Eltern bleiben, wenn die Kinder ausziehen Wie Mütter und Väter ihre Rollen neu finden können

Eltern hören nicht auf, Eltern zu sein, auch wenn ihre Kinder selbstständig werden und aus dem Haus gehen. Aber ihre Rolle wandelt sich, erklärt Beate Dahmen; dazu gehört es, den Fokus des eigenen Lebens neu zu justieren. Davon profitiert gerade auch die Beziehung zu den erwachsenen Kindern.
 
Mittelaltes Paar kommuniziert per Videokonferenz mit Familienangehörigen
Neue Herausforderungen, neue Chancen: Wenn die Kinder aus dem Haus sind, verändert sich der Umgang mit ihnen und auch das Leben als Paar.
„Wir waren total traurig. Wenn wir nach Hause kamen, war es leer und still. Die Lücke war krass, und wir liefen herum wie Falschgeld.“
 
So beschreibt Birgit Schneider ihre Gefühle in den ersten Wochen, nachdem ihr Sohn Jonas ausgezogen war; die soziologische Fachwelt bezeichnet sie als ,,empty nest“-Erfahrung. Dabei, so ihr Mann Martin, hatte sich dieser Abschied doch lange abgezeichnet. „Es war ja nicht so, dass wir in den Jahren zuvor immer nur zusammengewesen wären. Jonas war mit seinen Freunden auf Fahrradtour, wir zu zweit mit Freunden im Urlaub. Nach dem Schulabschluss hatte Jonas eine große Reise unternommen, ein halbes Jahr als Backpacker in Neuseeland. Und in den Zeiten, in denen er eine Freundin hatte, hat er manchmal mehrmals die Woche bei ihr übernachtet. Wir hatten seit Jahren ein Kommen und Gehen, Abschiede und Rückkehr.“

Hinter der Trauer des Abschieds verbergen sich neue Optionen

Doch den Auszug ihres Sohns empfanden die Schneiders als endgültig und umso schwerer. Damals ahnten sie noch nicht, dass sich hinter der Trauer des Abschieds neue Optionen verbargen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mich schon einige Monate später einerseits riesig freute, wenn Jonas zu Besuch kam, dass wir aber andererseits, wenn er wieder abreiste, die Ruhe nach dem Sturm genießen konnten, ohne in ein Loch zu fallen“, sagt Birgit heute. „Und ich finde es wundervoll, mit meinem erwachsenen Sohn Gespräche zu führen über das Leben, so wie er es erlebt und erfährt, über das, was ihn im Beruf beschäftigt, über seine Freuden und seine Enttäuschungen, ohne dass ich mich als Vater verpflichtet fühle, ihm Ratschläge zu geben“, ergänzt Martin Schneider. „Da ist eine neue Freiheit in unserer Beziehung eingekehrt. Wir tauschen uns aus, interessieren uns für die Ansichten des Anderen, aber ich muss nicht mehr darauf achten, dass Jonas in die richtige Richtung geht.“
 
Jonas seinerseits kommt seinen Eltern (wieder) umso näher, je mehr sie ihre alte Rolle loslassen können. Manchmal genießt er es, „nach Hause“ zu kommen, sich von seiner Mutter mit seinem Lieblingsessen verwöhnen zu lassen und mit seinem Vater auf den Fußballplatz zu gehen. Und zuweilen sucht er ihren Rat bei wichtigen Entscheidungen. Umgekehrt legt er aber auch großen Wert darauf, dass seine Eltern ihn besuchen und sich einlassen auf die Welt, die jetzt seine neue Heimat ist – Menschen kennen lernen, die er mag, schöne Plätze bewundern oder Speisen probieren, die er neu für sich entdeckt hat.

Das Leben als Paar unter die Lupe nehmen
 

„Eltern sein hört ja nicht einfach auf“, resümieren die beiden Schneiders das erste Jahr nach Jonas’ Auszug. „Es verändert sich aber, so wie es sich eigentlich auch in all den Jahren zuvor immer wieder verändert hat. Manche süße Entwicklungsphase, die Jonas durchlebte, hätten wir am liebsten festgehalten. Aber unweigerlich wuchs er schon in die nächste hinein, und wir mussten immer wieder neu ausloten, was jetzt für uns als Eltern die passende Haltung dazu war.“ Manchmal, sagt Birgit, finde sie das Loslassen heute noch „extrem schwierig. Wenn ich weiß, dass es Jonas nicht gutgeht und er sich nicht meldet oder oder sogar das Gespräch wegdrückt, wenn wir uns mit ihm in Verbindung setzen wollen. Die Angstphantasien, die dann in mir aufsteigen, kann ich kaum aushalten.“ Zum Glück hole Martin sie dann ’runter: „Der Junge möchte erst mal eine Lösung ohne uns finden. Er wird sich schon an uns erinnern, bevor er verzweifelt.“
 
Das neue Gleichgewicht in der Eltern-Kind-Beziehung verdanken die Schneiders auch ihrer Bereitschaft, ihr Leben als Paar unter die Lupe zu nehmen. Was auch Jonas aufmerksam beobachtete: Wie viele junge Leute, die sich selbstständig machen, selbst für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse sorgen, nimmt er Vater und Mutter nicht länger vorrangig in der Elternrolle wahr, sondern zunehmend auch als eigenständige Persönlichkeiten und als Paar – durchaus auch in der Hoffnung, ein Modell für sich selbst zu finden: Wie geht das, ein erfülltes Leben zu haben? Was habt ihr als Paar gemeinsam? Was macht euch glücklich im Leben? Wie haltet ihr es mit der Life-Work-Balance? Wie viel Leichtigkeit und Lebendigkeit habt ihr euch bei allen Verpflichtungen des Alltags erhalten? Welchen Stellenwert haben für euch Freundschaften, soziale Kontakte und last not least: die Liebe?

Gelingt es, noch mehr miteinander erleben, als nur ein funktionierendes Team zu sein?

„Wir wussten, dass wir als Elternteam meist gut und verlässlich zusammengearbeitet haben, und das haben wir auch geschätzt. Trotzdem war der Rollenwechsel eine harte Nummer, eine Krise, in der unser ganzes bisheriges Leben in Frage stand“, erzählt Martin Schneider. „Manchmal saßen wir da und dachten: Und nun? Ist noch genügend Liebe da, um den Rest unseres Lebens miteinander zu verbringen? Können wir noch mehr miteinander erleben, als nur ein funktionierendes Team zu sein?“
 
Birgit und Martin Schneider sind zusammengeblieben. „Vielleicht hatten wir einfach Glück. In unserem Freundeskreis haben wir miterlebt, dass Paare in dieser Phase auseinandergingen, wenn einem der beiden ein Mann oder eine Frau begegnete, der oder die eine aufregendere oder harmonische Zukunft versprach“, überlegt Birgit. „Aber sicher hat es geholfen, dass wir, seitdem Jonas alleine zu Hause bleiben konnte, häufiger miteinander ausgegangen sind, mal ins Kino, mal ins Konzert… Einmal haben wir sogar einen Salsa-Tanzkurs mitgemacht.“

Spaß haben und Interesssen pflegen – alleine oder zu zweit

Spaß und lnteressen haben und pflegen, ist ein Schlüssel, der Eltern in der Loslösungsphase von Kindern hilft, den Fokus ihres Lebens neu zu justieren. Das gilt sowohl für gemeinsame Aktivitäten als Paar als auch für jeden der Partner selbst. Es ist die Zeit, sich an Träume zu erinnern, die man mal für sein Leben hatte. Was war mir/uns eigentlich einmal wichtig, bevor wir Kinder bekamen? Was wollte ich in meinem Leben eigentlich verwirklichen? Bietet das heute noch einen Anknüpfungspunkt? Kann ich jetzt die neuen Freiräume füllen mit einem neuen Anlauf in dieser Herzensangelegenheit? Vielleicht sind es aber ganz neue Themen, die sich anbieten.
 
Martin Schneider zum Beispiel spielt Saxofon; kürzlich gründete er mit Arbeitskollegen eine Jazzband. ,,Wenn er von den Proben nach Hause kommt, leuchten seine Augen“, erzählt Birgit. „Es tut ihm gut, sich mit der Musik und den Kollegen auszutoben. Und er ist stolz, dass er auf dem Saxofon solche Fortschritte macht.“ Und Martin selbst ergänzt: „Ja, es tut uns auch als Paar gut, wenn jeder den Dingen nachgeht, die ihm Freude machen und etwas bedeuten. Dann haben wir uns etwas zu erzählen, wenn wir nach Hause kommen, über den Organisationskram hinaus.“
 
Die Offenheit dafür, neu hinzuschauen auf den Partner und in einer „alten“ Beziehung neue Seiten aneinander zu entdecken, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Paaren ein neuer Aufbruch nach der Elternphase gelingt. Zumal damit die Bereitschaft einhergeht, einander aus dem eingespielten Rollengefüge Mutter/Vater zu entlassen – und das erleichtert auch die weitere Beziehung zu den Kindern. „Jonas merkt, dass in seiner Abwesenheit bei uns etwas anders geworden ist“, erzählen die Schneiders, „schon an ganz kleinen Dingen. Zum Beispiel hat er früher gerne in der Mitte zwischen uns gesessen oder beim Autofahren vorne auf dem Beifahrersitz. Jetzt fällt ihm auf, dass wir nicht mehr automatisch auseinanderrücken und ihm Platz machen, oder dass keiner mehr nach hinten auf den Rücksitz krabbelt, wenn wir ihn vom Bahnhof abholen. Erst mal stutzt er dann, aber es gefällt ihm wohl auch zu spüren, dass wir jetzt näher zusammen sind.“
 
 
Text: Beate Dahmen, Diplom-Sozial- und Religionspädagogin, Familientherapeutin und Leiterin der Lebensberatungsstelle des Bistums Trier in Simmern/Hunsrück

Titel neue gespräche 3/2019

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