Die Mutter war feinfühlig und zurückhaltend, der Vater humorvoll und charmant. Im Alltag Nähe zu zeigen, sich zu berühren, war für beide selbstverständlich. Unser Autor versucht, in seiner Familie fortzusetzen, was er als Kind bei seinen Eltern als schön und richtig erlebte.
Der Liebe Raum und Zeit geben, damit sie bei uns wohnen kann. Im Familienalltag ist das oft gar nicht so einfach.
Meine früheste Erinnerung an Nähe und Intimität mit meinen Eltern führt mich zurück in ihr Doppel-Bett: Sonntagsmorgens, wenn sie einmal in der Woche etwas länger als sonst im Bett liegen bleiben durften, störten mein Bruder und ich ihre Ruhe durch einen Überfall. Wir sprangen in ihr Bett, tobten darin herum und verschwanden schließlich halbwegs erschöpft und gebändigt in den Armen der Eltern unter ihren Bettdecken. Dort kuschelten wir genussvoll noch eine Weile, bis sich einer der beiden an das Zubereiten des Frühstücks machte.
Gefühl von Geborgenheit
Ich habe meine Mutter als Kind und Jugendlicher immer als die verständnisvollere und feinfühligere Person erlebt. Ihr konnte ich aus der Schule erzählen, was mich bewegte, zu ihr konnte ich kommen, wenn ich Kummer oder Angst hatte. Sie nahm mich in den Arm und strich mir liebevoll über den Kopf. Das ließ mich ihre Nähe und Zärtlichkeit spüren, und ihr Verständnis für meine kleinen und großen Probleme verbinde ich bis heute mit dem Gefühl von frühester Geborgenheit.
Dennoch war meine Mutter kurioserweise vom Wesen her viel zurückhaltender als mein Vater, der spontan, witzig und charmant sein konnte und auf den ersten Blick viel Wärme und auch Herzlichkeit ausstrahlte. Auch im fortgeschrittenen Alter hatte er immer noch etwas Lausbübisches an sich. Das machte es ihm leicht, mit anderen in Kontakt zu kommen; er hatte viele Freunde und war ständig auf Festen, Feiern und überall unterwegs, wo etwas los war.
Küsse, Umarmungen, Streicheln waren ganz normal
Als Kind ging ich mit meinen Wünschen immer zu meinem Vater, der das Geld stets locker sitzen hatte, auch für uns Kinder. Und doch habe ich zu ihm nie eine solche Nähe aufbauen können wie zu meiner Mutter. Ich erlebte ihn manchmal nah, aber oft auch oberflächlich: Er hörte nicht genau zu, vergaß Absprachen oder polterte sofort los, statt nachzufragen oder verstehen zu wollen. Bei ihm spürte ich nie die emotionale Sicherheit, wie ich sie bei meiner Mutter erleben durfte. Zärtlichkeit zeigt sich ja auch durch Zuhören und Eingehen auf die Gefühlslage des Gegenübers – und das waren nun einmal keine Stärken meines Vaters.
Untereinander tauschten meine Eltern ihre Zärtlichkeit in Gesten und Worten immer offen aus. Küsse, Umarmen, Streicheln oder Arm-in-Arm-Gehen und -Sitzen gehörten zur alltäglichen Gewohnheit. Sie sagten oft „Schatz“ zueinander; für uns Kinder waren all diese Zeichen von Nähe ganz selbstverständlich. Deutlich aktiver war dabei mein Vater; meine Mutter war zurückhaltender, eher die Empfangende. Dennoch hatte ich immer das Gefühl, dass sie es genoss, wenn mein Vater charmant um sie warb oder ihr mit Zärtlichkeit begegnete. Er hatte die Gabe, mit seinem zärtlichen Charme manche Missstimmung und manchen Streit zwischen den beiden zu entschärfen – aber er wusste auch genau darum und setzte dieses Talent vermutlich sehr bewusst ein, um ihrem Unmut über durchzechte Nächte mit Freunden und andere Eskapaden von vornherein die Spitze zu nehmen.
Der Stil in meinem Elternhaus hat mich geprägt
Natürlich hat mich dieser Stil meines Elternhauses im Umgang mit Nähe und Zärtlichkeit sehr geprägt. Und dass meine Frau und ich heute in unserer eigenen Familie genauso selbstverständlich Zärtlichkeit leben, auf dem Sofa kuscheln, uns in den Arm nehmen und küssen, empfinde ich als Fortsetzung dessen, was ich selbst bei meinen Eltern als schön und „richtig“ erleben durfte: der normale, alltägliche Ausdruck von Zärtlichkeit als lebendiger Beweis, dass wir zusammengehören, dass wir uns schätzen und lieben. Und es ist es wunderbar für mich, wenn meine 15-jährige pubertierende Tochter auf mich zukommt und sagt: „Papa, jetzt muss ich dich mal ganz fest drücken“ – was tatsächlich fast jeden Tag passiert. Und auch mein Sohn, mit 18 Jahren da schon etwas zurückhaltender, braucht das Gefühl, von uns in den Arm genommen zu werden – nur dass für ihn meine Frau erste Anlaufstelle ist.
Allerdings glaube ich: Ein Elternhaus, in dem Nähe und Zärtlichkeit spürbar und erlebbar waren, ist allein noch keine Garantie, dass sich das in der eigenen Familie genauso fortsetzen und leben lässt. Ich muss als Mann meinen eigenen Umgang damit finden, und ich denke, das geht nur mit einer Partnerin, die diesen Weg mitgeht. Dazu gehört das In-Worte-Fassen meiner eigenen Bedürfnisse und Wünsche genauso wie das Bescheidwissen über die ihren – nach Zärtlichkeit und Festhalten, aber auch nach Abstand und Loslassen.
Tägliche Entscheidung für die Liebe
Zärtlichkeit zu leben und dadurch Liebe und Zusammengehören tagtäglich zu verstärken, fällt nicht vom Himmel: Ich muss es wollen und dann auch tun, muss dieser Zärtlichkeit Raum und Zeit geben, damit sie bleiben und bei uns wohnen kann. Und da spüre ich oft die Grenzen unseres auseinanderdividierten Alltags durch verschiedene Berufe und verschiedene Anforderungen deutlich, denn dieser Raum für Nähe wird enger – auch schon bei den Kindern. Umso mehr sehe ich es als tägliche Entscheidung für meine Treue in der Beziehung und Rückbesinnung auf die Liebe.
Hans-Werner Steinmetz ist Sozialarbeiter und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Nürnberg.