Kann Erziehung demokratisch sein? Ja, sie kann, meint Kristina Tellkamp. Denn für die Familie gilt genauso wie für die Gesellschaft insgesamt: Es kommt auf einen fairen Austausch aller Beteiligten an. Wo eine oder einer nur auf ihren/seinen Vorteil bedacht ist, verlieren alle.
Diskussionen mit den heranwachsenden Kindern können Eltern den letzten Nerv rauben. Aber die Anstrengung lohnt sich!
Um es sofort klarzustellen: Es war keineswegs leicht. Bis zum heutigen Tag, da unsere Kinder 19 und 16 Jahre alt sind, durchlebe ich die Tücken dieses Ansatzes, auf den mein Mann und ich uns während der Schwangerschaft mit unserem Ältesten in vielen Gesprächen verständigt haben: Wir wollen unseren Kindern einen Rahmen stecken, in dem sie sich entwickeln und zu selbstständig denkenden und handelnden Menschen heranwachsen können, Menschen, die nicht nur auf ihr eigenes Wohl bedacht Entscheidungen treffen, sondern dabei auch ihr Umfeld im Blick haben. Das verstehen wir unter demokratischer Erziehung, und dazu stehen wir bis heute.
Unsere Kinder sollen sich also kritisch denkend durchs Leben bewegen – aber wenn ich das will, dann muss ich auch in Kauf nehmen, dass sie hinterfragen, widersprechen, in Opposition gehen. Das ist oft kein Spaß und alles andere als leicht zu ertragen. Im Gegenteil – Diskussionen, abgebrochene Gespräche, Versuche von Neuanfängen sind vorprogrammiert und fordern vor allem die Eltern heraus. Ich will den Kontakt zu meinen Kindern in keinem Fall abbrechen lassen; also muss ich, wie verzwickt die Situation auch sein mag, den Faden neu aufnehmen, den Kontakt neu knüpfen, nach neuen Wegen suchen. Ich bin in der Defensive, in der schwächeren Position, und das muss ich auch und gerade dann aushalten, wenn es schwierig wird und sogar wehtut, weil ich emotional getroffen, ja verletzt bin.
Zwischen Genervtsein und Bewunderung
Ich kann mich an Situationen erinnern, als mein Sohn noch ganz klein war. Ich sehe ihn vor mir stehen, mit seinem erhobenen Zeigefinger, einem leicht schräg gelegten Kopf und seinen großen Kulleraugen, immer wieder auf mich einredend: „Mama, nur ein Mal, nur noch ein Mal!“ Ich spüre noch genau das Gefühl, das mich damals erfasste, ein Gefühl zwischen Genervtsein und widerwilliger Bewunderung. Dieser kleine Wicht versuchte die Grenze, die ich ihm gesteckt hatte, zu seinen Gunsten zu verschieben. Manchmal war es putzig, und ich konnte nachgeben. Aber manchmal war damals schon etwas zu spüren von dem, womit ich bis heute zu kämpfen habe. Von seiner Unnachgiebigkeit, Hartnäckigkeit und Starrköpfigkeit, die auf einen Machtkampf hinausläuft. Je älter er wurde, desto mehr erkannte ich, dass ich nicht immer auf meiner eigenen Position beharren muss, sondern dass es manchmal geschickter und förderlicher für meine Beziehung zum Kind und seine positive Entwicklung ist, ein Stück weit nachzugeben und seinen Wünschen entgegenzukommen.
Bei unserem Streit über die Zeit am PC zum Beispiel wollte ich zunächst eine klare Lösung: zwei Stunden am Tag, dann macht der von meinem Mann installierte automatische Abschaltmodus Schluss … Schließlich habe ich mich ja als verantwortungsbewusste Mutter informiert, wie wichtig eine klare Zeitbegrenzung ist … Die Folge dieser strikten Linie waren endlose Diskussionen um die Einwände der Kinder: Was ist mit der Zeit, die ich für schulische Dinge am PC sitzen muss? Und wenn ich meiner Schwester am PC helfe – geht das von meiner oder von ihrer Zeit ab? Wie ist es mit dem Einschalten des PC vor dem Frühstück? Die Schule verlangt, dass wir uns auf dem elektronischen Stundenplan über mögliche Änderungen im Stundenplan informieren …
Beide Seiten müssen zum Kompromiss bereit sein
Am Ende musste ich einsehen, dass ich meinen Kindern vertrauen muss, wenn sie beteuern, mit dem PC verantwortungsvoll umzugehen. Ich habe mir ausbedungen, regelmäßig mit ihnen die Sinnhaftigkeit langer PC-Sitzungen zu diskutieren. Mich hat das zunächst viel Überwindung gekostet, im Laufe der Zeit habe ich dann aber tatsächlich erkannt, dass es recht gut klappt.
Das Ergebnis solcher Auseinandersetzungen empfand ich als besonders gelungen, wenn beide Seiten ein Stückchen ihrer Position aufgegeben hatten, aber keinen Gesichtsverlust hinnehmen mussten, wenn also ein Kompromiss im besten Sinne des Wortes gelungen war. Anders, wenn ein Kind (oder auch ein Elternteil!) über die Grenzen des gesteckten Rahmens hinausgeht, sie deutlich zu den eigenen Gunsten zu verschieben versucht und den Blick dafür verliert, was für die gesamte Familie tragbar ist. Dann wird es gefährlich und manchmal kaum auszuhalten. Dann muss die Familie als Ganzes darauf hinweisen, dass sie in Gefahr ist, dann muss auch mal die Schwester dem Bruder oder umgekehrt aufzeigen, als wie zerstörerisch sich der eigene Egoismus für die anderen erweist.
Zielführende Auseinandersetzung
Besonders deutlich wurde mir das kürzlich zu Weihnachten. Eher zufällig eröffnete mein Sohn mir kurz vor Heiligabend, dass er mehr oder weniger sofort nach der Bescherung zu seiner Freundin und keinesfalls mit uns in die Christmette gehen wolle. Der Knackpunkt für mich war dabei die Art und Weise, wie er mich, meinen Mann und meine Tochter vor vollendete Tatsachen stellte und sich weigerte, mit uns über die Gestaltung dieses Familientages zu reden, der für uns bis dahin immer sehr wichtig war. Zwei Tage lang ging er jedem Gespräch aus dem Weg; erst als ich es drastisch einforderte, ihm sein egoistisches Vorgehen vorhielt und ihn damit konfrontierte, die Bedürfnisse von uns anderen nicht einmal zur Kenntnis nehmen zu wollen, ließ er sich ansatzweise darauf ein. Schließlich wollte er diese Vorwürfe keinesfalls gelten lassen. Mich kostete das unendlich viel Kraft – zu erleben, wie das eigene Kind, das sehr einfühlsam handeln kann, plötzlich nur noch seine eigenen Bedürfnisse sieht und über alle anderen hinwegfegt. Hatte ich grundlegend etwas falsch gemacht? Noch viel mehr quälte mich die Überlegung: Verliere ich die Beziehung zu meinem Kind, wenn ich jetzt meine Bedürfnisse und Forderungen deutlich formuliere?
Nach meiner Überzeugung gilt für das Gelingen von Familie dasselbe wie für die Demokratie: Beides hängt vom fairen Austausch und von der zielführenden Auseinandersetzung mit verschiedenen Standpunkten ab. Wenn ein Familienmitglied oder eine Gruppierung nur auf den eigenen Vorteil, die eigene Macht bedacht agiert, verlieren alle. Nur durch sinnvoll getroffene Absprachen und Übereinkünfte, durch Kompromissbereitschaft ohne Selbstaufgabe auf allen Seiten kann Familie gelingen – und so auch zur Stärkung von Demokratie im gesellschaftlichen Rahmen beitragen.
Kristina Tellkamp ist Lehrerin und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Augsburg.