„Wir können es nicht hinnehmen, dass im Mittelmeer Menschen sterben“ Die Unterstützung der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer durch das Erzbistum München und Freising

Flüchting auf Rettungsschiff
Kardinal Marx war und ist sehr klar in seiner Positionierung: Wir können es nicht hinnehmen, dass im Mittelmeer Menschen sterben. So schrieb Marx anlässlich der Verleihung des Karlspreises an Papst Franziskus in Würdigung von dessen Einsatz für Geflüchtete: „Als das Flüchtlingsdrama in Europa seinen Anfang nahm und die Weltöffentlichkeit weitgehend die Augen davor verschloss, sind Sie an den südlichsten Punkt Europas gereist, um ein Zeichen zu setzen für jene Menschen, denen alles genommen wurde, oft auch ihr Leben. Ihre eindringlichen Worte, nach denen das Mittelmeer nicht zu einem Friedhof werden dürfe, haben die Welt aufgerüttelt. Sie haben der Menschheitsfamilie das ganze Drama vor Augen geführt und gelten somit zurecht als jener, der Europa an seine Verantwortung erinnert, den Menschen zu helfen.“ Entsprechend dieser Linie des Kardinals, die sich an den Grundlagen des katholischen Glaubens ausrichtet, hat er sich entschieden, diejenigen zu unterstützen, die dem Sterben im Mittelmeer aktiv durch die Rettung von Menschenleben entgegentreten.

Kirchliche Positionen

Nicht Flüchtlinge bekämpfen, sondern Armut!
Das betonte der sizilianische Kardinal Francesco Montenegro vor dem Hintergrund der Diskussion um Seenotrettung im Mittelmeer in einem Interview auf www.weltkirche.de. Als Erzbischof von Agrigent beobachtet er seit Jahren, wie die Jugend aus seiner Heimat auswandert und der Süden ausblutet. Einziger Profiteur dieser Misere: die Mafia.

"Weil die Staaten Europas bislang keine Lösung gefunden haben, bleibt das Engagement der Seenotretter unverzichtbar"


Grußwort von Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, zur Verleihung des Lew-Kopelew-Preises für Frieden und Menschenrechte an Kapitän Claus-Peter Reisch und die Seenotrettungsinitiative „Mission Lifeline“
 
Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt! (Heb. 13,2)
 
Aber diejenigen, die ihr Leben auf dem Meer riskieren, sind keine Invasoren, sie suchen Aufnahme, sie suchen Leben. Was die Notsituation angeht, so ist das Migrationsphänomen nicht so sehr eine momentane Notlage, die immer gerne für panikmachende Propaganda herhalten muss, sondern eine Gegebenheit unserer Zeit, ein Prozess, der drei Kontinente rund um das Mittelmeer betrifft und der mit kluger Weitsicht gestaltet werden muss: mit einer europäischen Verantwortung, die in der Lage ist, die objektiven Schwierigkeiten anzugehen. (Papst Franziskus am 23.09.2023 in Marseille)
 
(…) verschließen wir uns nicht in Gleichgültigkeit. Die Geschichte verlangt von uns eine Aufrüttlung des Gewissens, um dem Schiffbruch der Zivilisation vorzubeugen. Die Zukunft liegt nicht in der Abschottung, die eine Rückkehr in die Vergangenheit ist, eine Kehrtwende auf dem Weg der Geschichte. Im Hinblick auf die schreckliche Geißel der Ausbeutung von Menschen besteht die Lösung nicht in der Ablehnung, sondern –den jeweiligen Möglichkeiten entsprechend – in der Sicherstellung einer Vielzahl von legalen und regulären Einreisemöglichkeiten, die dank einer ausgewogenen Aufnahme in Europa in Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern möglich sind. (Papst Franziskus am 23.09.2023 in Marseille)
 
Der Mittelmeerraum ist Ausdruck (…) eines lebendigen, offenen und versöhnlichen Denkens: eines Gemeinschaftsdenkens, das ist das Wort. Wie sehr brauchen wir dies in der gegenwärtigen Situation, in der antiquierte und kriegstreibende Nationalismen den Traum von der Gemeinschaft der Nationen zunichtemachen wollen! (Papst Franziskus am 23.09.2023 in Marseille)

Fragen und Antworten zur Seenotrettung

Wie viele Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer?
Die Europäische Außengrenze ist die gefährlichste und tödlichste Grenze der Welt. Das bedeutet konkret, dass von Januar 2014 bis Dezember 2023 rund 28.000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen oder verschwunden sind (IOM). Allein in 2023 sind 2.797 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen. Dies ist seit 2020 ein neuer Höchstwert. Hinzu kommen fast 1.000 Tote zwischen Westafrika und den kanarischen Inseln allein in 2023.
Setzt man die Zahl der ertrunkenen Flüchtenden mit der Zahl derer in Beziehung, die eine Flucht über das Mittelmer überleben, stellt man fest: Im Jahr 2022 ertranken 1,5 Prozent der Aufbrechenden bei dieser Überfahrt. Der Trend geht seit dem Ausbleiben staatlicher Programme und der Restriktion der Seenotrettung seitens europäischen Regierungen in eine Richtung: Die Flucht über das Mittelmeer ist in den letzten Jahren deutlich gefährlicher geworden. Dieser Umstand hält die Menschen aber nicht davon ab, die Überfahrt zu wagen. 
 
Wie ist die Seenotrettung rechtlich geregelt?
Seenotrettung ist eine völkerrechtliche Verpflichtung und damit Aufgabe der Staaten. Es wäre Aufgabe der Europäischen Union (EU), ihre Grenze im Mittelmeer so zu sichern, dass dort niemand ums Leben kommt. Die hohe Zahl der Toten zeigt aber, dass die EU dieser Aufgabe nicht hinreichend nachkommt. Darüber hinaus ist die Rettung hilfsbedürftiger Menschen auf See eine Pflicht aller Schiffe und Besatzungen, egal ob Fischerboot oder Kreuzfahrtschiff. Auch das ist im internationalen Recht geregelt.
 
Welche staatlichen Bemühungen um die Seenotrettung gibt es?
Von Oktober 2013 bis Ende 2014 waren durch die italienische Operation Mare Nostrum mehr als 130.000 Flüchtlinge im zentralen Mittelmeer gerettet worden. Diese Rettungsoperation wurde eingestellt, weil die europäischen Regierungen keine Mittel zur Verfügung stellten, um Mare Nostrum in eine europäische Seenotrettung zu überführen.  Mare Nostrum war vorrangig eine Seenotrettungsoperation. Darauf folgte 2014 bis 2018 die europäische Mission Triton, bei der der Fokus auf einer Kontrolle der europäischen Außengrenzen und der Bekämpfung organisierter transnationaler Kriminalität lag. Daraufhin wurden jegliche staatlichen Aktivitäten im Mittelmeer nicht nur eingestellt, sondern es ließ sich vielmehr eine Entwicklung hin zur Kriminalisierung und strafrechtlichen Verfolgung von Rettungsorganisationen seitens staatlicher Stellen beobachten.
 
Warum sind zivile Seenotretter im Mittelmeer aktiv?
Sie versuchen, die Lücke zu schließen, die die staatlichen Bemühungen um die Seenotrettung hinterlassen, und noch mehr Tote im Mittelmeer zu verhindern. Auch zivile Seenotretter müssen sich aber an das geltende Recht halten.
 
Woher stammen die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa kommen wollen?
Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und seiner Central Mediterranean Sea Initiative stammen über 75 Prozent der auf diese Weise Schutzsuchenden aus Kriegs- und Krisengebieten, zum Beispiel aus Syrien oder Eritrea, und haben gute Chancen, dass ihr Asylantrag in der EU anerkannt wird. Auch die Menschen, deren Asylantrag später nicht anerkannt wird, haben das Recht darauf, ihn zu stellen, und auf ein faires Verfahren.
 
Warum werden die Flüchtlinge nach Europa gebracht und nicht zurück nach Libyen?
Das internationale Recht sieht vor, dass das Verbot der Zurückweisung von Schutzsuchenden vor (non-refoulement). Dies gilt auch für Schiffbrüchige und bedeutet konkret, dass sie an einen sicheren Ort gebracht werden müssen.
Libyen ist kein sicherer Ort, wie das UNHCR Ende 2018 in einem Bericht feststellt: „Migranten und Geflüchtete erleiden während ihrer Durchreise durch und ihres Aufenthalts in Libyen unvorstellbare Formen von Grausamkeit. Mit der Ankunft auf libyschem Boden sind sie der Gefahr von unrechtmäßigen Tötungen, Folter, willkürlicher Verhaftung, Vergewaltigung und anderen Formen sexualisierter Gewalt, Sklaverei, Zwangsarbeit, Erpressung und Ausbeutung durch den Staat, aber auch durch nicht-staatliche Akteure ausgesetzt.“
Hinzu kommt, dass nach europäischem Recht Mitgliedstaaten verpflichtet sind, auch Schutzgesuche entgegenzunehmen, die auf dem Mittelmeer gestellt werden. Die Flüchtlinge haben demnach einen Rechtsanspruch, in einen sicheren Hafen auf europäischem Gebiet gebracht zu werden.
 
Machen sich Flüchtlinge nicht erst recht auf den Weg über das Mittelmeer, wenn sie wissen, dass sie gerettet werden?
Es kommt vor, dass Schlepper die private Seenotrettung ausnutzen, indem sie noch mehr Menschen auf untaugliche Boote zwingen und ihnen noch weniger Treibstoff mitgeben. Es gibt aber keinen Zusammenhang zwischen der privaten Seenotrettung und der Zahl der Flüchtlinge, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Studien der Universität Oxford und einer Universität in London kommen zu diesem Schluss: So unterschied sich die Zahl der über das Mittelmeer ankommenden Flüchtlinge in Zeiten mit hoher oder niedriger Rettungsaktivität kaum. Der relativ größte Anstieg an Fluchtbewegungen über das Mittelmeer war von 2014 auf 2015 zu verzeichnen, zu einer Zeit, als die italienische Mission Mare Nostrum gerade beendet war und die zivile Seenotrettung sich im Mittelmeer noch gar nicht etabliert hatte. Eine Flucht nach Europa besteht außerdem nicht nur aus der Fahrt über das Mittelmeer. Die Menschen verlassen ihre Heimat, ihre Familie, viele von ihnen sind ein bis zwei Jahre unterwegs, durch die gefährliche Sahara, durch das terrorisierte Libyen – die Aussicht, im Mittelmeer vielleicht von einem privaten Schiff aufgenommen zu werden, ist kein Grund, weshalb sich Menschen auf den Weg nach Europa machen. Seenotrettung hat also zusammenfassend keinen Pull-Effekt. (Weiteres kann dieser Forschung entnommen werden)
 
Warum unterstützen Christen die zivile Seenotrettung, zum Beispiel Kardinal Reinhard Marx?
Für Christinnen und Christen ist es ein Auftrag und ein Akt der Barmherzigkeit, Menschen in Not ohne Ansehen der Person zu helfen. Sie orientieren sich am Vorbild von Jesus Christus und am biblischen Zeugnis. Die bayerischen Bischöfe haben bei ihrer vergangenen Vollversammlung betont, sie hätten „Hochachtung vor den Menschen, die Flüchtlinge bei der lebensgefährlichen Überquerung des Mittelmeers vor dem Ertrinken retten“, und es sei „besonders wichtig, den Beitrag der zivilen Seenotrettung im Kampf gegen die anhaltende humanitäre Katastrophe zu unterstützen“, solange es keine funktionierende staatliche Seenotrettung gebe. Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, hat die zivile Seenotrettung durch Spenden unterstützt. Ihm stehen Haushaltsmittel aus dem Etat des Erzbistums bereit, die er für caritative und weltkirchliche Zwecke ausgeben kann. Ziel ist es, mit diesen Mitteln zügig und unbürokratisch zu helfen. Aus diesem Etatposten stammten die Spenden an die Seenotrettung.
 
Muss man nicht eher die Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpfen, damit sich Flüchtlinge gar nicht erst auf den Weg machen?
Beides ist notwendig, das Engagement gegen die Fluchtursachen, aber auch die Hilfe für die Menschen, die schon geflohen oder auf der Flucht sind. Ziel muss sein, dass die Menschen in ihren Herkunftsländern ohne Verfolgung, Hunger und Not leben können, dass Fluchtursachen wie Krieg und Klimawandel bekämpft werden. Das tun vor Ort auch viele kirchliche Hilfswerke.

Der barmherzige Samariter als Beispiel (Evangelium nach Lukas)

Und siehe, ein Gesetzeslehrer stand auf, um Jesus auf die Probe zu stellen, und fragte ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben! Der Gesetzeslehrer wollte sich rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle du genauso!
 
Lukas 10,25-37 (Einheitsübersetzung 2016)

Informationen

Seenotrettung stellt gemäß der Forschung des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung keinen sog. „Pullfaktor“ dar:
https://www.dezim-institut.de/presse/presse-detail/kein-pull-effekt-durch-seenotrettung/
 
 
Rede von Papst Franziskus in Marseille am 23.09.2023
https://www.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2023/september/documents/20230923-marsiglia-rencontres-mediterraneennes.pdf
 
Rückschau zu Veranstaltung im Münchner Dom: Klarer Auftrag: Verantwortung wahrnehmen
Einen ökumenischen Gottesdienst für die Toten im Mittelmeer feierten im Dezember 2020 im Münchner Liebfrauendom der Vorsitzende der Freisinger Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, der evangelisch-lutherische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm und der griechisch-orthodoxe Bischof von Aristi Vasilios. Die musikalische Gestaltung übernahmen Elie Kayembe (Kongo), Buschra Poles Hanna (Irak), Barbara Pöschl-Edrich (Deutschland) und der Byzantinische Kantorenchor. Ab 13 Uhr wurden die Namen von Ertrunkenen verlesen.

Die bayerischen Bischöfe hatten kritisiert, das europäische Gemeinwesen sei „offenbar nicht in der Lage, seine Außengrenzen so zu organisieren, dass nicht jedes Jahr Tausende ums Leben kommen“. Es sei „besonders wichtig, den Beitrag der zivilen Seenotrettung im Kampf gegen die anhaltende humanitäre Katastrophe zu unterstützen“. Seenotrettungsvereine luden vor dem Gottesdienst ab 11 Uhr zu einer Mahnwache auf dem Frauenplatz ein.

Das Menschenrecht auf Rettung

Eine wissenschaftliche Einordnung von Susanne Nothhafft, Professorin für Recht in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München

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