Der Grundsatz der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit
Staaten sind für alle ihnen zurechenbaren Handlungen und Unterlassungen, die gegen eine subjektive Rechte und Schutzpflichten begründende völkerrechtliche Norm verstoßen, verantwortlich. Dies wird im Anwendungsbereich der
Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch die vielfältige Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verdeutlicht: Sichtbar konturiert wurde diese Position des EGMR im Hinblick auf die Grenzpolitik der EU im Mittelmeer bereits in einer Entscheidung, die am 23. Februar 2012 veröffentlicht wurde. In dieser Entscheidung wird festgestellt, dass die Zurückweisung von Flüchtenden auf hoher See mehrere der in der EMRK garantierten Rechte verletzt. Dem Fall (Rechtssache Hirsi Jamaa unter anderem gegen Italien, Nr. 27765/09) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Antragstellerinnen und Antragsteller, elf somalische und dreizehn eritreische Staatsangehörige, gehörten zu einer Gruppe von etwa 200 Menschen, die in drei Booten von Libyen nach Italien übersetzen wollten. Am 6. Mai 2009 wurden die Boote 35 Seemeilen südlich von Lampedusa vom italienischen Zoll und der Küstenwache aufgebracht und die Menschen aus den Booten zurück nach Tripolis verbracht. In Tripolis wurden die Antragstellerinnen und Antragsteller entgegen ihrer Weigerung gezwungen an Land zu gehen. Der italienische Außenminister berief sich bei einer Pressekonferenz am 7. Mai 2009 auf ein bilaterales Abkommen mit Libyen vom Februar des gleichen Jahres als Rechtsgrundlage für das Handeln der italienischen Behörden.
Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die Antragstellerinnen und Antragsteller sich auf die EMRK berufen können, obwohl ihre Boote in internationalen Gewässern außerhalb des italienischen Staatsterritoriums aufgebracht worden waren. Durch das Manöver mit einem Schiff unter italienischer Flagge sei Italien durch Art. 1 EMRK gebunden, den Personen auch im extraterritorialen Herrschaftsbereich die Geltung der für sie einschlägigen Menschenrechte der EMRK zu gewährleisten. Im Weiteren stellte der EGMR weitere gravierende Verstöße gegen die EMRK fest: Die Antragstellerinnen und Antragsteller seien in Libyen dem Risiko unmenschlicher und entwürdigender Behandlung ausgesetzt (Art. 3 EMRK). Zudem seien sie von einer willkürlichen Abschiebung aus Libyen in ihre Herkunftsländer bedroht (Art. 3 EMRK). Bei der der Aktion handele es sich überdies um eine verbotene Kollektivausweisung (Art. 4 des IV. Zusatzprotokolls). Durch das Vorgehen der italienischen Behörden sei den Antragstellerinnen und Antragsteller ganz grundsätzlich ein effektiver Rechtsschutz unmöglich gemacht worden (Art. 13 i. V. m. Art. 3 EMRK und Art. 4 des IV. Zusatzprotokolls).
Das Urteil des Gerichtshofs bedeutet eine erhebliche Stärkung des Schutzes von Flüchtenden an den Außengrenzen der Europäischen Union durch den Rekurs auf Menschenrechte und menschenrechtliche Prinzipien im Völkerrecht. In seiner Urteilsbegründung geht der EGMR unter anderem ausführlich darauf ein, dass Libyen bereits im fraglichen Zeitraum (noch unter Gaddafi) seinen Verpflichtungen zum Schutz von Flüchtlingen in keiner Weise nachgekommen sei. Schutzsuchende würden willkürlich inhaftiert, gefoltert und seien unmenschlichen Unterbringungsbedingungen, mangelnder Hygiene und unzureichender medizinischer Versorgung ausgesetzt gewesen. Angesichts der systematischen Verletzung von Menschenrechten in Libyen habe dies den italienischen Stellen aus zahlreichen Berichten bekannt sein müssen.
Ergänzend sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Pflicht zur Seenotrettung ausdrücklich im internationalen Seerecht verankert ist. Insbesondere Art. 98 SRÜ (UN Seerechtsübereinkommen) bestimmt, dass jeder Staat den Kapitän eines seine Flagge führenden staatlichen oder privaten Schiffes dazu verpflichten muss, jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, so schnell wie möglich zur Hilfe zu eilen. Diese Pflichten sind auch in weiteren internationalen Übereinkommen, insbesondere im SOLAS-Übereinkommen (Internationales Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See), dem SAR-Übereinkommen (Internationales Übereinkommen über den Such- und Rettungsdienst auf See) und dem Bergungsübereinkommen verankert. Weiterhin gibt es Richtlinien der International Maritime Organization (IMO) bezüglich des Umgangs mit Schiffsbrüchigen auf See, die die Pflichten der Staaten und der Privatpersonen weiter konkretisieren. Auch der UNHCR hat insbesondere bezüglich der Seenotrettung von Flüchtenden und anderen Schutzbedürftigen Empfehlungen formuliert. Bei der Pflicht zur Seenotrettung handelt es sich daher um einen Rechtsgrundsatz von solcher Anwendungsdichte, dass er zu Völkergewohnheitsrecht geworden ist. Er gilt daher auch im Hinblick auf Staaten, die einschlägigen Menschenrechtsverträgen nicht beigetreten sind. Ein ziviles Schiff, das Flüchtende aus see-untauglichen Booten rettet, kann daher nie ein „Schlepper“ sein, sondern kommt nur einer der Kernpflichten des Seerechts nach.
Sofern Personen nach der Rettung dann im Bereich des Küstenmeers oder an den Seegrenzen um internationalen Schutz ersuchen, sind sie ebenso zu behandeln wie Geflüchtete, die einen Schutzantrag auf festem Boden stellen. Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 3 der EU-Asylverfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU) über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) verpflichtet, „Asylanträge, die im Hoheitsgebiet – einschließlich der Grenze oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten“ gestellt werden, entgegenzunehmen. Die Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie im Küstenmeer wurde in einer von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Studie (SEC (2007) 691) bestätigt. Aus dieser Anwendbarkeit des EU-Asylrechts resultiert die Pflicht, den geretteten Personen die Möglichkeit zur Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz gegenüber den Behörden zu geben. Die Schutzsuchenden haben demnach einen Rechtsanspruch, in den nächsten sicheren Hafen auf europäischem Territorium verbracht zu werden. Das seerechtliche Kriterium der „Sicherheit“ ist hierbei im Licht flüchtlingsrechtlicher Bestimmungen auszulegen.
„Push-back“-Aktionen auf dem Mittelmeer sind aus diesem Grund unzulässig.
Damit eng verwoben ist das Verbot des „refoulement“ von Geflüchteten und subsidiär Schutzberechtigten
, das heißt das Verbot einer Abschiebung in Gebiete, in denen Verfolgung, Misshandlung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Das Verbot des refoulement ergibt sich aus der
Genfer Flüchtlingskonvention (Art. 33 GFK), der
Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 3 EMRK),
dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 6,7 CCPR) und dem
UN-Antifolterabkommen (Art. 3 CAT) und entspricht in der Rechtsdichte ebenfalls Völkergewohnheitsrecht. Das heißt, dass ein Zurückweisen, Zurückeskortieren, Verhindern der Weiterfahrt, Zurückschleppen bzw. die Verbringung in nicht zur EU gehörige Küstenländer völkerrechtlich unzulässig ist, solange das Verfahren der administrativen und gerichtlichen Überprüfung des individuellen Schutzbegehrens der potentiell schutzbedürftigen Betroffenen im Einzelfall auf europäischem Territorium nicht abgeschlossen ist. Aufgrund der völkerrechtlichen Zurechnungskriterien und des Umgehungsverbotes führt die kooperative Einschaltung von Behörden aus Drittstaaten nicht zu einer Entpflichtung der europäischen Grenzschutzorgane. „Pull-back“-Aktionen in Drittstaaten wie zum Beispiel Libyen, in denen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, sind daher völkerrechtlich nicht erlaubt. Der EGMR hat im Verfahren Hirsi Jamaa und andere gegen Italien (Nr. 27765/09) klargestellt, dass die europäischen Grenzschutzbehörden auch bei exterritorialen Grenzschutzmaßnahmen an diese Regelungen gebunden sind. Diese Grundsätze finden sich ebenso in Art. 78 AEUV
(Vertrag über Arbeitsweise der EU) wieder, mit dem eine gemeinsame Politik der Europäischen Union im Bereich Asyl/Internationaler Schutz und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll, sowie in Art. 18, 19, 47 und 52 der Europäischen Charta der Grundrechte.
Die Entscheidung des EGMR im Verfahren Hirsi Jamaa und andere gegen Italien (Nr. 27765/09) unterstreicht ein weiteres Mal, dass die Staaten der Europäischen Union sich ihrer Verpflichtung, effektiven Flüchtlingsschutz zu gewähren, nicht dadurch entziehen dürfen, dass sie Schutzsuchenden den Zugang zum eigenen Territorium verweigern. Nicht nur, dass hier – weiterhin aktuell durch die „Migrationspartnerschaften“ mit afrikanischen Staaten – die EU Außenpolitik deutlich in ihre menschenrechtlichen Schranken gewiesen wird. Der EGMR hat – wie schon in vorangegangenen Entscheidungen – klargestellt, dass die Vertragsstaaten ihre Verpflichtungen aus der EMRK nicht umgehen können, indem sie untereinander oder mit anderen Staaten Vereinbarungen treffen, die dazu führen, dass – zum Beispiel wie im vorliegenden Fall – der Grundsatz der Nichtzurückweisung nicht oder nicht ausreichend beachtet wird. Damit wird eindeutig das Verständnis von Menschenrechten als Schutzpflichten der Konventions-Beitrittsstaaten und als subjektiven Rechten einzelner Menschen gegenüber Nationalstaaten bekräftigt.