"Wir müssen erspüren, was die Menschen wirklich benötigen" Ein Gespräch mit Msgr. Thomas Schlichting, Leiter des Ressorts Seelsorge und kirchliches Leben über neue pastorale Ansätze und zeitgemäße Seelsorge

 
Was bedeutet Seelsorge am Puls der Zeit? Wie erreicht man Menschen, die ein distanziertes Verhältnis zur Kirche haben? Und welche wichtige Rolle nehmen Ehrenamtliche bei der Seelsorge im Erzbistum ein? Ein Gespräch mit Monsignore Thomas Schlichting, Ressortleiter Seelsorge und kirchliches Leben im Erzbistum.
 
Mann in Schutzanzug hält Maske vor Nase
Zu Pandemiebeginn wurde im Erzbistum die Einsatzgruppe Seelsorge gegründet, in der Seelsorgerinnen und Seelsorger nach einer entsprechenden Schulung Covid-Erkrankte besuchten, um ihnen und ihren Angehörigen seelsorglichen Beistand zu leisten
Monsignore Schlichting, in der Beschreibung Ihres Zuständigkeitsbereichs im Ordinariat heißt es: „Vom Menschen ausgehend dient das Ressort der Ermöglichung verschiedener, auch neuer Handlungsfelder der Pastoral und hat dabei den Menschen in seiner Personalität im Blick.“ Ein hoher Anspruch, vor allem in Zeiten, in denen die Kirche die Menschen nur noch wenig zu erreichen scheint.

Monsignore Thomas Schlichting: Ich denke „vom Menschen ausgehend“ ist ein wichtiger pastoraler Ansatzpunkt. Auf diese Weise ist der Ansatz weniger der, ein festes Gebiet mit seelsorglichen Angeboten zu versorgen, sondern man versucht hierbei zu erspüren, was die jeweiligen Menschen in einem bestimmten Raum wirklich benötigen. Das heißt nicht, dass wir nicht in der Fläche weiter präsent sind und dass es auch weiterhin wichtig ist, dass es Kirchen, Pfarreien und feste Orte gibt, wo Seelsorge geschieht. Aber wir sollten eben zunehmend vom Menschen her unsere Angebote gestalten und nicht einfach sagen: „Dieses Gebiet versorgt XY.“ Das ist eine Transformation, die aber nicht neu ist, sondern uns schon die vergangenen Jahrzehnte beschäftigte und mit den Feldern der kategorialen Seelsorge auch immer präsent war. Aber es ist eben der besondere Anspruch unseres Ressorts, dass wir hierbei vom Menschen ausgehen.

Liegt diesem „vom Menschen ausgehend“ vor allem das biblische Menschenbild zugrunde oder was bedeutet dies konkret?

Monsignore Schlichting: Grundlage ist natürlich das biblische Menschenbild. Ganz konkret können wir uns hierbei zum Beispiel am Satz des Blinden im Evangelium orientieren, der Jesus begegnet und ihm hinterherschreit, worauf Jesu ihn fragt: „Was willst Du, dass ich Dir tue?“ Das ist die Haltung, in der wir den Menschen begegnen sollten. Darum geht es: Zunächst einmal zu fragen: „Was braucht ihr denn? Was möchtet ihr von Kirche?“, und nicht einfach von Vornherein schon genau zu wissen, in welcher Weise wir sie irgendwohin bewegen oder ihnen Inhalte vermitteln wollen.
 
Auf dem Foto ist Msgr. Thomas Schlichting zu sehen
Monsignore Thomas Schlichting ist Ordinariatsdirektor und leitet das Ressort Seelsorge und kirchliches Leben im Erzbistum
Wie orientieren Sie sich mit Seelsorgeangeboten am Puls der Zeit?

Monsignore Schlichting: Ich beobachte immer wieder Situationen, in denen Menschen sehr gut seelsorgliches Wirken brauchen und annehmen. Ein Beispiel, das sich in den vergangenen Jahrzehnten - und damit als ein noch relativ neues Feld - herausgebildet hat, ist die Notfallseelsorge. In konkreten Situationen, in denen Menschen einen Angehörigen verloren haben, tut es gut, eine Seelsorgerin oder einen Seelsorger an der Seite zu haben, der einfach da ist, zuhört und nicht so sehr irgendetwas aktiv gestaltet, sondern dem Menschen in dieser Situation hilft, an der sich ihm bietenden Wirklichkeit dranzubleiben. Das Angebot von Notfallseelsorgern ist mittlerweile in den internationalen Ablaufplänen von Großschadenslagen fest mit integriert. Auch die Pandemie war eine Situation, die zu seelsorglichem Handeln drängte. So haben wir die Einsatzgruppe Seelsorge gegründet, in der Seelsorgerinnen und Seelsorger nach einer entsprechenden Schulung für die nötigen Hygienemaßnahmen zu den Covid-Erkrankten gegangen sind, um ihnen und ihren Angehörigen seelsorglichen Beistand zu leisten.

Wie wollen Sie explizit kirchenferne Menschen erreichen?

Monsignore Schlichting: Zum einen dadurch, dass wir aktiv auf diejenigen Gruppen zugehen, die klassischerweise nicht die Kirche als erste Anlaufstelle haben. Das ist ein zielgruppenorientiertes Handeln und erfordert Innovationen und mitunter auch die Aufarbeitung von kirchlicher Geschichte. Hier fällt mir aktuell das Projekt der Regenbogenpastoral ein, das sich damit beschäftigt, queeren Menschen seelsorgliche Angebote zu machen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, in unseren Pfarrgemeinden willkommen zu sein.
Zum anderen erreichen wir mit unseren Kernangeboten Menschen, die sich der Kirche nicht zugehörig fühlen. Bei jeder Beerdigung, bei jeder Trauung, bei jeder Taufe und allen anlassbezogenen Feiern. Bei diesen Feiern versammelt sich eine diverse Gruppe – neben Katholikinnen und Katholiken auch Menschen, die ausgetreten sind, Ungetaufte oder solche, die der Kirche äußert kritisch gegenüber stehen. Wenn hier eine gute Qualität angeboten und entsprechend auf die Situation eingegangen wird, so dass die Anwesenden merken, dass sich die Seelsorger offen zeigen und kommunikativ vermitteln, was Kirche anlässlich dieser Kasualien erfahrbar machen will, so erhält man hinterher oft eine positive Rückmeldung und erreicht somit auch kirchenferne Menschen. Allerdings besteht auch das Risiko, Beschwerden zu kriegen, wenn dies in diesen Situationen nicht gelingt.
 
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Kritik ist immer ernst zu nehmen. Aber wir sind mittlerweile auch in einer pluralen und diversen Kirche, und nicht alle unsere Angebote können allen Menschen etwas geben.
Monsignore Schlichting
 
Beschwerden gibt es ja mitunter auch von vielen klassischen „treuen Kirchgängern“, die mit pastoralen Innovationen nur wenig anfangen können und sich mittlerweile ein wenig heimatlos in der Kirche fühlen. Was sagen Sie dieser Gruppe?

Monsignore Schlichting: Ich denke, Kritik ist immer ernst zu nehmen. Aber wir sind mittlerweile auch in einer pluralen und diversen Kirche, und nicht alle unsere Angebote können allen Menschen etwas geben. Ich frage bei einer konkreten Beschwerde oft nach: „Wodurch fühlen Sie sich in Ihrer religiösen Praxis und Ihrem Leben hierdurch behindert oder beeinträchtigt? Ist diese oder jene Form von Gottesdienst etwas, das man Ihnen wirklich vorsetzt oder haben Sie davon nur in der Zeitung gelesen und sagen nun, dass das ganz und gar nicht geht?“ Da muss man gut unterscheiden.

Was raten Sie Pfarreien bei solchen Streitfällen?

Monsignore Schlichting: Auf keinen Fall einfach Dinge streichen, die es in bewährter Weise gab, und den Menschen stattdessen einfach etwas im Gottesdienst vorsetzen, wo sie hinterher nur sagen: „Da kann ich nicht mitgehen“. Man muss hier geeignete Formen finden. Andererseits muss man nicht ausgerechnet in einen Jugendgottesdienst gehen, wenn einen die Musik aufregt, die dort zur Gestaltung gespielt wird.

Wie schätzen Sie die Bedeutung von Ehrenamtlichen im Bereich der Seelsorge ein?

Monsignore Schlichting: Die Kooperation mit Ehrenamtlichen ist in allen Seelsorgebereichen etwas ganz Zentrales. Wenn wir Angebote attraktiv gestalten wollen, versuchen wir stets, dass diese nicht immer nur von Hauptamtlichen getragen werden, sondern dass auch Ehrenamtliche hier beteiligt sind. Und es zeigt sich in der gelebten Praxis regelmäßig, wenn etwas ankommt und gut gestaltet wird, dass es auch immer Menschen gibt, die sich hier miteinbringen möchten. Ob das nun bei der Gottesdienstgestaltung ist, beim Mitwirken in den Kirchenchören oder in der Kinder-, Jugend- und Ministrantenarbeit .
Die Gestaltung von Seelsorge mit Ehrenamtlichen ist immens wichtig. Gleichzeitig braucht es aber auch Professionalität und Hauptamtliche mit einer guten Ausbildung, um die vorher schon erwähnte Qualität der einzelnen Angebote leisten zu können. Wichtig sind beide Säulen der seelsorglichen Arbeit.

Welche bedarfsorientierte und zeitgemäße Seelsorgeangebote bei uns im Erzbistum sind aus Ihrer Sicht neben den bereits genannten noch erwähnenswert?

Monsignore Schlichting: In der Jugendpastoral konnten wir während der Pandemie sehr viele Angebote online durchführen und entwickeln. Wir setzen im Seniorenbereich mit sehr kreativen und guten Ideen eigene Akzente, an denen ganz zeitgemäß Menschen sich auch entsprechend beteiligen können. Beteiligung ist hier besonders wichtig, um in diesem Lebensabschnitt einer Vereinsamung entgegenzuwirken. Auch im Hospiz- und Palliativbereich besteht ein dringender Seelsorge-Bedarf. Die Menschen schätzen es sehr, wenn sie in dieser letzten Lebensphase begleitet werden und in einem multiprofessionellen Team auch Seelsorgerinnen und Seelsorger als Ansprechpartner für sie zur Verfügung stehen.

Das Gespräch führte Florian Ertl, stv. Chefredakteur der Münchner Kirchenzeitung, Mai 2022
 
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Seelsorge und kirchliches Leben
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Ressortleiterin, Ordinariatsdirektorin
Ruth Huber

Seelsorge am Puls der Zeit

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