Das Menschen-Recht auf Seenotrettung Eine wissenschaftliche Einordnung von Susanne Nothhafft, Professorin für Recht in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München

Die erste Reise außerhalb Roms nach Antritt seines Pontifikats führte Papst Franziskus im Juli 2013 nach Lampedusa. In das Zentrum eines Gottesdienstes dort stellte Papst Franziskus drei Fragen: „Adam, wo bist du?“, „Wo ist dein Bruder?“, „Wer von uns hat darüber und über Geschehen wie diese geweint?“. Er legte damit den Finger in die Wunde Europas – einer vielbeschworenen Wertegemeinschaft, die es zulässt, dass das Mittelmeer inzwischen zur gefährlichsten Außengrenze der Europäischen Union geworden ist: Im 19. April 2015 ertranken an einem Tag mehr als 700 Menschen im Mittelmeer. Im gesamten Jahr 2015 waren es laut der Internationale Organisation für Migration (IOM) 4.054 ertrunkene Flüchtende. Im Jahr 2016 ertranken 5.143 Menschen. Im Jahr 2017 waren es 3.139 und im Jahr 2018 2.299 von der IOM registrierte Todesfälle auf dem Mittelmeer. Das ganze Ausmaß der Tragödie wird deutlich, wenn man die Zahl der ertrunkenen Flüchtenden mit der Zahl derer in Beziehung setzt, die eine Flucht über das Mittelmer überleben: Im Jahr 2016 ertranken 1,4 Prozent der Aufbrechenden bei dieser Überfahrt. 2018 kamen weniger Menschen mit dem Boot in Europa an, dabei verloren aber relativ mehr Flüchtende ihr Leben – nämlich 1,9 Prozent der Menschen in den Booten. Das heißt, dass die Flucht über das Mittelmeer in den letzten Jahren gefährlicher geworden ist, das Risiko zu Tode zu kommen höher. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR und seiner Central Mediterranean Sea Initiative stammen über 75 Prozent der auf diese Weise Schutzsuchenden aus Kriegs- und Krisengebieten – sie haben also gute Gründe zu fliehen.
 
Das Europäische Grenzregime oder doing border in Europe

Seit Beginn des Khartoum Prozesses im November 2014 hat sich durch die EU-Horn of Africa Migration Route Initiative insbesondere auf der zentralen Mittelmeerroute das Zusammenspiel der Akteurinnen und Akteure verändert. Ein Beschluss des Europäischen Rats vom 23. April 2015 skizziert unter anderem folgende Bausteine europäischer Grenzpolitik am Mittelmeer: militärische Einsätze gegen vermeintliche Schlepperboote (EUNAVFOR Med), die Aufrüstung der Grenzagentur Frontex, eine mögliche Einbindung nordafrikanischer Staaten um Flüchtlingsboote abzufangen, eine Intensivierung der Rückübernahmeabkommen zwischen der EU und afrikanischen Staaten und die mögliche Auslagerung der Asylverfahren in Transitlager auf dem afrikanischen Kontinent.  Dieses Grenzregime wurde in den European Council Conclusions vom Juni 2018 bestätigt. Auf dem Mittelmeer bewegen sich nun mit den Flüchtenden die Schlepper, die nationalen Küstenwachen, Triton als Teil der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und die libysche Küstenwache.
 
Von Oktober 2013 bis Ende 2014 waren  durch die italienische Operation Mare Nostrum mehr als 130.000 Flüchtlinge im zentralen Mittelmeer gerettet worden. Diese Rettungsoperation wurde eingestellt, weil die europäischen Regierungen sich strikt geweigert hatten, Mittel zur Verfügung zu stellen, um Mare Nostrum in eine europäische Seenotrettung zu überführen und Italien finanziell zu entlasten.  Mare Nostrum war vorrangig eine Seenotrettungsoperation. Bei Triton liegt der Fokus auf einer Kontrolle der europäischen Außengrenzen und der Bekämpfung organisierter transnationaler Kriminalität. Die Seenotrettung stellt demnach nur mehr eine „situationsbedingte Nebentätigkeit“ dar. Zudem wurde das Einsatzgebiet verkleinert: Während Mare Nostrum bis in die libyschen Gewässer Rettungsaktionen vornahm, patroullieren die Schiffe der Triton Mission nur bis etwa 30 Seemeilen vor der italienischen Küste und vor Lampedusa. Die sich dadurch öffnende Lücke in der Rettung von in Seenot geratenen Booten, die zu einem Anstieg nicht nur der absoluten, sondern auch der relativen Zahl von Todesfällen geführt hat, wurde durch zivilgesellschaftliche Initiativen der Seenotrettung versucht zu schließen. Der UNHCR schätzt, dass bis 2017 etwa 40 Prozent der Seenotrettungseinsätze auf dem Mittelmeer von NGOs geleistet wurden. Dieses informelle Agreement wurde 2018 von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aufgekündigt. Mehrere europäische Küstenländer begannen damit, zivilen Rettungsschiffen oder Handelsschiffen die Anlandung nicht zu erlauben, sodass die aus Seenot Geborgenen unter prekären Bedingungen  tagelang auf den Schiffen ausharren mussten, bevor sich dann doch europäische Staaten breit erklärten, sie aufzunehmen und damit ein Verlassen der Schiffe möglich wurde. Parallel dazu hatte die libysche Küstenwache SRR mit ihrer durch die EU unterstützten Formalisierung seit Mitte 2018 den größeren Anteil der Seenotrettungsaktionen übernommen. Problematisch ist dabei jedoch, dass laut UNHCR 85 Prozent der durch die SRR aus Seenot Geretteten nach Libyen zurück gebracht wurden. Zudem gibt es Berichte über Fälle, in denen die Bergung Schiffbrüchiger durch Handelsschiffe oder zivile Rettungsschiffe erfolgt war und die libysche Küstenwache dann die Übergabe dieser Geretteten erzwungen hatte. Seit dieser Zeit äußerte der UNHCR mehrfach „serious concerns“ über die Zusammenarbeit mit der libyschen SRR im Hinblick auf die Einhaltung internationaler Schutzstandards. Ende Dezember 2018 hat der UNHCR im Weiteren seinen Bericht „Desperate and Dangerous: Report on the human rights situation of migrants and refugees in Libya“ veröffentlicht: „Migrants and refugees suffer unimaginable horrors during their transit through and stay in Libya. From the moment they step onto Libyan soil, they become vulnerable to unlawful killings, torture and other ill-treatment, arbitrary detention and unlawful deprivation of liberty, rape and other forms of sexual and gender-based violence, slavery and forced labour, extortion and exploitation by both State and non-State actors.” ("Migranten und Geflüchtete erleiden während ihrer Durchreise durch und ihres Aufenthalts in Libyen unvorstellbare Formen von Grausamkeit. Mit der Ankunft auf libyschem Boden sind sie der Gefahr von unrechtmäßigen Tötungen, Folter, willkürlicher Verhaftung, Vergewaltigung und anderen Formen sexualisierter Gewalt, Sklaverei, Zwangsarbeit, Erpressung und Ausbeutung durch den Staat aber auch durch nicht-staatliche Akteure ausgesetzt.") 
 
Welchen Preis also lassen Europäische Länder die Menschen zahlen, die sich auf eine Flucht übers Mittelmeer begeben? „Doing border“ heißt auf Europäisch: border control und migration management. Die EU richtet ihre Frontex-Missionen auf Schlepper-Bekämpfung anstelle von Seenotrettung. Migrationsbewegungen werden durch Migrationspartnerschaften beantwortet, die mit Ländern wie Äthiopien, Sudan, Eritrea, Süd Sudan, Somalia, Djibouti und Kenia sowie mit den Transitländern Libyen, Ägypten und Tunesien geschlossen werden. Nur wenige davon sind Demokratien oder auf dem Weg dorthin. Viele haben eine so schlechte Menschenrechtsbilanz, dass, wie zum Beispiel im Fall von Eritrea, die Asylanerkennungsquote  im Jahr 2018 über 70 Prozent betrug. Der EU-Kommissar für Inneres und Migration, Dimitris Avramopoulos – danach gefragt - bemerkt in einem Interview mit Monitor im Jahr 2015:  "Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir es dabei mit autoritären Regimen zu tun haben, mit Diktaturen. […] Aber sie bekommen von uns keine politische oder demokratische Legitimation. Wir konfrontieren sie nur mit ihrer Verantwortung."  So werden aus Verfolgerstaaten Bündnispartner.

Das inzwischen gängige Argument, dass die NGOs den Schleppern ihr Handwerk leicht machen und mit sogenanntem „Gutmenschentum“ deren Gewinne erhöhen, wird nicht richtig, nur weil es häufig verwendet wird. Menschen fliehen aus Kriegsgebieten, nicht weil es Schlepper gibt, sondern weil sie um ihr Leben und das ihrer Familie fürchten. Der relativ größte Anstieg an Fluchtbewegungen über das Mittelmeer war von 2014 auf 2015 zu verzeichnen – also zu einer Zeit als Mare Nostrum gerade beendet war und die zivile Seenotrettung sich im Mittelmeer noch gar nicht etabliert hatte. Diese Tragöden des Jahres 2015 auf dem Mittelmeer waren vielmehr der Auslöser für die unterschiedlichen Initiativen der zivilen Seenotrettung. Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass die Europäische Union selbst mit der Richtlinie des Rates der Europäischen Union 2001/51/EC im Juni 2001 die Möglichkeit sicherer und weitgehend schlepper-freier Fluchtwege durch die Implementierung sogenannter „carrier sanctions“ ausgeschlossen hat. Diese verlangen von den Mitgliedsstaaten die Schaffung von Sanktionen gegen Beförderungsunternehmen, die Asylsuchende (natürlich in der Regel ohne Visum und daher illegal) transportieren - mit dem Effekt, dass zum Beispiel keine Fluggesellschaft Menschen ohne Visum befördert.  Schon seit 1992 steht der Vorwurf durch das Bundesverfassungsgericht im Raum, dass die Rechtsgrundlage dieser Praxis in ihrer derzeitigen Form und  ihrem Umfang verfassungswidrig ist. Daher stellt sich am Ende die Frage, wer Schlepperorganisation mehr zuarbeitet: NGOs und Handelsschiffe, die Menschen aus Seenot retten, oder staatliche Strukturen, die sichere Fluchtwege auf  üblichen Reiserouten unmöglich machen.

Der Grundsatz der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit

Staaten sind für alle ihnen zurechenbaren Handlungen und Unterlassungen, die gegen eine subjektive Rechte und Schutzpflichten begründende völkerrechtliche Norm verstoßen, verantwortlich. Dies wird im Anwendungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch die vielfältige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verdeutlicht: Sichtbar konturiert wurde diese Position des EGMR im Hinblick auf die Grenzpolitik der EU im Mittelmeer bereits in einer Entscheidung, die am 23. Februar 2012 veröffentlicht wurde. In dieser Entscheidung wird festgestellt, dass die Zurückweisung von Flüchtenden auf hoher See mehrere der in der EMRK garantierten Rechte verletzt. Dem Fall (Rechtssache Hirsi Jamaa unter anderem gegen Italien, Nr. 27765/09) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Antragstellerinnen und Antragsteller, elf somalische und dreizehn eritreische Staatsangehörige, gehörten zu einer Gruppe von etwa 200 Menschen, die in drei Booten von Libyen nach Italien übersetzen wollten. Am 6. Mai 2009 wurden die Boote 35 Seemeilen südlich von Lampedusa vom italienischen Zoll und der Küstenwache aufgebracht und die Menschen aus den Booten zurück nach Tripolis verbracht. In Tripolis wurden die Antragstellerinnen und Antragsteller entgegen ihrer Weigerung gezwungen an Land zu gehen. Der italienische Außenminister berief sich bei einer Pressekonferenz am 7. Mai 2009 auf ein bilaterales Abkommen mit Libyen vom Februar des gleichen Jahres als Rechtsgrundlage für das Handeln der italienischen Behörden.

Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die Antragstellerinnen und Antragsteller sich auf die EMRK berufen können, obwohl ihre Boote in internationalen Gewässern außerhalb des italienischen Staatsterritoriums aufgebracht worden waren. Durch das Manöver mit einem Schiff unter italienischer Flagge sei Italien durch Art. 1 EMRK gebunden, den Personen auch im extraterritorialen Herrschaftsbereich die Geltung der für sie einschlägigen Menschenrechte der EMRK zu gewährleisten. Im Weiteren stellte der EGMR weitere gravierende Verstöße gegen die EMRK fest: Die Antragstellerinnen und Antragsteller seien in Libyen dem Risiko unmenschlicher und entwürdigender Behandlung ausgesetzt (Art. 3 EMRK). Zudem seien sie von einer willkürlichen Abschiebung aus Libyen in ihre Herkunftsländer bedroht  (Art. 3 EMRK). Bei der der Aktion handele es sich überdies um eine verbotene Kollektivausweisung  (Art. 4 des IV. Zusatzprotokolls). Durch das Vorgehen der italienischen Behörden sei den Antragstellerinnen und Antragsteller ganz grundsätzlich ein effektiver Rechtsschutz unmöglich gemacht worden (Art. 13 i. V. m. Art. 3 EMRK und Art. 4 des IV. Zusatzprotokolls).
 
Das Urteil des Gerichtshofs bedeutet eine erhebliche Stärkung des Schutzes von Flüchtenden an den Außengrenzen der Europäischen Union durch den Rekurs auf Menschenrechte und menschenrechtliche Prinzipien im Völkerrecht. In seiner Urteilsbegründung geht der EGMR unter anderem ausführlich darauf ein, dass Libyen bereits im fraglichen Zeitraum (noch unter Gaddafi) seinen Verpflichtungen zum Schutz von Flüchtlingen in keiner Weise nachgekommen sei. Schutzsuchende würden willkürlich inhaftiert, gefoltert und seien unmenschlichen Unterbringungsbedingungen, mangelnder Hygiene und unzureichender medizinischer Versorgung ausgesetzt gewesen. Angesichts der systematischen Verletzung von Menschenrechten in Libyen habe dies den italienischen Stellen aus zahlreichen Berichten bekannt sein müssen.
 
Ergänzend sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Pflicht zur Seenotrettung ausdrücklich im internationalen Seerecht verankert ist. Insbesondere Art. 98 SRÜ (UN Seerechtsübereinkommen) bestimmt, dass jeder Staat den Kapitän eines seine Flagge führenden staatlichen oder privaten Schiffes dazu verpflichten muss, jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, so schnell wie möglich zur Hilfe zu eilen. Diese Pflichten sind auch in weiteren internationalen Übereinkommen, insbesondere im SOLAS-Übereinkommen (Internationales Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See), dem SAR-Übereinkommen (Internationales Übereinkommen über den Such- und Rettungsdienst auf See) und dem Bergungsübereinkommen verankert. Weiterhin gibt es Richtlinien der International Maritime Organization (IMO) bezüglich des Umgangs mit Schiffsbrüchigen auf See, die die Pflichten der Staaten und der Privatpersonen weiter konkretisieren. Auch der UNHCR hat insbesondere bezüglich der Seenotrettung von Flüchtenden und anderen Schutzbedürftigen Empfehlungen formuliert. Bei der Pflicht zur Seenotrettung handelt es sich daher um einen Rechtsgrundsatz von solcher Anwendungsdichte, dass er zu Völkergewohnheitsrecht geworden ist. Er gilt daher auch im Hinblick auf Staaten, die einschlägigen Menschenrechtsverträgen nicht beigetreten sind. Ein  ziviles Schiff, das Flüchtende aus see-untauglichen Booten rettet, kann daher nie ein „Schlepper“ sein, sondern kommt nur einer der Kernpflichten des Seerechts nach.

Sofern Personen nach der Rettung dann im Bereich des Küstenmeers oder an den Seegrenzen um internationalen Schutz ersuchen, sind sie ebenso zu behandeln wie Geflüchtete, die einen Schutzantrag auf festem Boden stellen. Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 3 der EU-Asylverfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU) über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) verpflichtet, „Asylanträge, die im Hoheitsgebiet – einschließlich der Grenze oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten“ gestellt werden, entgegenzunehmen. Die Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie im Küstenmeer wurde in einer von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Studie (SEC (2007) 691)  bestätigt. Aus dieser Anwendbarkeit des EU-Asylrechts resultiert die Pflicht, den geretteten Personen die Möglichkeit zur Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz gegenüber den Behörden zu geben. Die Schutzsuchenden haben demnach einen Rechtsanspruch, in den nächsten sicheren Hafen auf europäischem Territorium verbracht zu werden. Das seerechtliche Kriterium der „Sicherheit“ ist hierbei im Licht flüchtlingsrechtlicher Bestimmungen auszulegen. „Push-back“-Aktionen auf dem Mittelmeer sind aus diesem Grund unzulässig.
 
Damit eng verwoben ist das Verbot des „refoulement“ von Geflüchteten und subsidiär Schutzberechtigten,  das heißt das Verbot einer Abschiebung in Gebiete, in denen Verfolgung, Misshandlung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Das  Verbot des refoulement ergibt sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention (Art. 33 GFK), der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 3 EMRK), dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 6,7 CCPR) und dem UN-Antifolterabkommen (Art. 3 CAT) und entspricht in der Rechtsdichte ebenfalls Völkergewohnheitsrecht. Das heißt, dass ein Zurückweisen, Zurückeskortieren, Verhindern der Weiterfahrt,  Zurückschleppen bzw. die Verbringung in nicht zur EU gehörige Küstenländer völkerrechtlich unzulässig ist, solange das Verfahren der administrativen und gerichtlichen Überprüfung des individuellen Schutzbegehrens der potentiell schutzbedürftigen Betroffenen im Einzelfall auf europäischem Territorium nicht abgeschlossen ist. Aufgrund der völkerrechtlichen Zurechnungskriterien und des Umgehungsverbotes führt die kooperative Einschaltung von Behörden aus Drittstaaten nicht zu einer Entpflichtung der europäischen Grenzschutzorgane. „Pull-back“-Aktionen in Drittstaaten wie zum Beispiel Libyen, in denen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, sind daher völkerrechtlich nicht erlaubt. Der EGMR hat im Verfahren  Hirsi Jamaa und andere gegen Italien (Nr. 27765/09) klargestellt, dass die europäischen Grenzschutzbehörden auch bei exterritorialen Grenzschutzmaßnahmen an diese Regelungen gebunden sind. Diese Grundsätze  finden sich ebenso in  Art. 78 AEUV (Vertrag über Arbeitsweise der EU) wieder, mit dem eine gemeinsame Politik der Europäischen Union im Bereich Asyl/Internationaler Schutz und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll, sowie in Art. 18, 19, 47 und 52 der Europäischen Charta der Grundrechte.
 
Die Entscheidung des EGMR im Verfahren  Hirsi Jamaa und andere gegen Italien (Nr. 27765/09) unterstreicht ein weiteres Mal, dass die Staaten der Europäischen Union sich ihrer Verpflichtung, effektiven Flüchtlingsschutz zu gewähren, nicht dadurch entziehen dürfen, dass sie Schutzsuchenden den Zugang zum eigenen Territorium verweigern. Nicht nur, dass hier – weiterhin aktuell durch die „Migrationspartnerschaften“ mit afrikanischen Staaten – die EU Außenpolitik deutlich in ihre menschenrechtlichen Schranken gewiesen wird. Der EGMR hat – wie schon in vorangegangenen Entscheidungen – klargestellt, dass die Vertragsstaaten ihre Verpflichtungen aus der EMRK nicht umgehen können, indem sie untereinander oder mit anderen Staaten Vereinbarungen treffen, die dazu führen, dass – zum Beispiel wie im vorliegenden Fall – der Grundsatz der Nichtzurückweisung nicht oder nicht ausreichend beachtet wird. Damit wird eindeutig das Verständnis von Menschenrechten als Schutzpflichten der Konventions-Beitrittsstaaten und als subjektiven Rechten einzelner Menschen gegenüber Nationalstaaten bekräftigt.

Eine Menschen-Pflicht zur Seenotrettung

Die EU-Kommission hatte im Juni 2007 ein „Grünbuch über das künftige Gemeinsame Europäische Asylsystem“ vorgelegt, das noch die Absicht formulierte, „einen einheitlichen Schutzraum für Flüchtlinge” zu schaffen, in dem die „vollständige und uneingeschränkte Anwendung der Genfer Konvention“ gewährleistet werden sollte. Die EU-Kommission bekannte sich damals zu einer rechtlichen Harmonisierung auf hohem Niveau. Heute ist die Realität an den EU-Außengrenzen von diesem Ziel weit entfernt. Die Transnationalisierungsprozesse, die eigentlich mehr Homogenität ins Flucht-Recht bringen sollten, tragen durch Fragmentierungen zu einer Abschwächung von menschenrechtlicher Verantwortung für den Schutz Flüchtender bei. Maßnahmen der Grenzkontrolle werden immer weiter ins Vorfeld der Staatsgrenzen – bis in die Hohe See oder in den Hoheitsbereich von Drittstaaten hinein – verlagert. Diese strategische sozialräumliche Neuausrichtung führt unweigerlich zu einer Peripherisierung des völkerrechtlichen Schutzregimes zu Lasten von flüchtenden Menschen. Rechtsstaatliche Kontrollen des „doing border“  werden durch „off shoring“ erschwert. Die Praxis des europäischen Grenzregimes – insbesondere im Mittelmeer – verstößt in wesentlichen Punkten gegen Grundsätze und Einzelnormen des Völkerrechts.  Dennoch bleibt dieses auf Abwehr gerichtete Grenzregime weiterhin common ground der nationalstaatlichen und europäischen Außenpolitik, obwohl spätestens seit dem Urteil des EGMR im Verfahren  Hirsi Jamaa und andere gegen Italien (Nr. 27765/09) explizit dessen Völkerrechtswidrigkeit festgestellt wurde. Menschen auf der Flucht bezahlen in jedem Jahr aufs Neue dieses „doing border“ mit ihrem Leben. Was also bleibt zu tun? Wenn die Zivilgesellschaften Europas den Grundsatz des Anspruchs auf ein rechtsstaatliches Verfahren und den Schutz von Menschenrechten als Ausdrucksformen des Prinzips der Menschenwürde nicht zur Disposition stellen wollen, dann müssen sie – solange es keine belastbaren staatlichen Programme zur Seenotrettung gibt, die Menschen in sichere Häfen nach Europa bringen – diese Lücke mit dem Engagement für die zivile Seenotrettung schließen. Michel Foucault schreibt 1984 in “Face aux gouvernements, les droits de l’homme": “People's suffering must never be allowed to remain the silent residue of politics. It grounds an absolute right to stand up and to challenge those who hold power.” ("Menschliches Leid darf niemals nur der stumme Rest von Politik sein. Es begründet vielmehr ein absolutes Recht aufzustehen und diejenigen, die an der Macht sind, herauszufordern.") Nichts davon hat bis heute seine Gültigkeit verloren.
Susanne Nothhafft
Susanne Nothhafft, Foto: KSH München
Die Juristin Susanne Nothhafft ist seit 2012 Professorin für Recht in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule am Campus München.