Zeit hat man nicht, man nimmt sie sich? Ist der viel beklagte Zeitstress also bloß eine Frage der Einstellung, eine Luxussorge? Nein, sagt Nadine Schöneck-Voß: Chronisches Getriebenheitsempfinden prägt den Alltag vieler Menschen, besonders von Alleinerziehenden, und bedroht ihre Lebensqualität.
Keine Zeit! Vor allem erwerbstätige Mütter leiden unter Stress. Ihre Zeitnot ist mehr als ein lästiges Gefühl. Sie ist Realität und prägt den Familienalltag.
Dass Zeit oder genauer: Lebenszeit höchst vergänglich ist, begriff ich so richtig erstmals bei einem Auslandsstudienjahr in den USA. Während meiner ersten Studienjahre in Bochum hatte ich weitgehend glücklich in den Tag hineingelebt. Doch schon gleich nach der Ankunft in Austin/Texas wurde mir bewusst: Ich werde nur einmal hier sein, jedenfalls als Studentin. Ich erinnerte mich an die Inschrift auf der Turmspitze des Neuwieder Gymnasiums, das ich als Schülerin besuchte: „Nutze die Zeit.“ Dieses Zitat wurde zum Leitspruch für mich in Texas: Nutze die Zeit, Nadine! Dieser Imperativ begründete mein Bemühen, möglichst jede denkbare Erfahrung „mitzunehmen“. Doch der Beschleunigungs- und Zeitverdichtungsdruck, der mein Jahr in Texas prägte, hatte auch seinen Preis: chronisches Getriebenheitsempfinden nämlich. Und ein Jahr ist offensichtlich lang genug, um eine bestimmte Haltung zur Zeit nachhaltig zu verinnerlichen. Denn meine ursprüngliche Vorstellung, mit Rückkehr in mein beschauliches Bochumer Studentinnenleben auch in alte Zeit-Muster zurückzukehren, erwies sich als frommer Wunsch. Es gab kein Zurück mehr. Bis heute lebe ich ziemlich beschleunigt und getrieben.
Und damit bin ich nicht allein. Empirische Befunde sprechen eine eindeutige Sprache. Schon 2003 gaben bei einer repräsentativen Telefonbefragung 83 von 100 Frauen und Männern an, sich tendenziell „immer sehr beschäftigt“ zu fühlen; 43 von 100 sagten sogar, sie fühlten sich tendenziell „oft unter Zeitdruck und getrieben“. Seitdem hat das Thema „Zeit“ immer mehr an individueller wie auch an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen. „Zeit“ gilt vielen als unsere kostbarste Ressource – je nach Lebensumständen und -alter. Ältere Menschen nennen meist „Gesundheit“ als wichtigstes Gut, junge Studierende „Geld“; Erwerbstätige zwischen 20 und 50 Jahren, deren Lebensphase oft als die „rush hour of life“ bezeichnet wird, betrachten hingegen meist die Zeit als teuerste Ressource. Kein Wunder – was im Alltag häufig als Mangel empfunden wird, erscheint uns kostbarer und begehrenswerter als das, worüber wir zur Genüge verfügen.
Zeitnot als Statussymbol
Zeitstress zu erleben mag zu einem gewissen Grad auch kulturell bedingt sein. Denn kommunizierte Zeitknappheit – „Keine Zeit, tut mir leid!“ – dient hier und da als eine Art immaterielles Statussymbol: Wer zugibt, viel Zeit zu haben, macht sich in unserer von Schnelllebigkeit und Eile geprägten Gesellschaft rasch verdächtig. Dass so viel über Zeitstress gesprochen wird, lässt sich jedoch durch diese „soziale Erwünschtheit“ allein nicht erklären – es spiegelt tatsächlich das Erleben und Empfinden vieler Menschen.
Was sind die Ursachen dafür?
1. Viele Erwerbstätige trennen bemerkenswert deutlich zwischen Arbeitszeit und privater Zeit. „Private Zeit“ steht zunächst für „Nicht-Arbeit“. Aber auch jenseits der bezahlten Erwerbsarbeit gibt es Verpflichtungen: Hausarbeit, Kinderbetreuung, die Pflege von Angehörigen, Ehrenämter ... Auch das sind Pflichtzeiten. „Private Zeit“ ist also nicht zwangsläufig wirklich frei verfügbare Zeit, sondern lediglich Zeit, die frei von (bezahlter) Berufsarbeit ist. Die „echte“ Freizeit, in der wir wirklich tun können, was wir wollen, ist nur ein Teil davon. Je weniger frei verfügbare Zeit von der „privaten“ übrigbleibt, desto mehr droht Zeitstress; das bekommen besonders Eltern mit betreuungsbedürftigen Kindern und Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen zu spüren.
2. Die Logik der Erwerbsarbeit, deren Leitnorm ein Zeitnutzungsimperativ ist („Mach’ möglichst viel aus deiner Zeit!“), sickert auch in unser Privatleben. Die Möglichkeitsüberschüsse unserer Zeit und das damit verbundene Opportunitätskostendenken („Was hätte ich mit meiner Freizeit noch – anderes – anfangen können?“) verschärfen diesen mächtigen Einfluss noch. Die Zeit stellt bei Fragen nach der richtigen Entscheidungs- und Handlungsoption fast immer das Nadelöhr dar.
3. Das Spannungsverhältnis von Arbeit und Privatleben wird ganz wesentlich bestimmt durch die verschiedenen sozialen Rollen, die wir in diesen beiden Bereichen des Lebens ausfüllen. Wir gehen nicht nur einem Beruf nach, sondern wir sind auch LebenspartnerInnen, Väter, Mütter, Töchter, Söhne, im Kirchenchor, in Vereinen, vielleicht auch politisch oder bürgerschaftlich engagiert. Wir sind also eingebunden in eine Vielzahl verschiedener (Teil-)Welten mit sich überschneidenden oder gar widersprüchlichen Zeitansprüchen. Mit der Zahl dieser unterschiedlichen Rollenanforderungen steigt unser Gefühl von Zeitknappheit – wir verfügen eben nur über ein festes Zeitkontingent von 1.440 Minuten pro Tag. Zeitkonflikte, die oft auch Rollenkonflikte sind, entstehen vor allem an den Übergängen von einem Lebensbereich zu anderen, denn sie erfordern oft Tempowechsel: Während im Beruf zeitliche Effizienz, kurz: Tempo, Tempo gefordert ist, erfordert das Familienleben Entschleunigung. Hier sollen Mama und Papa ganz entspannt Zeit haben für die Kinder, die Partnerin oder den Partner – und für sich selbst.
4. Die Moderne ermöglicht zwar durch technischen Fortschritt enorme Geschwindigkeitssteigerungen. Die ursprünglich befreiende und befähigende Wirkung dieser Beschleunigung droht aber, so der Soziologe Hartmut Rosa, in der Spätmoderne in ihr Gegenteil umzuschlagen. Seiner Beschleunigungsthese zufolge haben wir immer weniger Zeit, obwohl wir immer mehr Zeit gewinnen. Rosa erklärt es damit, dass die Zunahme unserer Aktivitäten die technologisch ermöglichte Beschleunigung mehr als wettmacht. Ein kleines Alltagsbeispiel: Die Kommunikation per Email funktioniert zwar wesentlich schneller als die postalische; doch die heute übliche, sehr hohe Kommunikationsintensität überkompensiert diesen zeitlichen Einspareffekt. Im Ergebnis investieren wir heute mehr Zeit in schriftliche Kommunikation – und Zeit wird uns dadurch knapper. In besonderer Weise gilt das auch für Instant-Messaging-Dienste, die rasend schnell, aber oft extrem dicht viel Zeit „fressen“.
5. Unser Alltag ist stark zeitbestimmt. Diese „Verzeitlichung“ wird besonders augenfällig beim Blick auf die beiden Organisationshilfen Uhren und Kalender. Uhren repräsentieren eine von Menschen geschaffene Ordnung; was sie anzeigen, wird von allen verstanden und selten hinterfragt. Ihr verbreiteter Einsatz ermöglicht uns zeitliche Absprachen mit den Menschen, die uns umgeben. Aber: Uhren machen auch abhängig. Im ungünstigsten Fall entmündigen sie uns, indem wir nicht mehr auf unsere eigenen Bedürfnisse wie etwa individuelle Tagesleistungskurven Rücksicht nehmen, sondern nur noch auf das, was die Uhr uns anzeigt. Auch für Kalender hat sich ein gesellschaftlicher Bedarf entwickelt; wie Uhren dienen sie der sozialen Synchronisation und Koordination. Charakteristisch ist für die Gegenwartsgesellschaft jedoch eine enorme Expansion kalendarisch durchgeplanter Zukunftszeiträume; die (Ver-)Planungen und inhaltlichen Füllungen im Kalender reichen immer weiter in die Zukunft und werden bei vielen immer dichter.
Frauen fühlen sich gestresster Das Ausmaß des erlebten Zeitdrucks steigt unter Frauen wie unter Männern mit einer Vollzeiterwerbstätigkeit an – und nochmals, wenn Kinder unter zehn Jahren im gemeinsamen Haushalt leben. Allerdings spüren Frauen insgesamt mehr Zeitdruck; Erklärungen dafür findet die Soziologie in Einflussfaktoren wie Sozialisation, Rollenerwartungen, Schichtzugehörigkeit und den konkreten Lebenszusammenhängen.
Die Sozialisation: Frauen werden frühzeitig darauf trainiert, ihr Leben „fürsorgeorientiert“ in Verbindung mit dem Leben ihnen nahestehender Menschen zu betrachten und zu planen – die Lebenslaufsoziologie hat dafür den Ausdruck „linked lives“, also „verbundene Leben“, geprägt. Lange Zeit wurde jungen Frauen eine „Hausfrauenkarriere“ nahegelegt, und bis heute erledigen Frauen, auch wenn sie in Teil- oder gar Vollzeit berufstätig sind, den größten Anteil der Aufgaben in Haushalt und Erziehung. Damit setzen sie sich hochgradig belastenden „Doppelschichten“ aus.
Die Schichtzugehörigkeit: Höherqualifizierte Frauen in gehobenen Berufspositionen und mit überdurchschnittlichem Einkommen leiden zwar in besonderem Maß unter Zeitstress. Dank ihrer ökonomisch privilegierten Situation können sie sich aber eher Zeit durch „haushaltsnahe Dienstleistungen“ erkaufen. Doppelt benachteiligt sind dagegen viele (erwerbstätige) Alleinerziehende – im häufigsten Fall also Mütter. Ihnen fehlt es oft an Zeit und an Geld.
Der konkrete Lebenszusammenhang: Von ihm dürfte die stärkste Wirkung auf das Zeitstresserleben von Frauen ausgehen. Insbesondere jüngere Kinder tragen dazu bei; wenn (erwerbstätige) Frauen zusätzlich die Pflege von Nahestehenden übernehmen, steigt ihre zeitliche Belastung nochmals deutlich an. Eine entscheidende Rolle spielen dabei partnerschaftliche Aushandlungen über die Frage, wer wie viel Zeit in Haus- und Familienarbeit investiert. Sie folgen, sobald das erste Kind geboren wird, häufig einer Logik, deren Ergebnis die Soziologie als „Retraditionalisierung der Geschlechterrollenerwartungen“ beschreibt:
- Der Partner, der weniger Zeit für bezahlte Arbeit aufbringt, übernimmt mehr unbezahlte Arbeit.
- Der Partner, der weniger zum Haushaltseinkommen beiträgt, übernimmt mehr Haus- und Familienarbeiten.
- Haus- und Familienarbeiten übernimmt am besten, wer gemäß traditionellen Rollenzuschreibungen primär dafür zuständig sein sollte – also im Regelfall die Frau.
Speziell die Situation erwerbstätiger Mütter macht deutlich, dass Zeitknappheit eben nicht nur ein „immaterielles Statussymbol“ ist, ein kulturelles Phänomen, das sich weite Teile der Gesellschaft bloß einbilden oder „einreden“. Zeitstress ist mehr als eine Luxussorge, und auch die verbreitete Frage, ob Geldsorgen nicht wesentlich gravierender seien als Zeitsorgen, führt in die Irre – zu-mal Geld- und Zeitsorgen nicht selten gepaart auftreten. Außerdem wird die Lebensqualität des ganzen Menschen ohne Zeitwohlstand entscheidend beeinträchtigt.
Dr. Nadine Schöneck-Voß ist Professorin für Soziologie und Empirische Sozialforschung an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach.