistum Salzburg, und ins College wollte Dominik schon allein deswegen, weil sich „meine ganze Familie mit dem interreligiösen Dialog beschäftigt“.
Unterschiedliche Meinungen aushalten
Viele Diskussionen führt der Student der Ingenieurswissenschaften mit seinen Mitbewohnern aus anderen christlichen Kirchen: „Schon da merken wir ja Unterschiede, was der jeweils andere unter Sünde versteht oder wie eng der Glaube sich an den Wortlaut der Bibel halten muss.“
Nach dem Massaker durch die Hamas im Oktober 2023 an israelischen Kindern, Frauen und Männern habe es aber auch ein „geladenes Diskussionsthema“ zwischen Christen und Muslimen gegeben. „Wir können uns darauf einigen, dass der Hamas-Terror furchtbar ist, halten aber auch das Ausmaß der israelischen Militärintervention für nicht angemessen“, sagt Dominik Hohla. Doch über die Entwicklung des Konflikts oder die Haltung der Politiker in Deutschland gebe es doch sehr unterschiedliche Meinungen. „Aber wir hören einander wenigstens zu und verstehen dadurch die Perspektive des Anderen besser, ohne sie gleich zu übernehmen.“ Ihm sei dabei klar geworden, „wie stark oft nationale und religiöse Identität miteinander verbunden sind“. Das College will hier zumindest Verständnis füreinander stiften, zum Zuhören ermutigen und einen Dialog ermöglichen.
„Wenn ich nach den Sternen greifen könnte, würde ich mir wünschen, dass wir hier lernen und üben, wie Frieden funktioniert und Botschafter in die Welt hinaussenden, die das im Kleinen weitertragen“, sagt Melanie Fersi. Die Tochter christlicher Eltern ist selbst Muslima und leitet das College, sorgt für das Programm und unterstützt die meist ausländischen Bewohner, wenn sie Sorgen haben, privat, im Studium oder mit Behörden. „Vor allem aber sind wir gemeinsam auf spiritueller Spurensuche, bei der jede und jeder sie oder er selbst sein darf und dabei wertgeschätzt wird.“
„Dritte Orte“ ermöglichen Dialog
Damit dieses interreligiöse Wohnheim und College im Kloster Sankt Bonifaz im Herbst 2022 Gestalt annehmen konnten, brauchte es Ausdauer. Die Idee eines solchen Hauses verfolgte Martin Rötting schon lange. In verschiedenen Studienaufenthalten seit den neunziger Jahren hat er das Leben in einem buddhistischen Zen-Kloster in Südkorea kenn gelernt. Beruflich arbeitete er zunächst als Gemeindereferent in der Erzdiözese München und Freising sowie in der katholischen Hochschulseelsorge.
Begleitend trieb Rötting die Gründung eines Instituts für interreligiöse und interkulturelle Begegnungen mit dem Namen OCCURSO voran, das sogenannte Interreligiöse Dialogbegleiter ausbildet. Heute ist er Professor für Religious Studies an der Paris Lodron Universität Salzburg. Zusammen mit dem Verein „Haus der Kulturen und Religionen“ hofft er in München eine feste Begegnungsstätte einrichten zu können. „Wir sehen es ja immer wieder, dass unterschiedliche Kulturen, politische Lager und eben auch Religionen so genannte dritte Orte brauchen, wie bei der Aussöhnungsarbeit in Südafrika“, erklärt Martin Rötting zwischen zwei Vorlesungen am Telefon.
Orte, an denen sich festgefahrene Haltungen entkrampfen können, Unterschiede wie Gemeinsamkeiten erkannt werden und Konflikte nicht mehr zu Hass und gegenseitiger Dialogverweigerung führen. Orte, die keiner der Beteiligten dominiert.
Münchner Erzbistum unterstützt
So wie im College of Interreligious Studies, das aus OCCURSO und dem Verein „Haus der Kulturen und Religionen“ hervor gegangen ist. Natürlich sei das mit „herausfordernden Lernprozessen“ verbunden, sagt Martin Rötting: „Wir hatten im vergangenen Jahr Menschen im College, deren Länder miteinander im Krieg lagen, da ist es schwierig, Respekt voreinander einzuüben.“ Er ist aber davon überzeugt, dass es dem College gelingt, „Menschen auszubilden, die Vermittlungskompetenzen in ihre Gesellschaft hineinbringen“.
Dass dieses College im Kloster Sankt Bonifaz seine Heimat gefunden hat, ist der Vermittlung des Erzbistums München und Freising zu verdanken. Dort ist Andreas Renz für den Dialog mit anderen Religionen zuständig. Er wusste, dass mit der Renovierung des Klosters eine Reihe von Zimmern zu vermieten waren und die Benediktiner sich nicht irgendwelche Bewohner wünschten. „Der interreligiöse Dialog gehört zum Selbstverständnis in unserem Erzbistum“, sagt Renz. Und mit Martin Rötting stimmt der promovierte Theologe überein, „dass es dafür Orte braucht“. Deshalb unterstütze die Erzdiözese auch das „Haus der Kulturen und Religionen“.
Mit dem College ist in München immerhin bereits ein solcher Ort des Lernens entstanden, an dem sich Religionen nicht als unerbittliche Konkurrenten begreifen. College-Leiterin Melanie Fersi erlebt zwischen den Bewohnern jedenfalls jeden Tag eine „ganz besondere Atmosphäre der Zuwendung“, in der sich Menschen aus unterschiedlichsten Weltteilen und Kulturen begegnen und vertrauen wollen: „Wenn ich beschreiben müsste, was hier am Wirken ist, kommt mir tatsächlich die christliche Vorstellung vom Heiligen Geist am nächsten.“ Der weht bekanntlich, wo er will, oft im Kleinen und unbemerkt und verändert dennoch die Menschen und ihre Welt.
Text: Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund, Januar 2024