Die heutige Lesung (Jes 50, 4-9a) ist dem zweiten Teil des Jesajabuches entnommen. Der zweite, oder Deuterojesaja, schreibt zur Zeit des Exils. Innerhalb seines Werkes finden sich vier Lieder, die sogenannten „Gottesknechtslieder“. Wer dieser Knecht Gottes ist, ist nicht ganz klar. Ist es der Prophet selbst – ist es eine fiktive Gestalt – ist er ein Bild für das Volk Israel, das geschunden und geschmäht in Babylon lebt?
Im 3. Gottesknechtslied (und das ist die heutige Lesung) heißt es:
„Jeden Morgen weckt er mein Ohr, damit ich höre, wie Schüler hören. Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet.“
Salomon wünscht sich als König ein „hörendes Herz“, damit er sein Volk gut regieren kann.
Auch das Zehntwort beginnt mit: „Höre Israel!“ (Dtn 5,1). Das wird bei uns oft nicht zitiert. Erst dann kommen die „Gebote“, erst dann kommt das Handeln.
So auch bei Jesaja: Als erstes weckt Gott das Ohr. Das, was Jesaja hört, ist nicht unbedingt angenehm. Er hört die Klagen der Müden, er hört Schmähungen und erfährt Gewalt. Aber im v 9 sagt er: „Gott wird mir helfen.“ So kann er die Müden stärken durch ein aufmunterndes Wort. Aus dem Hören, dem „bis auf den Grund hinhören“ entspringt das Handeln.
Welch große Bedeutung hat das Ohr also in der Heiligen Schrift und im Glauben! Welch große Bedeutung hat das Ohr in unserer jetzigen Zeit!
Es gibt zwar auch das andere: Dass man sich nicht mehr zuhört, etwa in einer schwierigen Beziehung; dass man lieber selber redet; dass Rechthaberei und Besserwisserei das Ohr verstopfen; dass Menschen bei der Klage sagen: „Ich kann es nicht mehr hören!“
Es gibt – und das ist auch eine meiner Seelsorgserfahrungen – den Satz: „Ich brauche dringend jemanden, der mir zuhört!“ Aber ich erfahre in dieser Zeit auch, wie viele Menschen einander zuhören auf eine neue, intensivere Weise. Es gibt längere Telefonate mit persönlicherem Inhalt. Es entsteht ein größerer Zusammenhalt in der Nachbarschaft, über Generationen hinweg, auch über größere Distanzen hinweg (wenn etwa die Kinder weiter weg wohnen). All das sind für mich Hoffnungszeichen, all das sind Anzeichen für die Präsenz Gottes in unserer Welt.
Segensgruß
Gott segne Ihre Ohren und öffne sie für Worte der Klage und des Schmerzes, der Hoffnung und der Zuversicht, der Liebe und der Verbundenheit.
Gott segne Ihre Ohren mit dem aufmunternden Wort, das ein anderer Ihnen sagt.
Gott segne Ihre Ohren und Ihr Herz mit jedem Menschen, der Ihnen zuhört.
Text: Michael Tress, www.senioren-muehldorf.de