Wenn ein Familienmitglied oder jemand aus dem Freundeskreis unerwartet stirbt, versetzt es viele Hinterbliebene in eine schwer auszuhaltende Schockstarre. Um in extremen Situationen wie diesen nicht alleine zu sein, die eigene Handlungsfähigkeit wieder zu reaktivieren, gibt es die professionelle Begleitung von Notfallseelsorgern. Timo Grünbacher leitet die Notfallseelsorge im Erzbistum München und Freising und berichtet von seinen Aufgaben und Erfahrungen.
„Ich fahre jetzt los und bin in einer Stunde bei dir“, sagt Thomas M. noch am Telefon zu seiner Frau, bevor er von seinem Außentermin nach Hause zurückfahren will. Doch der Familienvater wird nie ankommen. Bei der Fahrt rammt ihn ein Geisterfahrer und er stirbt noch an der Unfallstelle. Als es an der Haustür der Familie M. klingelt, denkt seine Frau noch, dass ihr Mann gerade den Schlüssel nicht findet. Doch dann stehen ein Polizist und eine Seelsorgerin vor der Tür und sagen ihr, dass ihr Mann durch einen Unfall ums Leben gekommen ist. Frau M. ist fassungslos und weiß gar nicht, was sie sagen oder tun soll. Der Polizist fährt wieder, die Seelsorgerin geht mit ihr ins Haus.
20 Prozent aller Todesfälle in Deutschland ereignen sich plötzlich und unerwartet – etwa durch einen Unfall, wie bei Thomas M., oder einen Herzstillstand. Die Rettungsleitstelle ruft in solchen Fällen oft die Notfallseelsorge hinzu, damit die Seelsorgerinnen und Seelsorger den Hinterbliebenen beistehen.
„Wenn man gerade erfahren hat, dass der eigene Ehemann, die eigene Ehefrau bei einem Verkehrsunfall gestorben ist, sollte man nicht alleine sein“, weiß Timo Grünbacher. Der 39-jährige Theologe und Sozialpädagoge leitet seit Kurzem die Notfallseelsorge in der Erzdiözese München und Freising. Als langjähriges Mitglied des Kriseninterventionsteams des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) hat er viel an Erfahrung in ähnlichen Situationen sammeln können. Auch als Pastoralreferent im Christophorus-Hospiz und bei der Polizeiseelsorge sowie als Mitarbeiter der Münchner Insel, einer niederschwelligen Krisen- und Lebensberatungsstelle getragen von katholischer und evangelischer Kirche, hat er Situationen kennengelernt, in denen Beistand für Angehörige nötig war.
Notfallseelsorge ist Teil der psychosozialen Notfallversorgung des Rettungswesens. Sie wird deshalb von der Rettungsleitstelle beziehungsweise dem Rettungsdienst oder anderen Einsatzkräften aus Feuerwehr oder Polizei vor Ort alarmiert. Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger kommen sofort und bleiben einmalig für einige Stunden bei den Menschen, denen sie beistehen. Sie halten deren Verzweiflung aus, wenn scheinbar alles zusammenbricht, oft auch deren Schweigen und Ohnmacht. Die unmittelbare Schockwirkung abzumildern, ist nur eine ihrer Aufgaben vor Ort. Notfallseelsorgende verweisen auch auf das Hilfenetz der psychosozialen Regelversorgung, das es bereits gibt, etwa für verwaiste Eltern oder nach einem Suizid. Zudem ermutigen sie Hinterbliebene dazu, Freunde oder Familienangehörige anzurufen.
„Eine Hinterbliebene hat mir beim Gespräch gesagt, sie könne doch nicht mitten in der Nacht ihre Tochter anrufen, denn diese müsse am nächsten Tag zur Arbeit“, berichtet Timo Grünbacher von einem eigenen Erlebnis. „Ich musste sie erst davon überzeugen, dass es wichtig ist, genau das zu tun, denn die Tochter hatte schließlich ihren Vater verloren und deshalb ein Recht darauf, das sofort zu wissen. Das hat die Mutter überzeugt, tatsächlich anzurufen“, ergänzt er. So war zugleich sichergestellt, dass die Mutter nicht allein mit ihrem Schock bleibt, nachdem der Seelsorger wieder gegangen ist.
Die „Aktivierung der Handlungsfähigkeit Hinterbliebener“ nennt Timo Grünbacher diese Form des Beistands. „Wer einen geliebten Menschen plötzlich verloren hat, steckt in einer traumatischen Erfahrung, die sich schicksalhaft anfühlt. Deshalb ist es wichtig, dass jemand nicht zu lange in einer Schockstarre bleibt, sondern etwas tut und dabei die Erfahrung macht, dass er oder sie das auch tun kann“, beschreibt der Sozialpädagoge die Situation. So rufen Notfallseelsorgende beispielsweise für einen Hinterblieben nicht den Bestattungsdienst an, aber sie bleiben bei ihm, während er das selbst tut und mit eigenen Worten schildert, was geschehen ist.
Timo Grünbacher hat anderen schon oft in Extremsituationen beigestanden, wie etwa bei Katastrophenfällen. Unter anderem war er vor Ort nach dem Absturz der Germanwings-Maschine in Südfrankreich im März 2015 oder im Sommer 2016 beim rechtsterroristischen Anschlag am Olympia-Einkaufzentrum in München. „Diese Einsätze bleiben einem natürlich in Erinnerung, auch weil darüber viel berichtet wurde und Jahrestage begangen werden“, schildert er. Aber er erinnert sich auch an weniger öffentlichkeitswirksame Einsätze. So hat er ein junges Mädchen vor Augen, das Zeugin des Suizids der besten Freundin wird. Als er zu ihr kommt, will das Mädchen zunächst auch nicht mehr leben. Doch innerhalb einer Stunde sagt sie zu ihm, gleichsam an sich selbst gerichtet: „Eine 17-Jährige gehört nicht aufs Totenbett.“ Diese tiefe existenzielle Erfahrung der jungen Frau bewegt ihn bis heute.
Der eigene Glaube ist für Timo Grünbacher bei seiner Arbeit sehr wichtig. „Ich glaube, dass Gott uns durchs Leben begleitet, auch wenn wir es nicht immer merken“, betont der Theologe, „und ich glaube, dass er dabei auf Menschen zurückgreift, die Nähe vermitteln können. Als Seelsorger habe ich die Aufgabe, Menschen diese Nähe Gottes greifbar werden zu lassen.“
Text: Gabriele Riffert, freie Redakteurin, Februar 2021
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