Zwischen Wunsch und Wirklichkeit Wie sich Erwartungen von Eltern auf ihre Kinder auswirken

Gesundheit, Glück, eine gute Bildung – klar, das wünschen alle Eltern ihren Kindern. Und sonst? Es tut gut, sich ab und zu über die eigenen Erwartungen an die Entwicklung der Töchter und Söhne Rechenschaft zu geben, erklärt unser Autor Roman Nitsch. Sonst können vor allem die heimlichen zum Problem werden.
Vater und Sohn reparieren gemeinsam Motorrad
Wie der Vater so der Sohn? Nicht unbedingt. Wichtig ist, dass Eltern die Erwartungen an die Kinder immer wieder auf den Prüfstand stellen.
Wissen Sie, was Ihre Eltern von Ihnen erwartet haben? Welche Vorstellungen sie davon hatten, was für ein Mensch Sie werden, wie Sie Ihr Leben gestalten sollten? Vielleicht können Sie das klar sagen, weil Ihre Eltern das ganz offen ausgesprochen haben: dass Sie zum Beispiel ein bestimmtes schulisches Ziel erreichen oder das Familiengeschäft fortführen sollten. Vielleicht haben sie sogar Druck ausgeübt, um Sie dazu zu bringen. Oder haben Ihre Eltern sich in diesem Punkt zurückgenommen? Trotzdem bleibt bei vielen jungen Leuten und Erwachsenen ein Gefühl, dass gewisse Erwartungen im Raum standen oder noch stehen, die ihre Mütter und Väter eher subtil ausdrücken; manchmal deuten „nur“ ihre Reaktionen, ihr Stolz oder ihre Enttäuschung über Entscheidungen ihrer Töchter und Söhne vage darauf hin. Dazu gehört zum Beispiel oft die Erwartung, dass die „Kinder“ bald eine eigene Familie gründen und für Enkelkinder sorgen.
 
Und jetzt zu Ihnen: Welche Erwartungen haben Sie an Ihr Kind? Die erste steht schon auf vielen Glückwunschkarten zur Geburt: dass das Kind gesund aufwächst und die Familie glücklich wird. Vielleicht auch, dass es seine Talente entfalten kann und seinen Platz in dieser Welt findet. Eltern selbst nennen, nach ihren Erziehungszielen gefragt, am häufigsten gute Bildung, gutes Benehmen, Durchsetzungsfähigkeit, Hilfsbereitschaft, Toleranz. Allerdings weiß ich aus meiner Beratungsarbeit mit Eltern: Der verständliche Wunsch, dem Kind zu einer guten Bildung zu verhelfen, mündet oft in einen großen Druck, den die Eltern ihrem Kind und sich selbst machen …
 
Erwartungen geben auch Orientierung
Sind Erwartungen von Eltern an ihre Kinder also nicht nur Ansporn, sondern genauso oder vielleicht sogar noch mehr auch Belastung? Ich glaube nicht. Es gehört zu den Grundbedürfnissen von Kindern, von den Eltern Orientierung zu erfahren. Vom Baby-Alter an lernen sie am elterlichen Vorbild, die Welt zu verstehen, die Dinge des Lebens einzuordnen und zu bewerten. Das gehört zur normalen Welterkundung und gibt ihnen gleichzeitig ein Gefühl von Sicherheit. Genauso normal ist es, dass Eltern bestimmte Vorstellungen davon haben, wie ihre Kinder sich entwickeln sollen; ihre Erwartungen geben dem Leben der Kinder Richtung und Sinn. Viele Studien haben sogar gezeigt: Wenn Eltern Hoffnungen und Erwartungen mit ihren Kindern verbinden, werden ihre Töchter und Söhne tatsächlich erfolgreicher; zum Beispiel zeigen sie bessere Schulleistungen. Kein Wunder: Eltern, die viel von ihren Kindern erwarten, tendieren wahrscheinlich umso eher dazu, sie zu unterstützen und zu fördern.
 
Zum Problem werden die Erwartungen der Eltern erst, wenn sie unrealistisch hoch sind und sich mit den Möglichkeiten der Kinder nicht vereinbaren lassen; dann drohen sie die Entwicklung der Kinder sogar zu hemmen. Kinder haben ihre Grenzen, so wie wir Eltern unsere Grenzen haben.
 
Ganz offensichtlich ist das bei Kindern mit Teilleistungsstörungen oder Behinderungen. Es ist oft eine große Erleichterung für Eltern, wenn eine fachliche Diagnose die Last der Verantwortung auf den eigenen Schultern vermindert. Sie hilft auch, die richtigen Schritte zur Förderung zu ergreifen. Aber es ist eine Illusion, dass eine gute Förderung und die richtige Erziehung zwangsläufig das erwartete Kind produzieren. Jedes Kind bringt seine eigenen Anlagen und Möglichkeiten mit, die Eltern nur respektieren können; dabei bleibt es immer ein Balanceakt, die Erwartungen in jeder Entwicklungsphase so auszutarieren, dass das Kind weder unter- noch überfordert wird. Das gilt für gehandicapte Kinder genauso wie für alle anderen.
Tatsächlich gelingt dieser Balanceakt den meisten Eltern. Sie korrigieren ihre (erhöhten) Erwartungen aufgrund ihrer Beobachtungen und ihrer Erfahrungen mit den Kindern. Manchmal ist dieser Prozess mit Enttäuschung verbunden, in der Regel erzeugt er aber kein dauerhaftes Leid.
 
Wenn eigene Lebensaufgaben ungelöst sind
Anders, wenn sich hinter den Erwartungen von Eltern unbewusst ungelöste eigene Lebensaufgaben verbergen. Das kann dazu führen, dass sie starr an unrealistischen Vorstellungen festhalten und ihre Familie dadurch belasten.
 
Zum Beispiel Frau A. Sie quält sich mit Gewissensbissen; sie glaubt, dass sie nicht genügend für ihre Kinder da war, als sie noch klein waren. Jetzt, als ihre Tochter selbst ein Kind bekommt, fühlt sich die Oma herausgefordert, am Enkelkind alles gut zu machen, was sie an der eigenen Tochter versäumt zu haben glaubt. Sie projiziert ihr Idealbild von Erziehung auf die nächste Generation. Die Tochter nimmt die Hilfe der (Groß-)Mutter zu ihrer Entlastung zunächst gerne an, erlebt sich aber bald ständig von ihr kritisiert, entwertet und in eine Rivalitätsrolle gedrängt. Das Kind wiederum lässt sich mit der Zeit immer bereitwilliger von der Oma verwöhnen und verhält sich gegenüber der Mutter trotzig und respektlos.
 
Oder Familie B: Hier ist es der Vater, der verpassten Möglichkeiten nachtrauert. In seiner Schul- und Studentenzeit hatte er „brav“ seine Ziele verfolgt, um den Eltern nicht länger als nötig auf der Tasche zu liegen; allen Versuchungen, auch mal über die Stränge zu schlagen oder wie manche Gleichaltrige zu rebellieren, hatte er widerstanden. Heute spüren seine Kinder sehr genau, wie der Papa sie heimlich bewundert, wenn sie sich Dinge trauen, die er nie auszuprobieren wagte. Allerdings würde er das nie zugeben und seine geheimen Wünsche sogar nachdrücklich abstreiten. Kinder in solchen Situationen empfangen doppeldeutige Botschaften und sind in miteinander unvereinbaren Erwartungen gefangen. Ihre Entwicklungsaufgabe ist es, auf der Basis ihres Loyalitätsbandes zu den Eltern ihr eigenes Ich und ihren eigenen Lebensweg zu finden. Aber wie soll das gelingen, wenn die Botschaften der Eltern so widersprüchlich sind? In eine ähnliche Zwickmühle können Kinder auch geraten, wenn die Eltern sehr uneins sind in ihren Erwartungen.
 
Klettern? Saxophon? Alles ist möglich
Unerfüllte Wünsche und Träume aus der eigenen Jugend verraten auch Formulierungen wie „Wenn ich damals die Möglichkeit gehabt hätte …“ oder „Wenn meine Eltern sich nicht so stur gestellt hätten …“. Die gleiche Enttäuschung werden die Eltern dem eigenen Kind nicht zumuten! Ob Tennis oder Klettern, Saxophon oder Reiten – heute können viele Eltern dem eigenen Kind alles bieten, was es zur Erfüllung solcher Wüsche braucht. Vielleicht verstärken auch Familienmythen und Projektionen die Überzeugung, dem Kind mit der Anmeldung zur Musikschule oder zum Reitkurs den größten Gefallen zu tun: „Ganz der Opa!“ – aber muss der Sohn deshalb ein genauso sportlicher Draufgänger werden, wie es der Opa war, auch wenn er ihm vielleicht im Äußeren gleicht? Oder: „Uns ist das Musikalische in die Wiege gelegt.“ Auch wenn das für viele Familienmitgliedern über Generationen so war, muss das nicht zwangsläufig auch auf die eigene Tochter zutreffen. Die muss sich möglicherweise ganz schön quälen, um den Erwartungen der Eltern zu entsprechen und das Ständchen der Familie zu Opas 70. auf dem Klavier mehr schlecht als recht zu begleiten.
 
Also Vorsicht: Erwartungen, die aus der Familientradition und den eigenen Kindheits- und Jugenderfahrungen kommen, können sinnstiftend wirken, dem eigenen Nachwuchs eine Richtung geben und ein Ansporn sein – aber nur, wenn Mütter und Väter flexibel damit umgehen und gegebene Begrenzungen respektieren. Die Persönlichkeiten der Kinder und ihre Vorlieben entwickeln sich sehr individuell, und ihre Umwelt heute steuert dazu ganz andere Einflüsse bei und eröffnet andere Möglichkeiten als zu Zeiten ihrer Eltern und Großeltern. Gut deshalb, wenn Eltern sich ab und zu damit auseinandersetzen, was sie sich für ihre Kinder wünschen, woher diese Wünsche kommen und wie sie zu den Vorlieben und Fähigkeiten der Kinder passen. Umso besser gelingt es ihnen, eine gute Balance zwischen den eigenen Erwartungen und den Realitäten zu finden.
 
Klar: Eltern freuen sich, wenn ihre Kinder sich so entwickeln, wie sie sich das erhofft haben. Aber manchmal läuft die Entwicklung auch ganz anders. Manche Kinder rebellieren offen gegen das, was den Eltern wichtig und wertvoll ist; das hat mit der Suche der Kinder nach einer eigenen Identität zu tun, der zentralen Aufgabe des Jugendalters. Väter und Mütter brauchen in dieser Phase vor allem starke Nerven. Dazu verhelfen kann das Vertrauen, dass das eigene vorgelebte Vorbild auf die Dauer wirkmächtiger ist als alles andere. Manche Kinder stellen dieses Vertrauen freilich auf eine harte Probe: Der Sohn hängt mit einer rechten, ausländerfeindlichen Clique ab, die Tochter kifft und schluckt dubiose Muntermacher, um die Nächte in der Disco durchtanzen zu können, Schularbeiten, Körperhygiene und Ernährung werden lustlos vernachlässigt … In derart harten Fällen kann die fachliche Erfahrung einer Beratungsstelle Eltern helfen, die Verbindung zu den Kindern trotz allem nicht abreißen zu lassen.
 
Härtetests für das Vertrauen
Aber auch jenseits des Jugendalters können Krisen das Verhältnis von Eltern zu ihren erwachsenen Kindern gefährden. Was passiert, wenn der Sohn das Studium abbricht und vorübergehend (?) Jobs annimmt, die die Eltern wenig sinnvoll finden? Wenn die Tochter sich an einen Partner bindet, der ihren Wertvorstellungen ganz und gar nicht entspricht? Oft endet dann jedes Telefongespräch und jedes Zusammentreffen im Streit; die Kontakte werden seltener, brechen vielleicht sogar ganz ab. Solche Krisen, die durch das Anders-Sein von Kindern ausgelöst werden, geben Anlass zu einer kritischen Prüfung, ob die eigenen Erwartungen den Möglichkeiten und Grenzen der Kinder tatsächlich gerecht werden.
 
Damit der Brückenschlag über die Verschiedenheit hinweg gelingt, brauchen Eltern erstens die Bereitschaft zu akzeptieren, dass jedes erwachsene „Kind“ seine eigene Persönlichkeit hat und seinen eigenen, dazu passenden Lebensstil finden muss, zweitens eine Grund-Zufriedenheit mit der eigenen Lebensgestaltung, die sich durch das „andere Leben“ nicht grundsätzlich in Frage gestellt fühlt, und drittens die Zuversicht, dass es eine liebevolle Beziehung zwischen Eltern und Kind trotz aller Verschiedenheit gab und prinzipiell weiter gibt.
 
Roman Nitsch ist Diplom-Psychologe und lebt in Ludwigshafen. Er leitete unter anderem viele Jahre lang die Erziehungsberatung der Caritas in Mannheim.


Ehe- und Familienpastoral
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Fachbereichsleiterin:
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Region Süd: Ulrich Englmaier, Martin Kienast
Region Nord: Cornelia Schmalzl-Saumweber

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