Dr. Wolfgang Lingl, Krankenhausseelsorger im Fachbereich Hospiz und Palliativ, lenkt beim Diözesanen Ärztetag die Perspektive auf den Pflegebedürftigen und dessen Recht auf unbedingte Autonomie. Und fordert: Die Grenzen der technischen Entwicklung müssen erkannt und benannt werden.
"Kein Roboter kann eine solche Beziehungsarbeit leisten – und er wird es auch nie können"
Beim Diözesanen Ärztetag sprechen Sie zum Thema „Was soll ich dir tun – Wahrung der Autonomie aus der Sicht der Seelsorge“. Worum geht es in Ihrem Vortrag?
„Was soll ich dir tun“ ist ein Schriftzitat. Jesus spricht diese Worte zu einem Blinden, der ihm am Weg begegnet und ihn um Heilung bittet. Und die erste Frage von Jesus lautet: „Was soll ich dir tun?“ Das heißt, Jesus geht auf den Menschen zu und fragt, was dessen Begehr ist. Jesus stellt die Autonomie in den Vordergrund. Nicht er bestimmt, was zu tun ist, sondern der leidende Mensch, der ihn anspricht. Bei der Diskussion um den Einsatz von Robotik in der Pflege ist mein Appell als Seelsorger: Bei allem technischen Fortschritt muss die Autonomie jedes einzelnen gewahrt werden.
Welcher Autonomiebegriff liegt Ihrem Vortrag zugrunde?
Autonomie heißt für mich, dass ein Mensch selbst über sein Leben bestimmen kann, dass er die Werte die ihm gerade wichtig sind, selbst festlegen und auch Handlungen vollziehen kann, die ihm in diesem Moment wichtig sind. Es geht nicht nur darum, pflegerische Grundbedürfnisse zu erfüllen, sondern den Menschen mit seiner Not, mit seinen Bedürfnissen, aber auch mit seinen Hoffnungen, mit dem, was ihm Lebenskraft gibt, als singuläre Person wahrzunehmen.
Die Robotik kann einen großen Beitrag leisten zur Unterstützung von Menschen, die pflegebedürftig sind. Aber wenn dem Pflegebedürftigen auch die Entscheidung abgenommen wird, was er braucht, was er möchte und wie er es möchte, dann läuft das in die völlig falsche Richtung und verletzt dessen Autonomie. Denn Autonomie kann nur in Interaktion mit anderen Menschen gelebt werden. Nur durch zwischenmenschliche Beziehungen kann ein Mensch auch Person sein.
Dr. Wolfgang Lingl, ist Krankenhausseelsorger im Fachbereich Hospiz und Palliativ.
Sollte man im Vorfeld Vorkehrungen treffen und schriftlich fixieren, ob man im Bedarfsfall eine technische Assistenz in der Versorgung wünscht?
Dass der Mensch sich vorweg Gedanken macht, wie er einmal gepflegt werden möchte, ist ein gutes Ziel. Wichtig ist, die Person umfassend darüber zu informieren, was alles möglich ist – und was gerade nicht von Robotik geleistet werden kann. Denn Empathie und Achtsamkeit lassen sich nicht programmieren. Qualitativ macht das einen enormen Unterschied. Das gemeinsame Suchen nach einem für den Pflegebedürftigen guten Weg, gerade wenn er sich nicht richtig ausdrücken kann, ist das Fundament einer gelingenden Beziehung. Kein Roboter kann eine solche Beziehungsarbeit leisten – und er wird es auch nie können.
Wo sehen Sie den Unterschied zwischen Roboter und Mensch? Es ist ja nicht garantiert, dass wenn sich der Pfleger Herr Müller um mich kümmert, der chronisch überlastet ist, ständig unter Zeitdruck arbeitet und mit seinen Arbeitsbedingungen unzufrieden ist, mir die Wahl stellt, was ich möchte.
Der Unterschied ist das Bewusstsein. Die christliche und die westlich humanistische Überzeugung sind, dass das Bewusstsein eine eigene Qualitätsstufe ist und nicht materiell erzeugt werden kann. Eine Maschine weiß nicht, was sie tut, weil sie nicht das Bewusstsein hat, zu reflektieren. Sie wird von Algorithmen gesteuert. Ein Mensch kann sich zu sich selbst verhalten, sich erkennen und einen eigenen Willen entwickeln. Wenn ein Mensch, der pflegebedürftig ist, in seinem Menschsein ernst genommen werden soll, braucht er Menschen um sich herum, die Zeit haben, um offen und empathisch zu kommunizieren und nicht nur Bedürfnisse zu befriedigen. Es ist für uns Seelsorger beglückend zu sehen, wieviel Leben in diesen Menschen ist, wenn man ins Gespräch kommt, wenn sie lachen, wenn sie teilweise ironisch sind. Ein gut programmierter Roboter kann als Bezugsperson nicht ansatzweise das liefern, was eine pflegende Kraft erreicht.
Fühlen Sie sich als Seelsorger in diesem gesellschaftlichen Diskurs gehört?
Es wird sicherlich Beharrlichkeit brauchen und eine multiprofessionelle Verzahnung, die Grenzen dieser Entwicklungen zu erkennen und zu benennen. Wir sollten uns gesellschaftlich breit aufstellen, um von einer Gleichsetzung von künstlicher Intelligenz und Personalität zu warnen. Je besser die Computer werden, desto dringlicher wird dies.
Wichtig ist auch, den Entwicklern Rückmeldungen aus der Geselleschaft und von den Trägern zu geben, was gewünscht und was ethisch vertretbar ist. Wenn eine ältere Person gar nicht mehr weiß, dass sie jetzt gerade mit einem Roboter spielt und nicht mit einem Tier, dann verletzt das auch ihre Würde. Ich sehe unsere Aufgabe als Seelsorger darin, dass wir laut werden, wenn wir eine Technisierung der menschlichen Bezüge erleben. Unsere grundfeste christliche Überzeugung ist: Der Mensch ist mehr als nur ein komplexer, neuronal vernetzter Apparat. Es gibt etwas, was die Person zur Person macht und das ist dessen Freiheit und Geistbegabtheit.
Die Fragen stellte Angelika Slagman, Online-Redakteurin, Stabsstelle Kommunikation, September 2021
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