Zu meiner Grundschulzeit Ende der 70er-Jahre hing in unserer Küche ein einfacher Abreißkalender. Ein Blatt für jeden Tag, Sonn- und Feiertage durch rote Ziffern markiert. Die wenigen Termine, die die alltägliche Routine durchbrachen, zum Beispiel die Kontrolle beim Zahnarzt, notierten meine Eltern mit Bleistift auf dem entsprechenden Blatt. Terminkollisionen gab es bei uns kaum. Zugegeben, es gab damals schon Kinder mit mehr Terminen. Meine Handwerker-Familie war da eher sparsam, außerdem war fast alles zu Fuß erreichbar. Die Grundschule: fünf Minuten Fußweg. Spiel- und Bolzplatz: drei Minuten. Die Kindergruppe der Gemeinde: fünf Minuten. Auch die weiterführende Schule, die ich später besuchte, war gerade mal 15 Minuten Fußweg entfernt.
Heute, für meine eigenen Kinder, sieht das ganz anders aus. Damit wir den Überblick behalten, hat unser Kühlschrank eine weitere Aufgabe bekommen: Er trägt jetzt ein Familienkalender mit Spalten für alle wichtigen Termine jedes Familienmitglieds. So ein Kalender ist natürlich praktisch und sinnvoll. Denn ohne verlässliche Planung geht es nicht. Kinder brauchen Verlässlichkeit; sie ist das Metronom, das ihnen erlaubt, vertrauensvoll auf ihre Welt zuzugehen.
Wie ein leeres Regal Allerdings vermittelt der Spalten-Kalender noch einen anderen Eindruck, der mich nachdenklich macht. Er lässt die Zeit wie ein Regal erscheinen, das danach schreit, vollgestellt zu werden. Für die jüngeren Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter notieren wir Eltern die anstehenden Termine, Lydia (11) verzichtet (vorerst?) noch auf jeglichen Eintrag. Dagegen hat Judith, unsere Älteste (13), erkennbar Freude daran, möglichst viel einzutragen. Wir Eltern sind inzwischen auf die digitale Variante umgestiegen, jetzt können wir Termine „sauberer“, ohne Durchstreichen, von einem Tag zum anderen verschieben.
Der Abreißkalender von damals signalisierte: Die Zeit ist bereits gefüllt – Feste und Heiligengedenktage geben den Rhythmus vor. Der Online-Kalender dagegen gibt nichts vor: Er teilt die Zeit mathematisch korrekt in Teilstücke ein und ist ansonsten leer. Die Füllung überlässt er uns. Das kann auch unsicher machen. Der leere Kalender drängt uns, etwas aus unserer Zeit zu machen. „Verwirkliche Dich selbst!“, ist der Ruf, der mir unhörbar und doch unüberhörbar entgegenschallt. Dann kann ich versuchen, möglichst viel in meine Zeit zu packen – oder ich entziehe mich, weil sich kein sinnvolles Entscheidungskriterium anbietet. Alles scheint dann irgendwie langweilig.
Verantwortung übernehmen
Uns ist es wichtig, den Kindern Verantwortung für die eigene Zeit anzuvertrauen.
- Erstens: Wann werden Hausaufgaben gemacht, Instrumente geübt und andere Hobbys gepflegt? Das erfordert viel Geduld und beständiges Erinnern an die getroffenen Vereinbarungen.
- Zweitens: Auch bei unseren Kindern rangieren Internet und soziale Medien in der Beliebtheitsskala ganz oben. Zwar stehen sie nicht im Kalender, aber auch die Nutzung virtueller medialer Räume kostet reale Zeit. Das rechte Maß dafür braucht viel Übung.
- Drittens regen wir unsere Kinder immer wieder an, freie Zeiträume als Beziehungszeiten zu verstehen. „Heute habe ich Zeit für…“ meine Freundin, die Großeltern, natürlich auch für mich. Und vielleicht entwickeln sie in den „leeren“ Zeiten ja auch ein Gespür für besondere, offene Momente, entdecken darin ein geöffnetes Fenster für das Ungeplante, für die heilsame Unterbrechung – und für Gott.
- Viertens braucht Familie Schnittpunkte von Raum und Zeit, Unterbrechungen, die Gemeinschaft stiften. Auch wenn es uns im Alltag nicht immer gelingt, bleibt die Vereinbarung gemeinsamer Mahlzeiten und Unternehmungen für mich die Basis gemeinsamer familiärer Erfahrungen. Dieses Ringen darum ist manchmal mühsam, aber es lohnt sich.
Thomas Otten ist Vater von fünf Kinder und Pastoralreferent. Er lebt mit seiner Familie im Bergischen Land.