Der von der Erzdiözese unterstützte Verein SOLWODI (Solidarity with Women in Distress) hilft Frauen in Not. Am Standort München kümmert sich Sozialarbeiterin Isabel Morawek um Geflüchtete aus Westafrika. Im Interview erzählt sie, dass nahezu alle ihre Klientinnen Gewalt und sexuelle Ausbeutung erlebt haben, ihr Leid für deutsche Behörden jedoch kaum eine Rolle spielt.
Isabel Morawek von SOLWODI
Frau Morawek, welche Rolle spielt geschlechtsspezifische Gewalt für geflüchtete Frauen, die von Ihnen begleitet werden?
Isabel Morawek: Das spielt eine sehr große Rolle. Die meisten der Frauen aus Westafrika, die wir betreuen, kommen aus ärmlichen Verhältnisse und haben seit ihrer Kindheit Gewalt erlebt. Das geht über Zwangshochzeiten bis zur weiblichen Genitalverstümmelung, wie sie vor allem in Sierra Leone vorkommt. Von den wenigen, die es schaffen, aus solchen Verhältnissen zu fliehen, erleben die meisten auch auf ihrer Flucht Gewalt und sexuelle Ausbeutung.
Diese Leiderfahrungen enden für viele Frauen auch in Deutschland nicht. Statt ihre Traumata verarbeiten zu können, müssen sie sich durch ein kompliziertes Asylsystem kämpfen und leben in Flüchtlingsunterkünften, die für Frauen mit dieser Geschichte ein ungeeignetes Umfeld darstellen. Währenddessen schwebt das Damoklesschwert der Abschiebung ständig über ihnen. Allein die Angst, wieder in die Gewalt zurück zu müssen, sorgt häufig für Retraumatisierung.
Wie hilft SOLWODI in München den betroffenen Frauen?
Isabel Morawek: Meine Kollegin und ich versuchen vor allem, die Frauen und ihre Geschichten zu verstehen. Wir helfen ihnen beispielsweise mittels Kommunikation. Ein Großteil unserer Beratungen findet auf Englisch statt. Meist sind wir die ersten, denen sie ihre Gewalterlebnisse anvertrauen und die ihnen richtig zuhören – in Behörden ist dafür häufig einfach keine Zeit. Dadurch kommt es zu Missverständnissen, die – einmal in den Akten – im Nachhinein kaum noch zu ändern sind. Deshalb begleiten wir unsere Klientinnen auch zu Anhörungen und arbeiten mit verschiedenen Juristinnen zusammen.
Auf welche Hürden stoßen ihre Klientinnen in Deutschland?
Isabel Morawek: Weibliche Genitalverstümmelung zählt in Deutschland zwar als Asylgrund – wenn Frauen aber in Deutschland bleiben wollen, weil ihren Töchtern beispielsweise im Herkunftsland Nigeria das gleiche Schicksal drohen würde, wird ihnen das häufig nicht geglaubt. Oder ihnen wird geraten, einfach in einen anderen Teil des Landes zurückzukehren, in dem weibliche Beschneidung nicht verbreitet ist. Da wird nicht verstanden, dass vor allem allein erziehende Mütter auf die sozialen Strukturen ihrer Herkunftsregionen angewiesen sind, um zu überleben. Nur dort könnten sie mit ihrer oftmals schlechten Ausbildung eine Arbeit finden und ihre Familie durchbringen. Ohne ihre Gemeinschaft ist das kaum möglich.
Zusätzlich machen psychische Belastungen und Traumata die Frauen in dieser existenziellen Notsituation besonders vulnerabel und anfällig für erneute Ausbeutung und Reviktimisierung. Diese Gemeinschaften sind also einerseits alternativlos für die Frauen, stellen andererseits aber für sie und ihre Töchter eine große Gefahr dar. Eine Rückkehr ist damit eigentlich unmöglich.
Zu geschlechtsspezifischer Gewalt gegenüber Frauen gehören auch Vergewaltigung und sexuelle Ausbeutung. Werden die als Asylgrund anerkannt?
Isabel Morawek: Leider ist eine Vergewaltigung in unserem Asylsystem kaum relevant oder ein Schutzgrund. Je nachdem, ob sie im Herkunftsland, auf der Flucht oder hier in Deutschland stattgefunden hat, werden die Beweise und Glaubwürdigkeit der Frauen häufig angezweifelt. Psychiatrischen Gutachten stellen für die Frauen eine Möglichkeit dar, aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation ein Abschiebeverbot zu erhalten und dadurch für eine gewisse Zeit in Deutschland bleiben dürfen.
An diese Gutachten werden jedoch extrem hohe Anforderungen gestellt. Sie sind extrem aufwendig, teuer und werden deshalb von fast niemandem gemacht. Natürlich müssen deutsche Behörden und Gerichte den Wahrheitsgehalt der Fluchtgeschichten untersuchen – für die betroffenen Frauen setzt sich ihre Leidgeschichte allerdings nahtlos fort, wenn man ihnen nicht einmal glaubt.
Welche anderen Möglichkeiten haben ihre Klientinnen, einer Abschiebung zu entgehen?
Isabel Morawek: Bei Fällen von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung – früher oft als Zwangsprostitution bezeichnet – gibt es auch die Möglichkeit, für den Zeitraum eines Strafverfahrens gegen die Menschenhändler einen Aufenthalt in Deutschland zu erhalten. Allerdings kommt es fast nie zu Prozessen, da Ermittlungen in dem Kontext Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung meist im Sande verlaufen und die Menschenhändler nicht zu fassen sind.
Asylverfahren dauern in Deutschland meist sehr lang und sind sehr kompliziert – schaffen Sie es, Ihre Klientinnen dabei durchgängig zu begleiten?
Isabel Morawek: Aktuell arbeitet neben mir noch eine weitere Sozialarbeiterin bei SOLWODI in München. Jährlich haben wir zwischen 70 und 90 Frauen, die wir langfristig begleiten, ersten Kontakt hatten wir letztes Jahr mit knapp 140 Frauen. Vergleicht man das mit 2018, hat sich die Zahl halbiert – was aber nicht etwa damit zu tun hat, dass sich die Situation verbessert hat. Es liegt einfach daran, dass wir personell nicht mehr schaffen. Der Bedarf ist immer schon größer gewesen, als wir bewältigen können. Langfristig ist es unser Ziel, uns breiter aufzustellen und mehr Mitarbeiterinnen zu gewinnen. Dafür sind wir aber auf Zuschüsse und vor allem Spenden angewiesen.
Wie läuft die langfristige Begleitung einer Klientin ab?
Isabel Morawek: Unsere Grundarbeit ist die psychosoziale Beratung und Begleitung innerhalb eines sicheren Raums. Zunächst identifizieren wir in den Geschichten unserer Klientinnen die Aufträge an uns als Sozialarbeiterinnen und klären, in welchen Punkten die Frauen selbst aktiv werden müssen. Häufig geht es wie bereits erwähnt um asyl- und aufenthaltsrechtliche Angelegenheiten. Da bereiten wir die Frauen beispielsweise auf die Interviews im BAMF vor. Oft begleiten wir sie auch dorthin und versuchen, Missverständnisse zu vermeiden.
Zum Beispiel wird in vielen Herkunftsländern das Wort „Schule“ auch als Bezeichnung für den Kindergarten genutzt. Die Auswirkungen sind erheblich, wenn Analphabetin von deutschen Behörden versehentlich eine sechsjährige Schulbildung attestiert wird. Genauso kommt es ohne unsere Begleitung vor, dass Frauen erzählen, in ihrem Heimatland ihren Freundinnen hobbymäßig Frisuren geflochten zu haben. Wenn in den Akten daraus aber eine Friseurausbildung gemacht wird, hat das folgenschwere Auswirkungen auf das Asylverfahren.
Wir helfen allerdings auch bei anderen Behördengängen, unterstützen bei der Suche nach Unterkünften, psychiatrischer und therapeutischer Anbindung, Erarbeiten sprachliche und berufliche Perspektiven Deutschkursen oder der Kinderbetreuung und begleiten die Frauen im Kontakt mit der Polizei, wenn sie zum Beispiel gegen Menschenhändler vorgehen wollen. Das trauen sich aber nur die wenigsten.
Welche Perspektiven haben die Frauen, die Sie begleiten?
Isabel Morawek: Wir wollen die Frauen selbstermächtigen, doch das ist sehr schwer. Die meisten haben keine Schulbildung, haben Gewalt erlebt und müssen aus dieser vulnerablen Position heraus in einem System bestehen, das sie – auch in Deutschland – strukturell benachteiligt. Leider haben die wenigsten Asylverfahren Erfolg. Wir können nur auf der individuellen Ebene versuchen, unsere Klientinnen zu befähigen und so gut es geht zu entlasten, damit sie ihrerseits Resilienz aufbauen können.
Mit Hilfe der Erzdiözese München und Freising konnten wir da ein Gruppenangebot entwickeln, das die Frauen einerseits durch Wissensvermittlung befähigen soll und andererseits einen Rahmen schafft, in einer Gruppe gemeinsam die Seele baumeln zu lassen. So konnten wir zum Beispiel traumasensibles Yoga und einen Afrodance-Workshop veranstalten. Demnächst ist auch noch ein gemeinsamer Kochkurs geplant. Außerdem bieten wir ein Elterntraining an, das die Frauen entlasten soll und ihnen gleichzeitig hilft, eine gute Erziehung zu gewährleisten.
Die individuelle Begleitung, die SOLWODI anbietet, kann die strukturellen Probleme aber kaum ausgleichen – was kann man dagegen tun?
Isabel Morawek: Wählen gehen zum Beispiel – am 9. Juni ist Europawahl. Migrationspolitik und der Umgang mit Flüchtlingen gehören zu den wichtigsten Themen innerhalb der EU. Hier werden auch die Weichen dafür gestellt, dass beispielsweise geschlechterspezifische Gewalt europaweit als Fluchtursache anerkannt wird. Auch die Entscheidung, Asylverfahren an die EU-Grenzen zu verlegen, ist eine europapolitische Frage. Wie die Wähler sich entscheiden, hat also erhebliche Auswirkungen auf das Schicksal der Frauen, die bereits nach Europa gekommen sind oder sich in Zukunft auf die Flucht begeben werden.
Grundsätzlich würde ich mir auch wünschen, dass sich die gesellschaftliche Debatte rund um Flucht ändert: Weg von Vorurteilen, hin zu mehr Zuhören und Empathie. Weniger darüber nachdenken, was uns Menschen wegnehmen könnten, sondern mehr daran denken, was ihnen zusteht, nämlich Gerechtigkeit, ein Leben ohne Ausbeutung und Benachteiligungen.
Text: Korbinian Bauer, Redakteur beim Sankt Michaelsbund, Mai 2024