Wie viele Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer? Die Europäische Außengrenze ist die gefährlichste und tödlichste Grenze der Welt. Das bedeutet konkret, dass von Januar 2014 bis Dezember 2023 rund 28.000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen oder verschwunden sind (IOM). Allein in 2023 sind 2.797 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen. Dies ist seit 2020 ein neuer Höchstwert. Hinzu kommen fast 1.000 Tote zwischen Westafrika und den kanarischen Inseln allein in 2023.
Setzt man die Zahl der ertrunkenen Flüchtenden mit der Zahl derer in Beziehung, die eine Flucht über das Mittelmer überleben, stellt man fest: Im Jahr 2022 ertranken 1,5 Prozent der Aufbrechenden bei dieser Überfahrt. Der Trend geht seit dem Ausbleiben staatlicher Programme und der Restriktion der Seenotrettung seitens europäischen Regierungen in eine Richtung: Die Flucht über das Mittelmeer ist in den letzten Jahren deutlich gefährlicher geworden. Dieser Umstand hält die Menschen aber nicht davon ab, die Überfahrt zu wagen.
Wie ist die Seenotrettung rechtlich geregelt? Seenotrettung ist eine völkerrechtliche Verpflichtung und damit Aufgabe der Staaten. Es wäre Aufgabe der Europäischen Union (EU), ihre Grenze im Mittelmeer so zu sichern, dass dort niemand ums Leben kommt. Die hohe Zahl der Toten zeigt aber, dass die EU dieser Aufgabe nicht hinreichend nachkommt. Darüber hinaus ist die Rettung hilfsbedürftiger Menschen auf See eine Pflicht aller Schiffe und Besatzungen, egal ob Fischerboot oder Kreuzfahrtschiff. Auch das ist im internationalen Recht geregelt.
Welche staatlichen Bemühungen um die Seenotrettung gibt es? Von Oktober 2013 bis Ende 2014 waren durch die italienische Operation Mare Nostrum mehr als 130.000 Flüchtlinge im zentralen Mittelmeer gerettet worden. Diese Rettungsoperation wurde eingestellt, weil die europäischen Regierungen keine Mittel zur Verfügung stellten, um Mare Nostrum in eine europäische Seenotrettung zu überführen. Mare Nostrum war vorrangig eine Seenotrettungsoperation. Darauf folgte 2014 bis 2018 die europäische Mission Triton, bei der der Fokus auf einer Kontrolle der europäischen Außengrenzen und der Bekämpfung organisierter transnationaler Kriminalität lag. Daraufhin wurden jegliche staatlichen Aktivitäten im Mittelmeer nicht nur eingestellt, sondern es ließ sich vielmehr eine Entwicklung hin zur Kriminalisierung und strafrechtlichen Verfolgung von Rettungsorganisationen seitens staatlicher Stellen beobachten.
Warum sind zivile Seenotretter im Mittelmeer aktiv? Sie versuchen, die Lücke zu schließen, die die staatlichen Bemühungen um die Seenotrettung hinterlassen, und noch mehr Tote im Mittelmeer zu verhindern. Auch zivile Seenotretter müssen sich aber an das geltende Recht halten.
Woher stammen die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa kommen wollen? Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und seiner Central Mediterranean Sea Initiative stammen über 75 Prozent der auf diese Weise Schutzsuchenden aus Kriegs- und Krisengebieten, zum Beispiel aus Syrien oder Eritrea, und haben gute Chancen, dass ihr Asylantrag in der EU anerkannt wird. Auch die Menschen, deren Asylantrag später nicht anerkannt wird, haben das Recht darauf, ihn zu stellen, und auf ein faires Verfahren.
Warum werden die Flüchtlinge nach Europa gebracht und nicht zurück nach Libyen? Das internationale Recht sieht vor, dass das Verbot der Zurückweisung von Schutzsuchenden vor (non-refoulement). Dies gilt auch für Schiffbrüchige und bedeutet konkret, dass sie an einen sicheren Ort gebracht werden müssen.
Libyen ist kein sicherer Ort, wie das UNHCR Ende 2018 in einem Bericht feststellt: „Migranten und Geflüchtete erleiden während ihrer Durchreise durch und ihres Aufenthalts in Libyen unvorstellbare Formen von Grausamkeit. Mit der Ankunft auf libyschem Boden sind sie der Gefahr von unrechtmäßigen Tötungen, Folter, willkürlicher Verhaftung, Vergewaltigung und anderen Formen sexualisierter Gewalt, Sklaverei, Zwangsarbeit, Erpressung und Ausbeutung durch den Staat, aber auch durch nicht-staatliche Akteure ausgesetzt.“
Hinzu kommt, dass nach europäischem Recht Mitgliedstaaten verpflichtet sind, auch Schutzgesuche entgegenzunehmen, die auf dem Mittelmeer gestellt werden. Die Flüchtlinge haben demnach einen Rechtsanspruch, in einen sicheren Hafen auf europäischem Gebiet gebracht zu werden.
Machen sich Flüchtlinge nicht erst recht auf den Weg über das Mittelmeer, wenn sie wissen, dass sie gerettet werden? Es kommt vor, dass Schlepper die private Seenotrettung ausnutzen, indem sie noch mehr Menschen auf untaugliche Boote zwingen und ihnen noch weniger Treibstoff mitgeben. Es gibt aber keinen Zusammenhang zwischen der privaten Seenotrettung und der Zahl der Flüchtlinge, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Studien der Universität Oxford und einer Universität in London kommen zu diesem Schluss: So unterschied sich die Zahl der über das Mittelmeer ankommenden Flüchtlinge in Zeiten mit hoher oder niedriger Rettungsaktivität kaum. Der relativ größte Anstieg an Fluchtbewegungen über das Mittelmeer war von 2014 auf 2015 zu verzeichnen, zu einer Zeit, als die italienische Mission Mare Nostrum gerade beendet war und die zivile Seenotrettung sich im Mittelmeer noch gar nicht etabliert hatte. Eine Flucht nach Europa besteht außerdem nicht nur aus der Fahrt über das Mittelmeer. Die Menschen verlassen ihre Heimat, ihre Familie, viele von ihnen sind ein bis zwei Jahre unterwegs, durch die gefährliche Sahara, durch das terrorisierte Libyen – die Aussicht, im Mittelmeer vielleicht von einem privaten Schiff aufgenommen zu werden, ist kein Grund, weshalb sich Menschen auf den Weg nach Europa machen. Seenotrettung hat also zusammenfassend keinen Pull-Effekt.
(Weiteres kann dieser Forschung entnommen werden) Warum unterstützen Christen die zivile Seenotrettung, zum Beispiel Kardinal Reinhard Marx? Für Christinnen und Christen ist es ein Auftrag und ein Akt der Barmherzigkeit, Menschen in Not ohne Ansehen der Person zu helfen. Sie orientieren sich am Vorbild von Jesus Christus und am biblischen Zeugnis. Die bayerischen Bischöfe haben bei ihrer vergangenen Vollversammlung betont, sie hätten „Hochachtung vor den Menschen, die Flüchtlinge bei der lebensgefährlichen Überquerung des Mittelmeers vor dem Ertrinken retten“, und es sei „besonders wichtig, den Beitrag der zivilen Seenotrettung im Kampf gegen die anhaltende humanitäre Katastrophe zu unterstützen“, solange es keine funktionierende staatliche Seenotrettung gebe. Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, hat die zivile Seenotrettung durch Spenden unterstützt. Ihm stehen Haushaltsmittel aus dem Etat des Erzbistums bereit, die er für caritative und weltkirchliche Zwecke ausgeben kann. Ziel ist es, mit diesen Mitteln zügig und unbürokratisch zu helfen. Aus diesem Etatposten stammten die Spenden an die Seenotrettung.
Muss man nicht eher die Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpfen, damit sich Flüchtlinge gar nicht erst auf den Weg machen? Beides ist notwendig, das Engagement gegen die Fluchtursachen, aber auch die Hilfe für die Menschen, die schon geflohen oder auf der Flucht sind. Ziel muss sein, dass die Menschen in ihren Herkunftsländern ohne Verfolgung, Hunger und Not leben können, dass Fluchtursachen wie Krieg und Klimawandel bekämpft werden. Das tun vor Ort auch viele kirchliche Hilfswerke.