Die Zahl psychischer Erkrankungen ist in den letzten Jahren stark angestiegen. 2023 sollen laut eines Berichts der Deutscher Welle rund 31 Prozent aller Erwachsenen hierzulande darunter gelitten haben. Für die Betreffenden mit chronischem Verlauf und ihre Familien ist das nicht einfach. In der Erzdiözese gibt es eine Seelsorgestelle für sie. Und auch bei den Ambulanten Erziehungshilfen werden betroffene Eltern und deren Kinder beraten und begleitet.
Beistand geben: Besonders wichtig sind für psychisch kranke Menschen Familienangehörige oder Freunde, die sie nicht alleine lassen.
„Wer gerade einmal seit ein paar Tagen ein seelisches Tief hat, kommt eher nicht zu mir“, berichtet Josef Kafko. Der 62-jährige Psychologe, Religionspädagoge und Diakon hat vor zwei Jahren die Aufgabe übernommen,
psychisch kranke Menschen als Seelsorger im Erzbistum zu begleiten. Das Themenfeld psychischer Erkrankungen ist ihm jedoch schon länger vertraut, denn er hat früher bereits einen sozialpsychiatrischen Dienst des Caritasverbandes geleitet. „Zu mir kommen vor allem Menschen, die bereits seit längerem psychisch krank sind. Sie haben Aufs und Abs: Manchmal haben sie gute Zeiten, dann kann auch wieder ein Klinikaufenthalt nötig sein“, erklärt Josef Kafko.
Josef Kafko, Diakon und Diplompsychologe, ist Seelsorger für Menschen mit psychischer Erkrankung und deren Angehörige
45 Personen hat er im Verlauf dieses Jahres bisher begleitet. 15 sind aktuell bei ihm zum regelmäßigen Einzelgespräch. Darüber hinaus bietet er Gesprächsgruppen in Tageskliniken, dem Caritaszentrum Dachau sowie einer großen Einrichtung in Geretsried an. Außerdem ist er an einem Tag in der Woche Seelsorger im Bezirkskrankenhaus Haar. „Bei jüngeren Patient:innen oder auch beim medizinischen Personal ist es für mich ein Türöffner, dass ich auch Diplom-Psychologe bin. Darunter können sie sich etwas vorstellen. Wäre ich ‚nur‘ Diakon, kämen manche nicht in die Gesprächsgruppe.“
Dort stellen sich vor allem jüngere Menschen oft die Frage: Warum habe ausgerechnet ich diese Krankheit? „Wenn etwa ein junger Mann mit Schizophrenie merkt, dass er manche Ausbildungen nicht machen kann, vielleicht nie in seinem Wunschberuf arbeiten können wird, das Geld immer knapp sein dürfte, dann ist es für ihn nicht einfach, mit seiner Krankheit zurechtzukommen“, weiß Josef Kafko.
Herausfordernde Situation, auch für Angehörige
Auch für die Angehörigen psychisch kranker Menschen kann es sehr herausfordernd sein, mit der Situation umzugehen. Josef Kafko schildert die Lage einer Familie, in der die Mutter seit einigen Jahren an einer chronischen Depression erkrankt ist. Sie lebt mit ihrem Mann und den beiden gemeinsamen Kindern im Alter von vier und fünf Jahren zusammen. An manchen Tagen fällt es der Mutter schwer, überhaupt morgens aus dem Bett aufzustehen. Dann muss ihr Mann sich um die Kinder kümmern, sie in die Kita fahren, bevor er zur Arbeit weiterfährt, und sie anschließend wieder abholen. Das ist für den Partner nicht einfach, weil er sich zudem Sorgen macht, wie sich die Depression seiner Frau auswirkt, wenn sie allein zu Hause ist. Im Hintergrund schwebt auch die Angst davor, dass sie sich womöglich etwas antun könnte. Deshalb wird die Mutter demnächst mehrere Wochen in einer psychiatrischen Klinik verbringen.
Die Eltern haben das den Kindern folgendermaßen erklärt: „Die Mama kommt jetzt ins Krankenhaus, damit es ihr besser geht und sie wieder gesund wird.“ Dazu haben sie von anderen Personen berichtet, die die Kinder kennen und die auch schon im Krankenhaus waren. Die Eltern haben im Gespräch konsequent auf die Formulierung „Mama ist immer so traurig“ verzichtet, weil die Kinder sonst womöglich meinen könnten, dass sie „schuld“ an der Krankheit ihrer Mutter sind. Stattdessen haben die Eltern die Depression folgendermaßen beschrieben: „Mama hat eine Krankheit, die sie nicht mehr lachen lässt und die sie nicht mehr essen lässt.“ Und sie haben ihnen auch gesagt, dass sie als Kinder trotzdem spielen dürfen und ausgelassen und fröhlich sein sollen.
Kinder spüren, wenn etwas nicht stimmt
Nur wenige Betroffene wollen gegenüber der Öffentlichkeit über ihre psychische Erkrankung sprechen. Dass ein gebrochenes Bein operiert und dann einige Zeit lang geschont werden muss, versteht jeder. Aber bipolare Störungen, Depressionen oder Schizophrenie sind schwer zu begreifen. Manche Erkrankte möchten auch nicht über ihre Situation sprechen, weil sie befürchten, dass ihre Kinder deshalb gemobbt werden könnten.
Monika Kupski kennt solche Überlegungen. Die Sozialpädagogin B.A. leitet die Ambulanten Erziehungshilfen München-Moosach in Trägerschaft des Katholischen Jugendsozialwerks München. Sie und ihr Team begleiten auch Familien, in denen ein Elternteil an einer psychischen Erkrankung leidet. Der Fokus liegt dabei immer auf dem Kindeswohl. „Kinder spüren es, wenn etwas nicht stimmt, sogar dann, wenn sie noch ganz klein sind“, weiß Monika Kupski.
„Manche Kinder möchten helfen, bringen der kranken Mama ein Taschentuch oder ein Glas Saft. Sie kümmern sich, und dabei werden allmählich die Rollen vertauscht. Der Fachbegriff dafür lautet Parentifizierung. Und hier muss man im Sinn des Kindeswohls sehr aufmerksam sein, denn es ist nicht die Aufgabe von Kindern, die Rolle von Erwachsenen zu übernehmen“, betont Monika Kupski.
Sozialpädagogin Monika Kupski leitet die Ambulanten Erziehungshilfen München-Moosach.
Sie und ihre Kolleg:innen begleiten die Familien so lange, bis sie Fortschritte erkennen. Sie zeigen den Kindern, dass sie spielen und Spaß haben dürfen. Zugleich beraten sie die Eltern, wie sie sich im Blick auf die Kinder möglichst gut verhalten und wo sie Hilfe für sich finden können. Sie vermitteln auch Gruppenangebote für Eltern und Kinder oder für die Kinder allein.
Die Ambulante Erziehungshilfe ist ein Angebot, das auf Freiwilligkeit basiert. Die Vermittlung dorthin erfolgt durch das zuständige Sozialbürgerhaus in München oder das jeweilige Jugendamt in den Landkreisen Oberbayerns. Die Familie kann sich selbst an die zuständige Stelle wenden. Auch Kitas oder Schulen können dies in die Wege leiten. Im Sozialbürgerhaus beziehungsweise Jugendamt wird geprüft, welche Hilfe für die Familie geeignet ist.
„Wenn wir zu den Familien kommen, ist eine gute Beziehungsebene wichtig, damit die Eltern motiviert mitmachen zum Wohl der Kinder.“ Neben ambulanten Unterstützungsangeboten gibt es auch teilstationäre und stationäre Hilfen, je nach den Bedürfnissen der Kinder. „Ich kann nur alle Betroffenen ermutigen, sich möglichst frühzeitig helfen zu lassen. Das ist gut für die Person mit psychischer Erkrankung und auch für die ganze Familie“, so die Sozialpädagogin.
Treue und Verlässlichkeit
Josef Kafko ist als Seelsorger für die Erkrankten da. „Ich muss – anders als die Therapeuten – nichts ‚erreichen‘. Ich bin offen, höre zu und pflege ein ganz anderes Gesprächs-Setting“, berichtet der Diakon. So gibt es bei ihm grundsätzlich nicht die Therapiestunde von 45 Minuten Dauer, sondern er nimmt sich im Einzelgespräch 60 Minuten Zeit für die Menschen. Josef Kafko geht auch bei Bedarf zu den Betroffenen nach Hause oder mit ihnen in ein Café, wenn sie nicht zu ihm in den Besprechungsraum kommen können.
Manche seiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner halten trotz der Erkrankung an ihrer Beziehung zu Gott fest und besuchen auch Gottesdienste. Ihr Glaube trägt sie. „Besonders wichtig sind für sie auch die Beziehungen zu Menschen, die sie als psychisch Kranke nicht allein lassen, sondern als Familienangehörige oder Freunde weiter für sie da sind, selbst wenn das manchmal anstrengend sein kann“, so Diakon Kafko.
Text: Gabriele Riffert, freie Autorin, November 2024