„Solange es Krisen gibt, braucht es die Insel!" Die ökumenische Beratungsstelle "Münchner Insel" wird 50

Seit 1972 Jahren berät die „Münchner Insel“ im Untergeschoss am Marienplatz Menschen in Krisensituationen – und bietet damit zeitgemäße Seelsorge im öffentlichen Raum. Im Jubiläumsjahr ist diese Arbeit so nötig wie selten zuvor.
 
Münchner Insel
Insel im Verkehrsfluss: Die ökumenische Beratungsstelle im Untergeschoss am Münchner Marienplatz steht allen Menschen offen.
Das Untergeschoss am Marienplatz ist ein Ort des Durchhastens: Die einen wollen zur U-Bahn, andere zur S-Bahn. Geschäfte haben hier ihre Eingänge. Alles ist in Bewegung. Dunkle Orangetöne dominieren die Gänge. Doch im westlichen Eck gibt es ein helles Fenster. Etwa drei Meter breit ist der verglaste Bereich. „Münchner Insel“ ist draußen zu lesen und: „Offen für ein Gespräch“. Wer hineingeht, wird sofort von Sybille Löw oder einem anderen Berater begrüßt. „Kein Sekretariat, keine Barrieren“, sagt die 61-Jährige. Das ist seit 50 Jahren das Konzept der niederschwelligen Beratungsstelle. Wer ein Problem hat, spricht sofort mit einem kompetenten Experten. Löw ist Theologin und Psychotherapeutin und die katholische Leitung in der ökumenischen Doppelspitze der Einrichtung. In ihrem Team arbeiten auch Sozialpädagogen, Traumafachberater und eine Juristin. Egal ob Arbeit, Schule, Identitätssuche, psychische Erkrankungen, Sucht- oder Geldprobleme: Für jedes Anliegen, das die Klienten mit in „die Insel“ bringen, gibt es eine Spezialistin oder einen Spezialisten.
 
Olympia und das Zweite Vatikanische Konzil
 
„Als wir die Beratung begonnen haben, war das absolutes Neuland“, erinnert sich Norbert Mohr. 1973 kam er als Seelsorger nach München, um dort die neue Beratungsstelle mitzuleiten und aufzubauen. Die Idee für Seelsorge im öffentlichen Raum war sechs Jahre zuvor unter den evangelischen Dekanen entstanden. Aufgegriffen wurde sie zunächst in Frankfurt, wo 1968 eine Beratungsstelle im Untergeschoss der Hauptwache eröffnete. Als im Zuge der Olympischen Spiele Anfang der 70er-Jahre die U-Bahn gebaut wurde, sahen zwei Männer darin auch eine Chance für die Kirche: der katholische Weihbischof Ernst Tewes und der evangelische Dekan Theodor Glaser. Getragen vom ökumenischen Geist, der nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wehte, wollten sie die Seelsorgs- und Beratungsangebote aus den Kirchen in den Alltag der Menschen bringen – und das gemeinsam. Kirche im Wandel traf auf eine Stadt im Aufbruch.
 
Münchner Insel - Beratung am Telefon
Bei der Münchner Insel finden viele Gespräche inzwischen auch telefonisch oder per Videochat statt.
Hilfe suchen im Schutz der Menge
 
„Die Kirche sollte unter den Leuten sein, aber nicht als Kirche erscheinen“, erinnert sich Mohr. „Wir hatten nicht mal ein Kreuz.“ Nichts sollte Hilfesuchende abschrecken. Man konzipierte die Beratungsstelle als „Insel im Verkehrsfluss“, erklärt der heute 88-Jährige den Namen der Einrichtung. Von Anfang an wollte die Insel Hilfe zu den Problemen der Menschen bringen. Egal ob es um Existenznöte, Krisenintervention nach einem Unfall oder auch nur Nadel und Faden für einen ausgerissenen Knopf ging. „Wir haben die simpelsten Dinge gemacht und die kompliziertesten“, sagt Mohr. Ein Angebot für ratsuchende Pendler, für die der Gang in eine Kirche eine Hürde dargestellt hätte. Zudem sorgt der Standort im am stärksten frequentierten U-Bahnhof der Stadt bis heute dafür, dass Besucherinnen und Besucher die Beratungsstelle im Schutz der Masse betreten und verlassen können.
 
Kooperation mit weiterführenden Fachberatungen
 
Anonymität und Diskretion werden in der Münchner Insel seit jeher großgeschrieben. Daten werden keine erfasst. Auch einen Termin braucht man nicht. „Jesus hat ja auch keine Termine vergeben“, sagt Löw, „sondern hat die Not der Menschen gesehen und ist auf sie zugegangen, um zu helfen“. Wer zur Münchner Insel kommt, sucht sich meist zum ersten Mal Hilfe. Manchmal mit einem bestimmten Problem, oft aber auch mit einem ganzen Bündel. Etwa wenn eine psychische Erkrankung zum Jobverlust führt, man dadurch in finanzielle Not gerät und infolgedessen von Wohnungslosigkeit bedroht ist. „Das fungieren wir als Clearingstelle“, erklärt Löw. Zunächst wird die Situation der Klienten „geklärt“: Welche Probleme gibt es? Was sind ihre Ursachen? Welche Ressourcen stehen dem Hilfesuchenden zur Verfügung? Danach wird entschieden, ob der Klientin oder dem Klienten in der Insel geholfen wird, oder ob man sie für die weitere Beratung an eine Fachstelle wie die Schuldnerberatung weitervermittelt.
 
Beratung wird heute weniger stigmatisiert
 
„Die Ausnahmesituationen der Menschen sind für uns quasi Alltag“, sagt Norbert Ellinger. Der 58-jährige Pfarrer ist der evangelische Leiter der Insel. Jeden Tag besuchen im Schnitt mehr als 40 Klienten die Einrichtung. Von Montag bis Freitag sind tagsüber immer drei Mitarbeiter im Dienst. Mindestens einer ist immer frei für mögliche Hilfesuchende. Im letzten Jahr empfing die Beratungsstelle so insgesamt 10.185 Besucherinnen und Besucher. Viele Gespräche finden inzwischen auch telefonisch oder per Videochat statt. „Blended Counceling“ wird diese Mischung aus Face-to-Face und Onlineberatung genannt, die sich seit der Corona-Pandemie etabliert hat. Dass heute anders beraten wird als bei der Gründung der Münchner Insel 1972, hat aber nicht nur mit den veränderten technischen Möglichkeiten zu tun, weiß Ellinger. Gleichzeitig habe sich auch der Umgang mit Beratungsangeboten gewandelt. Früher galten Menschen noch schnell als schwach, wenn sie sich in Krisensituationen Hilfe suchten. Heute ist das anders, so die Erfahrung der Insel-Mitarbeiter. Gerade junge Menschen nutzen Beratungsangebote demnach nicht mehr nur als „letzten Ausweg“, sondern als zusätzliche Ressource bei der Bewältigung ihres Alltags.
 
Neue Räume, gleicher Auftrag
 
Das spiegelt auch die Einrichtung selbst wider: Heute haben die Räume, in denen die Insel untergebracht ist, nichts mehr mit denen zu tun, in denen die Beratungsstelle im April 1972 eingeweiht wurde. Damals verband die Stadt drei der typischen orangenen Kioske im Marienplatz-Untergeschoss zu einer Einheit. Nur 36 Quadratmeter standen den Beratern zur Verfügung, bis die Insel im Zuge des Umbaus des Marienplatzes 2015 an ihren heutigen Standort zog. Drei helle Beratungszimmer stehen seitdem zur Verfügung. Die Miete übernimmt die Stadt München.
 
Jubiläum mit Beigeschmack
 
Im fünfzigsten Jahr ihres Bestehens gibt es für die Münchner Insel abseits ihres Jubiläums aber wenig zu feiern. „Wir sind in einer brenzligen Situation“, sagt Ellinger. Nach mehr als zwei Jahren Pandemie leiden die Menschen nun zusätzlich unter den Belastungen des Ukrainekriegs. Die Energiekrise und die Inflation treffen inzwischen auch Haushalte, die bisher gut über die Runden gekommen sind. Und der Winter kommt erst noch. Seit dem Zweiten Weltkrieg sei München nicht mehr in einer solchen Situation gewesen, sagt Ellinger. Gerade jetzt merke sein Team, wie notwendig Gesprächs- und Beratungsangebote für die Menschen sind. „Es wird deutlich, dass die Münchner Insel nicht nur im Herzen der Stadt liegt, sondern auch am Herzen der Stadt operiert.“
 
Münchner Insel - Beratungsgespräch
Ukraine-Krieg, steigende Energiepreise, Inflation - gerade jetzt merke das Team der Münchner Insel, wie notwendig Gesprächs- und Beratungsangebote für die Menschen sind.
Solange es Krisen gibt, braucht es die Insel
 
Gleichzeitig sorgen sich die Leiter der Beratungsstelle um die Zukunft. Wenn die Ressourcen und die finanziellen Mittel knapp werden, ist der soziale Bereich besonders hart von Sparmaßnahmen betroffen. Dabei müsste die Stadt gerade in dieser Zeit in diesem Bereich ihr Engagement noch verstärken. „Eigentlich bräuchte es in der Stadt ganz viele Inseln“, appelliert Sybille Löw. Dass es zumindest die Beratungsstelle im Untergeschoss des Marienplatzes aber auch in Zukunft geben wird, daran hat Norbert Ellinger keine Zweifel. Solange die Menschen in Krisen geraten, brauche es auch die Münchner Insel. „Und weil Krisen zu unserem Leben gehören, sollte die Münchner Insel auch weiterhin zu München gehören!“
 
Text: Korbinian Bauer, Redakteur beim Sankt Michaelsbund, Oktober 2022
 

 
Münchner Insel
Lebens- und Krisenberatung
Marienplatz - Untergeschoss
80331 München
Telefon: 089-220041
Fax: 089-223130
info(at)muenchner-insel.de
http://www.muenchner-insel.de
Ansprechpartner:
Sybille Loew, Katholische Leiterin
Norbert Ellinger, Evangelischer Leiter
Die Münchner Insel versteht sich als psychologische und psychosoziale Fachstelle in der Erzdiözese, die Menschen in akuten Konflikt-Situationen und bei drängenden Lebensfragen Krisen-, Lebensberatung und Information anbietet. Sie fungiert auch für die Ratsuchenden anderer kirchlicher und kommunaler Beratungsdienste und Seelsorgsstellen als niederschwelliges Erstberatungsangebot.

Reingehört!

Podcast "Total Sozial" zu 50 Jahre Münchner Insel.
Hier geht's zur Sendung.

"Moderne Schule des Vertrauens"

Kardinal Marx und Landesbischof Bedford-Strohm würdigen die Münchner Insel. Hier geht's zur Pressemitteilung.