Den Schmerz gemeinsam aushalten Da sein, unterstützen, zuhören: Primi Passi, die Akuthilfe für verwaiste Eltern feiert ihr 20-jähriges Bestehen

Der Tod des eigenen Kindes verändert das Leben von einer Sekunde auf die andere. Eltern und Geschwister stehen unter Schock, befinden sich in der größten Krisensituation ihres Lebens und fühlen sich in dieser Situation oft alleine gelassen und überfordert. Das Team der Akutbegleitung Primi Passi unterstützt betroffene Familien dabei, ihre Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen und ermutigt sie darin, ihren Weg zu finden, mit der Trauer umzugehen. 
 
Auf dem Foto ist ein Paar zu sehen. Es sitzt auf dem Bett, mit dem Rücken zur Kamera. Der Mann umarmt und tröstet die Frau.
Der Tod des eigenen Kindes verändert das Leben der Eltern von einer Sekunde zur anderen. Frühzeitige Unterstützung in dieser Krisensituation, wie Primi Passi sie bietet, ist enorm wichtig.
 
Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Zeit und Raum geraten aus den Fugen. Alles, was vorherrscht, ist Dunkelheit und erdrückende Stille. „In der Zeit, die eigentlich die schönste im Jahr sein sollte, haben wir das Schrecklichste erlebt, was Eltern erleben können. Im Winterurlaub in Südtirol mussten wir nach einem schweren Skiunfall unseren Maxi mit nur 15 Jahren ziehen lassen. Nach drei unbeschwerten Tagen passierte am vierten Tag dieser schreckliche Unfall, der uns von der einen auf die andere Sekunde unser Kind nahm. Dann kehrten wir zurück nach Hause, plötzlich nur noch zu dritt. Wir saßen in unserem Haus, ohne zu verstehen, was da passiert war“, schildert Karin G.* die ersten Tage um den Tod ihres Sohnes.
 
Nur wenige Stunden nach ihrer Rückkehr stellten Verwandte von Familie G. den Kontakt zum Verein Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister her. Die dortigen Mitarbeitenden der Akutbegleitung „Primi Passi. Erste Schritte“ waren sofort erreichbar – und noch am selben Tag war Freya von Stülpnagel bei der Familie vor Ort.
 
Auf dem Foto ist Freya von Stülpnagel zu sehen. Sie hat das Projekt Primi Passi initiert.
Freya von Stülpnagel (74), Initiatorin das Projekt Primi Passi, weiß aus eigener Erfahrung: "Stirbt das eigene Kind, gibt es nichts wegzutrösten."
Freya von Stülpnagel initiierte das kostenfreie Hilfsangebot im Jahr 2004. Die heute 74-Jährige weiß, was es bedeutet, ein Kind zu verlieren. 1998 nahm sich ihr damals 18-jähriger Sohn das Leben. „In dieser größten Krise und Schockstarre hat uns unser örtlicher Geistlicher, Pfarrer Stahlschmidt in Obermenzing, intensiv begleitet. Das hat uns gerettet.“ Freya von Stülpnagel möchte etwas von dem zurückgeben, was ihr zuteilwurde: eine kompetente, einfühlsame und respektvolle Begleitung für betroffene Eltern. Denn Klaus Günter Stahlschmidt stand nach dem Unglück einfach vor ihrer Tür und klingelte, setzte sich auf das Sofa und hörte zu. Zwei Stunden lang.

Distanz wahren

„Das Wichtigste ist, einfach nur da zu sein, den Schmerz mit auszuhalten – quasi als Klagemauer zu fungieren“, beschreibt Pfarrer Stahlschmidt die Aufgabe von Akutbegleiter:innen. Auch er hat die Erfahrung gemacht, dass trauernde Eltern am Dringendsten jemanden brauchen, vor dem sie alles sagen, herausschreien und weinen können. „Was ich aus meinem Innersten hinausrede, damit kann ich leben lernen“, davon ist Klaus Günter Stahlschmidt überzeugt. „Da muss man als Begleitung auch gefestigt sein und Distanz wahren. Das kostet Kraft, aber nur so kann man gut helfen.“

Mit Klaus Günter Stahlschmidt sprach Freya von Stülpnagel später auch über die Idee, in und um München eine niedrigschwellige und engmaschige Akutbegleitung anzubieten. Denn es gab zwar bis dato Angebote und Soforthilfen, etwa von Kriseninterventionsteams oder Notfallseelsorgern, doch jemanden, der adhoc nach Hause oder ins Krankenhaus kommt, mit dem die Betroffenen bei Bedarf telefonieren können, der bei der Durchführung einer Trauerfeier unterstützt, der da ist, nicht nur einige Stunden nach dem Tod des Kindes, sondern bis zu sechs Wochen nach dem traumatischen Ereignis, jemanden, der den Schmerz mit aushält, zuhört, gemeinsam schweigt, durch die Verzweiflung begleitet – und nicht versucht, Ratschläge zu geben oder gar zu trösten: den gab es nicht.
 
Bewusst vom Kind Abschied nehmen

Freya von Stülpnagel weiß: „Stirbt das eigene Kind, gibt es nichts wegzutrösten. Für die Eltern geht es darum, mit der Untröstlichkeit zu leben.“ Am Anfang geht es um das bloße Überleben, später darum, den Verlust des Kindes in das eigene Leben zu integrieren, um mit ihm weiterleben zu können. Das Team von Primi Passi versucht, zu ermutigen. Die Botschaft: „Vertrauen Sie Ihrer Kraft. Sie schaffen das! Schritt für Schritt.“ Wichtig für einen heilsamen Trauerprozess sei es, bewusst Abschied vom Kind zu nehmen, so von Stülpnagel. „Ich ermutige die Eltern immer, das Kind noch einmal zu sehen, es zu berühren, sich von ihm auch haptisch zu verabschieden.“

Und noch etwas ist von zentraler Bedeutung: ein gut funktionierendes soziales Netzwerk. „Wir Begleiter:innen versuchen, die betroffenen Eltern ein Stück weit zu stabilisieren und Verwandte, Nachbarn oder Freunde miteinzubeziehen. Wir bestärken sie, für die betroffenen Eltern und Geschwister da zu sein und die Trauer mit auszuhalten und nehmen ihnen die Angst davor, etwas falsch zu machen“, erklärt Freya von Stülpnagel.
 
Auf dem Foto ist ein Bub zu sehen. Er kniet mit einem Malerkittel am Boden und bemalt ein Kreuz.
Die Trauerfeier bewusst mitgestalten: Die Mitarbeitenden von Primi Passi haben die ganze Familie im Blick und unterstützen auch trauernde Geschwister.
Die Vorbereitung für das Projekt Primi Passi dauerte rund ein Jahr. Viele Fragen mussten geklärt werden: Wie baut man ein solches Projekt auf? Wer unterstützt bei der Finanzierung? Welche Aus- und Fortbildungen braucht es, um eine solch herausfordernde Arbeit gut leisten zu können? Als dann die gute Nachricht kam, dass das Bayerische Sozialministerium eine Anschubfinanzierung leisten würde, war die Freude groß. Zudem vermittelte das Ministerium eine wissenschaftliche Forschung seitens des Staatsinstituts für Familienforschung in Bamberg. Nun galt es, engagiertes ehrenamtliches Personal zu finden.

Nachhaltige Unterstützung durch Ehrenamtliche
 
Wer hat die Kraft und die Motivation, sich unentgeltlich als Akutbegleiter:in in den Dienst trauernder Eltern zu stellen? Das Team von Primi Passi besteht derzeit aus zehn ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen, die sich wochenweise abwechseln. Alle Begleiterinnen haben eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin absolviert. Das Team ist täglich telefonisch zwischen 8 und 20 Uhr erreichbar und besucht die betroffenen Familien auf Wunsch im gesamten Münchner S-Bahnbereich.

Warum sind es derzeit nur Frauen? Freya von Stülpnagel hat da eine Vermutung: „Was ich bei Männern beobachte, ist, dass sie lösungsorientierter sind. Und wir Frauen wissen, dass es beim Verlust des Kindes keine Lösung gibt. Das Kind kommt nicht wieder. Um wirklich eine nachhaltige Unterstützung geben zu können, ist das Dasein am Wichtigsten. Männer wollen sehr oft lieber gehen und irgendetwas Konkretes tun, was auch für Ablenkung sorgt."  Vermutlich fühlen sich deshalb mehr Frauen dazu berufen, in der Akuthilfe tätig zu sein. 
 
Viele der Ehrenamtlichen sind selbst Betroffene, wissen von dem lähmenden Schmerz, können nachvollziehen, dass es in den ersten Wochen nach dem Tod des Kindes einfach nicht geht, das Haus, die Wohnung zu verlassen, anderen Menschen zu begegnen, mitleidige Blicke zu spüren, etwas sagen zu müssen zu dem Unsagbaren. Voraussetzung einer Mitarbeit bei Primi Passi ist allerdings: Der Tod des eigenen Kindes muss mindestens drei Jahre zurückliegen, um den nötigen Abstand und die emotionale Stabilität zu haben, um die Betroffenen bestmöglich unterstützen zu können. Oft ist es ein Schlüsselmoment für die Betroffenen, wenn jemand kommt, der dasselbe Schicksal erlebt und überlebt hat.
 
Auf dem Foto ist eine brennende Kerze  zu sehen. Sie steht auf dem Boden. Eine Trauergruppe sitzt im Hintergrund.
Länger als sechs Wochen sollte die Akutbegleitung nicht dauern. Im Anschluss werden die Familien ermutigt, offene Trauergruppen zu besuchen, um sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und zu vernetzen.
„Es ist etwas ganz Besonderes, dass wir so viele ehrenamtlich Engagierte haben, die teils noch im Berufsleben stehen, auch an Wochenenden zur Verfügung stehen und sich mitunter für ihren Dienst extra Urlaub nehmen,“ sagt Freya von Stülpnagel, die selbst rund 450 Stunden jährlich ehrenamtlich für den Verein Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister tätig ist. Das Engagement aller hat sich ausgezahlt: Mittlerweile ist die Akutbegleitung in und um München bekannt. Etwa 90 Familien begleitet das Team inzwischen jährlich. „Seit Bestehen von Primi Passi haben wir rund 1.000 Familien unterstützt“, sagt Freya von Stülpnagel. Am 15. November feiert Primi Passi mit einem Festakt im Alten Rathaus in München 20-jähriges Jubiläum.

Länger als sechs Wochen sollte die Begleitung nicht dauern. Im Anschluss werden die Familien ermutigt, offene Trauergruppen zu besuchen. Der Verein Verwaiste Eltern und trauernder Geschwister hat hierfür Räume in Haidhausen angemietet. Auch die Leiter:innen der Gruppen arbeiten ehrenamtlich. „Wichtig ist die Verlässlichkeit des Angebots“, weiß Freya von Stülpnagel, die Jahre lang gemeinsam mit Pfarrer Stahlschmidt eine Suizidgruppe in München geleitet hat – anfangs die einzige Gruppe deutschlandweit, in der sich Eltern von Kindern, die Suizid begangen haben, treffen. Es tut gut, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen, sich nicht erklären zu müssen, einen geschützten Raum zu haben, um Informationen auszutauschen. Wie bei Primi Passi gilt die Regel: „Wir geben keine Ratschläge! Wir stehen bei. Hören zu. Teilen unsere Erfahrungen.“
 
Auch Trauernden anderer Regionen sollte geholfen werden

Für die kommenden 20 Jahre wünscht sich Freya von Stülpnagel neben finanzieller Unterstützung auch eine Ausweitung des Angebotes über Oberbayern hinaus. „Es wäre so wichtig, dass das Projekt weiter Verbreitung findet, dass die Akuthilfe auch Trauernden in anderen Regionen Deutschlands zugutekommt und dass dort Menschen bereit sein mögen, diese Arbeit leisten zu können und zu wollen.“ Doch davon ist sie überzeugt. Denn Primi Passi ist mittlerweile für viele zum Herzensprojekt geworden.

*Name auf Wunsch anonymisiert
 
Text: Angelika Slagman, Stabsstelle Kommunikation, November 2024
 

Primi Passi – erste Schritte für Eltern und Geschwister nach dem Tod eines Kindes

Die Umstände des Todes eines Kindes sind vielfältig. Die Begleitung von Eltern, die ein Kind, egal welchen Alters, durch Frühtod, Krankheit, Unfall, Suizid oder einen gewaltsamen Tod verloren haben, umfasst vier bis sechs Wochen. In dieser Zeit findet der Kontakt über Telefon oder Hausbesuche statt. Die Betroffenen entscheiden, in welcher Frequenz und Form sie eine Begleitung wünschen. Neben organisatorischer Beratung und Hinweisen zu Trauergruppen unterstützt das Team auch emotional, versucht das gesamte Familiensystem zu stabilisieren. Primi Passi ist ein Projekt des Vereins Verwaiste Eltern und trauernder Geschwister München. Der Verein wie das Projekt finanzieren sich zum großen Teil durch Spenden.
 

Stiftung Primi Passi

Gegründet von Freya und Alexander von Stülpnagel, unterstützt die Finanzierung von Fortbildungen und Supervisionen für Mitarbeitende des Projekts. Die Stiftung hat außerdem das Ziel, das Angebot der Akutbegleitung auch über die oberbayerischen Grenzen hinaus anzubieten. Mittlerweile gibt es Primi Passi bzw. ähnliche Angebote auch in Sachsen, in Deggendorf oder Friedrichshafen.
 

Spende zum Jubiläum

Die Kollekte des diesjährigen Festgottesdienstes für Ehejubilare, der am 20. Oktober 2024 stattfand, kommt dem Verein verwaister Eltern und trauernder Geschwister zugute. Gespendet wurden 4.444 Euro.
 
 

Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister München e.V.
Telefon: 089-4808899-0
Fax: 089-480889933
kontakt(at)trauernde-geschwister-muenchen.de
http://trauernde-geschwister-muenchen.de/

Büro:
St.-Wolfgangs-Platz 9
81669 München

 

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