Familie A. hat eine Odyssee hinter sich: Nach ihrer Flucht aus Syrien musste sie sieben Jahre lang in einem Zelt in einem Flüchtlingslager im Libanon ausharren. Inzwischen hat sie dank des humanitären Aufnahmeprogramms „Neustart im Team“ (NesT) in Kirchheim eine neue Heimat gefunden.
Die syrische Familie in ihrem neuen Zuhause (v.l.): Abdulkhalek, Brigitte Hartmann, Bushra, Gerlinde Reichart, Afaaf, Mohammed, Mahmoud, Bashar und Ammar; vorne: Abdullah
Es war der 10. Juni 2021, als Familie A. nach Deutschland kam. Das wissen Abdulkhalek, seine fünf Geschwister und seine Eltern noch ganz genau: „So einen Tag vergisst man nicht.“ In ihrem Heimatland Syrien sei wegen des Krieges „alles kaputt“ gewesen, deswegen flüchteten sie. Wohin, war ihnen fast egal: „Hauptsache weg“, erzählt der 22-Jährige in perfektem Deutsch. Gemeinsam sitzen alle bei arabischem Tee, Kuchen und Gebäck im Wohnzimmer. Die Familie kam in ein Flüchtlingslager im Libanon und lebte dort in einem Zelt. Im Winter musste einer von ihnen jede Nacht aufstehen, um das Zelt vom Schnee zu befreien, damit es nicht zusammen brach.
Sieben Jahre ging das so. Dann erhielten sie im Sommer 2021 endlich die erlösende Nachricht: Sie dürfen nach Deutschland. Das haben sie dem humanitären Aufnahmeprogramm „Neustart im Team“ (NesT) zu verdanken. Es wurde in Zusammenarbeit mit der katholischen und der evangelischen Kirche sowie dem Bundesinnenministerium entwickelt und ermöglicht besonders schutzbedürftigen Geflüchteten, gesichert nach Deutschland einzureisen.
Jeweils vier Freiwillige kümmern sich um eine Familie. Laut UNHCR gibt es weltweit mehr als zwei Millionen besonders schutzbedürftige Flüchtlinge. Sie können nicht in ihrem Erstfluchtland bleiben, weil ihr Leben, ihre Freiheit, ihre Sicherheit und ihre Gesundheit dort gefährdet wären. Dank NesT erhielt Familie A. bereits einen Aufenthaltstitel für drei Jahre, bevor sie in Deutschland ankam. Außerdem hatte sie direkt nach ihrer Ankunft Anspruch auf Integrationskurse und Sozialleistungen. Trotzdem ersetzt NesT kein reguläres Asylverfahren.
Ehrenamtliche kümmern sich um Geflüchtete
Seit ihrer Ankunft in Deutschland wird die Familie von den ehrenamtlichen Mitarbeitern von NesT betreut. Kern des Konzeptes von NesT ist, dass die Geflüchteten im Wohnort ihrer Mentoren wohnen. Deshalb sorgten Gerlinde Reichart und Brigitte Hartmann dafür, dass sie in Kirchheim, einem Dorf nahe München, eine Wohnung bekamen. Diese wird von der Erzdiözese München und Freising gestellt.
Noch im Libanon hatten sich die beiden Ehrenamtlichen und Familie A. über Zoom kennengelernt. Bis dahin kannten Helfer und Familie einander nur von Steckbriefen. Als sie in Deutschland ankamen, wurden sie von Gerlinde Reichart und Brigitte Hartmann in Friedberg abgeholt und nach Kirchheim gebracht. Seitdem sind die beiden Helferinnen die ersten Ansprechpartnerinnen der Familie. Nach ihrer Ankunft kümmerten sie sich darum, dass alle Familienmitglieder krankenversichert wurden. Außerdem halfen sie, die Wohnung zu möblieren.
„Das war eine große logistische Herausforderung“, erinnert sich Reichart, die sich bereits seit 2013 für Geflüchtete einsetzt. Doch sie hatten Glück: Als sich eine Fabrik auflöste, konnten sie deren Einbauküche übernehmen. Bei der Montage musste der Helferkreis mit anpacken. Vor allem aber mussten sie die Kosten vorstrecken, die sie später vom Ordinariat zurück bekamen. Da die Familie im ersten Monat kein Geld vom Staat bekam, musste NesT auch hier einspringen. Immerhin ist der Verein finanziell gut aufgestellt. Die Miete für die Wohnung wurde zwei Jahre vom Ordinariat finanziert, nun hat das Jobcenter übernommen.
„Die Leute vom Helferkreis sind wie meine zweiten Großeltern“
Inzwischen treffen sich die Ehrenamtlichen von NesT alle vier Wochen mit der Familie. Die pensionierte Lehrerin Brigitte Hartmann schaut öfter vorbei, weil sie den schulpflichtigen Kindern bei den Hausaufgaben hilft. Außerdem sind sie ständig über WhatsApp miteinander in Kontakt. Der Verantwortung sind sich die Helferinnen bewusst: „Wir haben uns das natürlich lange überlegt“, sagt Reichart. „Aber man wächst in die Rolle.“
Das klingt nüchtern und pragmatisch, doch wenn die Familie von ihrer Flucht erzählt, kommen der engagierten Ehrenamtlichen die Tränen. Sie ist froh, dass alle sich so gut entwickeln. Abdulkhalek, der älteste Sohn, macht gerade eine Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker, sein jüngerer Bruder Ammar lässt sich zum Elektroniker ausbilden. Abdullah, der jüngste Spross der Familie, geht noch in den Kindergarten. Er möchte Polizist werden.
Immer wieder erwähnen alle Familienmitglieder, wie dankbar sie den Ehrenamtlichen von NesT sind: „Die Leute vom Helferkreis sind wie meine zweiten Großeltern“, sagt Vater Mahmoud. Er möchte Busfahrer werden, wie in seiner Heimat, wartet jetzt aber erstmal darauf, dass sein Deutschkurs weitergeht. Derweil behilft er sich mit einer Sprachen-App auf seinem Smartphone.
Durch Integration Ressentiments abbauen
Familie A. ist fest ins Dorfleben integriert: Zu 50 Personen haben sie Ramadan gefeiert. Als sie ein Jahr in Deutschland waren, gab es ein Gartenfest. Außerdem haben sie sich mit den Helfern München angeschaut und einen Ausflug nach Nördlingen gemacht. Auch gute Zeugnisse feiern sie gemeinsam. Die Familie will unbedingt etwas zurück geben. Wenn der örtliche Chor oder der Eine-Welt-Verein eine Veranstaltung ausrichtet, hängen sie die Vorhänge auf oder räumen die Tische zusammen. Reichart betont: „Durch das gute Miteinander und die Umsicht der Familie werden Ressentiments abgebaut. Es hat hier im Dorf noch keinen Polizeieinsatz gegeben.“ Mit ihrer Arbeit will NesT das ausgleichen, „was der Staat nicht schafft“, so Reichart.
Jedes der Kinder möchte eines Tages heiraten und eine eigene Familie gründen. Bis es so weit ist, bleiben sie erst einmal in ihrer Wohnung in Kirchheim. Die 16-jährige Bushra hat ihr eigenes Zimmer, die großen Jungs sind zu dritt und der siebenjährige Abdullah schläft bei seinen Eltern. Abdhulkalek hat gerade einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt, um seine Verlobte nach Deutschland zu holen. „Wir haben einander im Libanon versprochen, zusammen zu bleiben.“
Text: Maximilian Lemli, Sankt Michaelsbund, Februar 2024