Leben (dr)innen neu entdecken Impuls für Freitag, 10. April 2020 von Dr. Wolfgang Lehner

Der Tag des noch unbesiegten Todes
 
Als am 27. März 2020 Papst Franziskus den Segen „Urbi et orbi“ spendete, schwenkte die Fernsehkamera durch den leeren Petersdom und streifte dabei auch ein Bildnis, vor dem sonst täglich Tausende von Touristen und Pilgern stehen, ihr Handy zücken und ein rasches Foto machen. Doch nun ist sie alleine, die Pietà von Michelangelo. Mehr als nur eine banale Beobachtung, denn die Einsamkeit ist Bestandteil der Szene: Auch auf Golgatha war Maria alleine mit ihrem toten Sohn, nur ein paar Getreue und vielleicht ein paar römische Soldaten haben das Ereignis selbst gesehen, das Michelangelo für die Ewigkeit aus dem Marmor geschält hat: Maria nimmt den toten Jesus ein letztes Mal in den Schoß. Wo sein irdisches Leben begann, endet es nun, bei seiner Mutter.
Michelangelos Pietà im Petersdom
Foto: Juan M Romero / CC BY-SA, creativecommons.org
Die vielen süddeutschen Vesperbilder – Michelangelos Pietà ist eine der italienischen Renaissance zugehörige Verwandte – sind Karfreitagsbilder, Bilder eines Tages voller Trostlosigkeit und Trauer. Bilder von Tagen, wie wir sie derzeit auf fast gespenstische Weise erleben. Kreuze sind selten zu sehen, aber umso mehr Särge; keine Soldaten sind zu sehen, aber umso mehr Ärzte und Pfleger mit Vollverkleidung und Masken. Kein brutaler Tod, sondern ein bleicher und lautloser, mit dem wir es täglich zu tun haben.
 
Eigenartigerweise strahlen die Vesperbilder ebenso wie Michelangelos Pietà nicht Hoffnungslosigkeit aus, sondern eine Ahnung von etwas Größerem, das noch nicht da ist, das aber kommen wird. Entstanden sind die Bildnisse in der Pestzeit des 14. Jahrhunderts, das ähnlich wie wir heute mit einem unsichtbaren Sterben konfrontiert war. Das Hochgefühl des hohen Mittelalters, der Boom von Stadtgründungen und Universitäten, von Handel und Wissenschaft, das ungeheure Selbstbewusstsein des Menschen ist mit dem Ausbruch des schwarzen Todes mit einem Mal einer unheimlichen Resignation gewichen, die ganz Europa erfasst hat. Wiederholt sich Geschichte wirklich nicht? Die Menschen sehnten sich nach Hoffnung und fanden sie im Glauben: Ihr Blick auf Maria, die Jesus im Schoß trägt, hat Trost und Ermutigung geschenkt. Wirklich ist der Tod, sehr wirklich, aber nicht end-gültig.
 
Wer Michelangelos Pietà oder ein anderes Vesperbild nicht mit touristischer Neugierde konsumiert oder kunsthistorischer Überlegenheit seziert, sondern sich von ihm ansprechen lässt, kommt dem Geheimnis des Karfreitags auf die doppelte Spur: Der Tod ist eine Tatsache, die unsere Welt gerne verdrängt, die aber unser Leben prägt. Nicht nur in Gestalt der Coronatoten, sondern auch der Toten, die aufgrund von Krebs, Suizid, Verkehrsunfällen, von Krieg oder Bürgerkrieg, in Flüchtlingslagern oder aber auf natürliche Weise nach einem erfüllten Leben sterben. Viele Kreuze stehen neben dem einen Kreuz Jesu Christi. Das Schweigen des Karfreitags ist wirklich, echt und notwendig. Doch mit ihm endet die Geschichte nicht. Wer sich Zeit nimmt, das Gesicht von Michelangelos Maria genauer zu betrachten, wird da eine Überraschung erleben: Keine zerfurchte, zergrämte Frau ist zu sehen, sondern fast noch ein Kind, traurig im Ausdruck, aber gefasst und geradezu entspannt. Als ob sie eine Ahnung des Kommenden, des Größeren, des Neuen hätte. Kann der Tod eine Würde für sich beanspruchen? Wenn, dann hat Michelangelo sie ihm gegeben.
 
Im entvölkerten Petersdom wirkt Michelangelos Pietà noch eindrücklicher als sonst. Die Leere von St. Peter und die Einsamkeit von Golgotha lassen uns erahnen, was der Karfreitag wirklich ist: der Tag des noch unbesiegten Todes.

Text: Dr. Wolfgang Lehner

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