Kickern, lernen, trösten Schulen der Erzdiözese München und Freising betreuen ukrainische Kinder und Jugendliche

Sie kommen verstört aus einem Kriegsgebiet und leben seit Monaten in Ungewissheit: Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine bringen ihre Erfahrungen mit ins bayerische Klassenzimmer. Die Pater-Rupert-Meyer-Schulen in Pullach und die St. Irmengard-Schulen in Garmisch-Partenkirchen versuchen mit unterschiedlichen Voraussetzungen den jungen Menschen Halt zu geben.
Fröhlicher Moment in Krisenzeit: Helferin Olga Tempich, Sofiia, Lehrer Claus Obermüller und Jaroslava am Kicker in den Irmengrd-Schulen
Fröhlicher Moment in Krisenzeit: Vormittags kickern die geflüchteten Mädchen öfter in der Blau-Gelb-Gruppe der St.-Irmengard-Schulen.
Sofiia und Jaroslava bejubeln ein Tor. Fröhlich drehen sie an den Griffen des Kickers der in einem Freizeit- und Lernraum der St. Irmengard-Schulen in Garmisch-Partenkirchen steht, zu der eine Realschule und ein Gymnasium gehören. „Als sie hierher gekommen sind, wollten sie überhaupt nichts machen, waren apathisch und traumatisiert“, sagt Olga Tempich.

Zusammen mit anderen Müttern kümmert sie sich vormittags um die rund 15 Schülerinnen, die seit März die Schule in Trägerschaft des Erzbistums München und Freising besuchen. Die gebürtige Litauerin spricht russisch und kann sich deshalb mit den Flüchtlingen verständigen. „Für Kinder und Jugendliche ist es besonders wichtig, eine Gemeinschaft zu haben.“ Diese Gemeinschaft versuchen die Irmengard-Schulen in der sogenannten Blau-Gelb-Gruppe zu bieten, die da gerade kickert.

Emotionale Unterstützung

Leitung und Lehrerschaft waren sich schnell einig, die aus der Ukraine geflohenen Mädchen nicht einfach auf die Klassen zu verteilen, wo der Unterricht außer in Sport, Kunst, Musik und Englisch wegen der Sprachbarriere an ihnen vorbeiläuft. Der Mathematik- und Religionslehrer Claus Obermüller übernahm den Auftrag, einen Plan zu entwickeln, um die Schülerinnen in ihrer schwierigen Lage zu begleiten. Eine eigene Klasse für sie kam nicht in Frage, „weil wir keine einzige Lehrkraft haben, die ukrainisch oder russisch kann“. Claus Obermüller war klar, dass die Schule Unterstützung suchen muss, „vor allem, um die Mädchen emotional aufzufangen“.
 
Basteln der ukrainischen Schülerinnen in den St. Irmengard-Schulen in Garmisch-Partenkirchen
Basteln in den St.-Irmengard-Schulen
Nach einem Aufruf bei den Eltern meldeten sich auf Anhieb eine Reihe selbst oft berufstätiger Mütter, von denen einige wie Olga Tempich russisch sprechen. Mittlerweile ist der Kreis auf neun Helferinnen angewachsen, darunter zwei geflüchtete Ukrainerinnen. Hinzu kommen zwei Sozialpädagoginnen der mit der Schule eng verbundene katholischen Jugendstelle am Ort und drei ehrenamtlich mitarbeitende Lehrer. „So können wir alle ukrainischen Schülerinnen jeden Vormittag für zwei Schulstunden aus dem normalen Unterricht herausnehmen. Ohne diesen Helferkreis ginge das nicht“, erklärt Claus Obermüller.

Unterricht in der Klasse als Fundament

Natürlich nähmen die Mädchen auch am Unterricht in ihrer Klasse teil: „Das ist ihre Basisstation für einen geregelten Tagesablauf und dort treffen sie auch mit deutschen Mitschülerinnen zusammen.“ In der von Claus Obermüller nach den ukrainischen Landesfarben benannten Blau-Gelb-Gruppe sind die Mädchen aber einmal am Tag unter sich, „wo sie sich gegenseitig stärken und miteinander kreativ sein können“. Sie tauschen sich untereinander aus, schütten manchmal ihr Herz gegenüber den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern aus, sie spielen, malen oder basteln. Sie vertiefen dort ihre Deutsch-Grundkenntnisse, lernen anhand eines Arbeitsheftes wenigstens die Begriffe für Zahlen, Farben oder Nahrungsmittel. Oder es gibt einfach eine Runde am Kicker, wo die Mädchen ganz unbeschwert wirken.

Bedrückende Kriegserfahrungen

Wie sehr die Mädchen aber der Krieg bedrückt, das hat Claus Obermüller bei einer Deutsch-Übung erfahren. Er schrieb den Satz „Ich fühle mich heute…“ an die Tafel. Dahinter sollten die Schülerinnen eine Zahl setzen: „1 bedeutete superschlecht, 10 sehr gut und dann sollten sie mit einfachen deutschen Worten oder Übersetzungen erklären, warum sie sich für diese oder jene Zahl entschieden hatten.“ Niemand wählte mehr als eine 3 oder 4 und die Mädchen erzählten dem Lehrer, dass sie erschöpft von den Ungewissheiten seien und die meisten schnell wieder nachhause wollten.

Die 13-jährige Sofiia, die jetzt das Kickern aufgehört hat, erklärt das sehr klar und schon in einem sehr flüssigen Deutsch: „Wir sehen jeden Tag die Bilder vom Krieg in der Ukraine, können nichts tun und sitzen selbst im sicheren Ausland.“ Und die 14-jährige Jaroslava ergänzt ebenfalls auf Deutsch: „Da fühlen wir uns sehr schlecht, sehr schlimm.“ Sie erzählen von Freunden und Bekannten ihrer Familien, die bei Bombenangriffen in Kiew ums Leben gekommen sind, berichten von Existenzängsten und Lebensmittelengpässen von denen sie aus ihrer Heimat erfahren.
 
Sebastian Schroth, stellvertretender Schulleiter an den Pater-Rupert-Meyer-Schulen in Pullach
Sebastian Schroth, stellvertretender Schulleiter an den Pater-Rupert-Meyer-Schulen im Klassenzimmer für die ukrainischen Kinder und Jugendlichen
Glücksfall Willkommenslehrkraft

Belastungen und Sorgen, die an der Pater Rupert-Meyer-Schule in Pullach von den ukrainischen Kindern und Jugendlichen auch im regulären Unterricht ausgesprochen werden können. Den koordiniert der stellvertretende Schulleiter Sebastian Schroth für die zurzeit 28 Schülerinnen und Schüler: „Wir konnten relativ schnell eine ukrainische Lehrerin als sogenannte Willkommenskraft einstellen, die Deutsch als Zweitsprache unterrichtet.“ Zuvor war es vor allem mit den kleineren Buben und Mädchen „fast nur möglich mit Gesten und Mimik zu kommunizieren, denn sie beherrschen noch kein Englisch“. An der ebenfalls vom Münchner Erzbistum getragenen Schule sind auch Dritt- und Viertklässler untergebracht, weil sie neben einer Realschule und einem Gymnasium eine Grundschule umfasst. Mittlerweile sind zwei weitere ukrainische Lehrkräfte hinzugekommen. Sie unterrichten die nach Pullach geflohenen Kinder und Jugendlichen in einer eigenen Klasse.

Vorbild in Völkerverständigung

Dort sind wöchentlich, je nach Alter, zehn bis zwölf Stunden Unterricht in Deutsch, Englisch und Mathematik angesetzt. Die übrige Schulzeit verbringen die ukrainischen Schülerinnen und Schüler in den deutschen Regelklassen. Teilweise haben sie gegenüber ihren deutschen Banknachbarn sogar Vorteile in Fächern wie Englisch und Mathematik, die in ihrem Heimatland besonders umfassend unterrichtet werden, berichtet der stellvertretende Schulleiter. Nachmittags nehmen sie an den unterschiedlichen Angeboten der Ganztagsschule teil. An der sind auch einige russischstämmige Schülerinnen und Schüler. Probleme oder gar Auseinandersetzungen mit den ukrainischen Kindern und Jugendlichen hat Sebastian Schroth bisher nie erlebt: „Im Gegenteil, die russischen Schüler können sich mit ihnen unterhalten und helfen ihnen sogar.“ In Sachen Völkerverständigung und Frieden sind sie offenbar deutlich weiter als viele Politiker.
 
Friedenswand in ukrainischen Farben mit Gebeten von Kindern und Jugendlichen an den Irmengard-Schulen
Friedenswand in ukrainischen Farben mit Gebeten von Kindern und Jugendlichen an den St.-Irmengard-Schulen
Neue Brückenklasse in Pullach

Durch ihre ukrainischen Kolleginnen kann die katholische Schule in Pullach ab September auch eine sogenannte Brückenklasse bilden: Dort sind wöchentlich zehn Stunden Deutschunterricht, vier Stunden Englisch und fünf Stunden Mathematik für die ukrainischen Schülerinnen und Schüler vorgesehen. „Die übrige Zeit sind sie dann wieder in ihren Regelklassen, wo sie feste Plätze haben“, erklärt der stellvertretende Schulleiter. Nach einem Jahr in der Brückenklasse sollen die Kinder und Jugendlichen dann fit für den üblichen deutschsprachigen Unterricht sein. Die meisten der ukrainischen Kinder und Jugendliche und ihre Eltern wollen diese Chance nutzen und zumindest bis zu einem Abschluss in Deutschland und vor allem an der Pater- Rupert-Meyer-Schule bleiben.

Rückkehr in die Heimat?

Für die Mädchen in Garmisch-Partenkirchen sehen die Perspektiven anders aus. Eine Willkommenskraft, auf die eine Brückenklasse hätte aufgebaut werden können, war für die St. Irmengard-Schulen trotz unermüdlicher Suche nicht zu finden. Nach den Sommerferien sind solche Brückenklassen an verschiedenen staatlichen Schulen in der Region vorgesehen. Die meisten ukrainischen Mädchen werden also dorthin wechseln müssen und sind traurig darüber, weil sie sich an die St. Irmengard-Schule gewöhnt haben und sich dort gut aufgehoben wissen. Und es verstärkt ihre und die Unsicherheit ihrer Eltern, ob sie in Deutschland bleiben oder so schnell wie möglich wieder in ihre Heimat zurückkehren sollen.

Jaroslava und Sofiia möchten unbedingt an den St. Irmengard-Schulen bleiben. In den Ferien wollen sie Deutsch pauken, damit sie dort im nächsten Schuljahr den regulären Unterricht bewältigen können. Die ehrenamtlichen Helfer der Blau-Gelb-Gruppe unterstützen sie dabei. Sie soll auch im nächsten Schuljahr erhalten bleiben: einmal pro Woche im vertrauten Raum und außerhalb des Unterrichts. Damit die Mädchen einen Treffpunkt haben, an dem sie kickern, miteinander reden und sich auch trösten können. „Wir möchten, dass der Krieg endlich aufhört“, sagen Sofiia und Jaroslava, als sie nach der Kicker-Runde zusammen mit den anderen Schülerinnen auf einem Sofa sitzen. Tränen steigen ihnen in die Augen, auch bei einigen anderen Mädchen, die diesen Satz genau verstanden haben, selbst wenn sie nicht so gut deutsch können.
 
Text: Alois Bierl, Chefreporter beim Sankt Michaelsbund, Juli 2022
 

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