Wer ist der Mensch, den ich besuche? Demenz ist ein Abschied auf Raten. Für den Betroffenen und für diejenigen, die ihn begleiten

Populäre Romane oder Filme zum Thema Demenz kann Astrid Wohlfahrt nicht mehr lesen oder anschauen. Denn was sie selbst gerade erlebt, ist davon abgrundtief entfernt. Es ist weder lustig noch idyllisch. Die Krankheit macht ihr Angst – und ein schlechtes Gewissen.
Eine ältere und eine jüngere Frauen sitzen mit dem Rücken zum Betrachter auf einer Hängematte an einem See
Das Leben mit Demenz ist für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine große Herausforderung.
Sie lebt und lebt, ihr Herz schlägt gnadenlos. Wie oft habe ich mich schon verabschiedet, vor jeder Reise. Es ist alles gesagt, es gibt nichts mehr zu tun. Aber ihr Zustand ändert sich einfach nicht.
 
Ich möchte mit dem Thema endlich abschließen. Damit, dass sie stirbt, dass ich ihr in dieser Lebensphase nur noch zusehen kann, sie nicht mehr erreiche. Ich habe probiert, wie ich am besten damit umgehe: Oft hingehen, um sozusagen abzustumpfen? Funktioniert nicht. Selten hingehen, um Abstand zu bekommen? Das schlechte Gefühl bleibt, egal wie ich es mache. Ein Dilemma, aus dem ich keinen Ausweg sehe. Also gehe ich drei- bis viermal die Woche hin, höre mir eine Viertelstunde lang an, wie sie lallt, oder helfe ihr beim Essen, was immer unappetitlicher abläuft. Mein Gefühl ihr gegenüber ist völlig abgestumpft, neutralisiert. Seit November 2005 lebt meine Mutter jetzt in einem Pflegeheim, und in ihrer Gegenwart habe ich nur noch den Wunsch, die Zeit möge bitte schnell vergehen, und ich habe mal wieder meine Pflicht getan. Schön sind die Nachmittage, an denen ich einen triftigen Grund habe, nicht hin zu müssen.
 
Meine Mutter war eine lebenslustige und charakterlich starke Frau, die in schwierigen Situationen niemals die Hoffnung aufgab. „Man muss das Beste draus machen!“ war einer ihrer Wahlsprüche, und irgendwie ist ihr das auch immer gelungen. Das habe ich immer bewundert und hätte von dieser Einstellung manchmal gern ein wenig mehr. Sie hat mich, als meine Kinder klein waren, oft unterstützt; aber sie konnte sich auch „abgrenzen“, lange bevor es das Wort dafür gab. Ich musste mich deshalb nie zu übermäßiger Dankbarkeit verpflichtet fühlen. Bis auf Ausnahmen war ich gut abgenabelt.
 
Vor 15 Jahren zog meine Mutter dann zusammen mit ihrer Zwillingsschwester aus Süddeutschland in eine Wohnung in unserer Nähe. Hier und da brauchten die beiden Hilfe im Alltag. Das war zu leisten; es war zwar eine Belastung, aber sie drückte anfangs nicht oft. Dann bekam ihre Schwester einen Schlaganfall und kam in ein Pflegeheim; und von da an ging es auch mit meiner Mutter bergab.
 
Ich hatte keine Erklärung für ihr Verhalten
 
Sie zog in eine Wohnung neben uns, und ich war täglich mehrmals bei ihr, nur um zu hören, dass ich sie nie besuche. Wenn mein Mann und ich mal übers Wochenende wegfuhren, organisierte ich vorher einen Besuchsdienst organisiert und hinterließ Telefonnummern; Erholung hatte ich keine, nur die Sorge, ob zuhause alles gutging. Dann fing sie an, mir zu erzählen, wie krank sie sei. Und vor einem Kurzurlaub legte sie sich ins Bett und sagte, sie könne nicht mehr. Wir riefen den Notarzt, der sie für „körperlich völlig in Ordnung“ erklärte – und sie stand auf, zog sich wieder an und erklärte auf meine erstaunte Nachfrage: „Wenn der Doktor sagt, ich bin gesund…“ Ich war wütend und argwöhnte eine Methode, mich zuhause zu halten; heute denke ich, dass das schon Ausdruck ihrer Demenz war. Nach einem Jahr war ich so belastet, dass ich ein Magengeschwür befürchtete und glaubte, den Druck nicht mehr lange auszuhalten.
 
Eines Morgens fanden wir sie dehydriert in der Küche liegend; sie kam auch ins Heim, in das Zimmer ihrer Schwester, 500 Meter von unserer Wohnung entfernt. Wir besuchten sie oft und holten sie zu allen Familienfesten und oft an Wochenenden zu uns. Aber es wurde immer schwieriger; sie wurde mürrisch und zunehmend unzufrieden, nichts war ihr recht. Ich hatte keine Erklärung für ihr egoistisches Verhalten, bis die Diagnose „Demenz“ sich immer deutlicher abzeichnete. Im Nachhinein wurde mir klar, dass die Anzeichen schon viel früher da waren und ich sie nur nicht zu deuten wusste. Aber es hätte auch nichts geändert.
 
Ihre Welt wurde immer enger, ihr Verhalten immer unästhetischer - ausgerechnet sie, die ihr Leben lang so großen Wert auf den äußeren Schein legte! Wenn ich Bücher oder Filme über Demenz lese oder sehe, könnte ich ausrasten. Nein, es ist nicht lustig, egal was da steht oder der Regisseur da zeigt. Es ist Scheiße.
 
Sie ist tot und doch nicht tot
 
Ich bin ein Einzelkind und kann meine Eindrücke nicht mit Geschwistern teilen. Natürlich mit meinem Mann, Freundinnen oder mit meinen Kindern. Aber sie haben einfach mehr Distanz.
 
Das Sterben dauert heutzutage einfach zu lang. Ich habe mir immer vorgestellt, meine Mutter im Sterben zu begleiten, an ihrem Bett zu sitzen und mich mit Worten und Gesten von ihr zu verabschieden. Doch das ist vorbei; ich erreiche sie schon lange nicht mehr. Auch die eine oder andere Nacht hätte ich mir um die Ohren geschlagen. Aber so viele Jahre ohne Veränderung? Sie ist organisch gesund und ständig in Bewegung, wie so viele demente Menschen.
 
Nein, ich habe ihr Sterben nicht begleitet. Es hat irgendwann stattgefunden, ohne dass ich es gemerkt habe. Ihre Person hat sich unmerklich davongeschlichen. Ohne Abschied. Sie ist tot und doch nicht tot. Ich empfinde keine Trauer, und das ist grausam. Wenn sie noch ein paar Jahre lebt, und das ist durchaus möglich, kenne ich sie länger als hilflose Person denn als mitten im Leben stehend.
 
Manchmal habe ich Angst, dass ich vergesse, wer dieser Mensch einmal war, den ich fast täglich besuche. 
  

Astrid Wohlfahrt lebt mit ihrem Mann im Rheinland und ist Dozentin in der Erwachsenenbildung.

"Es ist, als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zusehen. Das Leben sickert Tropfen für Tropfen aus ihm heraus. Die Persönlichkeit sickert Tropfen für Tropfen aus der Person heraus. Noch ist das Gefühl, dass dies mein Vater ist, der Mann, der mitgeholfen hat, mich großzuziehen, intakt. Aber die Momente, in denen ich den Vater aus früheren Tagen nicht wieder erkenne, werden häufiger."

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Fachstelle Demenz – Unterstützung für Angehörige und Pflegepersonal

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