„Den Druck aufnehmen, ohne zu zerbrechen“ Resilienzforscher Martin Schneider über die Wirkung von Krisen auf den Einzelnen und die Gesellschaft

Das Prinzip der Resilienz findet inzwischen in vielen Bereichen Anwendung. Ob Psychologie, Wirtschaft oder Ökologie – alle setzen auf die Macht der Widerstandskraft. Was das Wort genau bedeutet, ob sich Resilienz lernen lässt und welche Rolle der Glaube spielt, darüber sprachen wir mit dem Theologen Martin Schneider.
junge Frau schaut nachdenklich und zuversichtlich
Was bedeutet Resilienz?
Das Wort stammt vom lateinischen resiliere, also abprallen, zurückspringen. Unter Resilienz wird die Fähigkeit verstanden, an Widerständen nicht zu zerbrechen, sondern sich als widerstandsfähig zu erweisen. Diese Eigenschaft trifft auf Materialien zu, die, wenn großer Druck auf sie ausgeübt wird, nicht zerbrechen oder einen Sprung bekommen. Ein Material ist dann resilient, wenn es elastisch, federnd und nachgiebig ist wie zum Beispiel der Bambus.

Dieses Prinzip wird in der Psychologie auf Menschen angewendet. Resiliente Menschen „zerbrechen“ nicht, sie lassen sich nicht unterkriegen. Sie haben eine gewisse Widerstandsfähigkeit, wenn sie sich in dramatischen Situationen befinden, wenn sie Krisen auszuhalten oder Schocks zu verkraften haben. Das gelingt ihnen, weil sie auf persönliche und soziale vermittelte Kraftquellen zurückgreifen können.
 
In welchen Bereichen wird das Prinzip noch angewendet?
Es wird inzwischen für alle möglichen Systeme angewendet und erforscht, zum Beispiel für Ökosysteme. Ökosysteme sind dauernd in einem Entwicklungsstadium. Sie sind in der Lage, sich an Störungen und Veränderungen im System anzupassen, ohne sich in ihren grundlegenden Eigenschaften zu verändern. Damit scheinen zunächst ökologische Phänomene im Blick zu sein wie Pflanzen in der Wüste, die lange Trockenperioden überdauern können, bei Regenfall sehr rasch aufblühen und, wenn das Wasser knapp wird, wieder in den Zustand des robusten Überdauerns „zurückspringen“.

Das ökologische Resilienzverständnis ist aber noch weiter gefasst. Die „aneignende“ Verarbeitung von Krisen und Stresssituationen wird als entscheidendes Merkmal komplexer Systeme angesehen. In der psychologischen Resilienzforschung kommt diese Perspektive in Ansätzen zum Tragen, die sich posttraumatischen Reifungsprozessen widmen oder Resilienz als ein „psychisches Immunsystem“ verstehen, das durch komplexe Wechselwirkungen von Gefahren, Veränderungen und Regenerationen gestärkt wird.
 
Kann man Resilienz lernen? Ist sie angeboren oder erworben?
Zum großen Teil kann man sie erwerben. Natürlich gibt es Menschen, die von sich aus robuster, widerstandsfähiger sind. Das kann „ererbt“ sein. Aber zum ganz großen Prozentsatz lässt sich Resilienz erlernen. Sie ist ein lebenslanger Prozess, keine statische Eigenschaft, kein Zustand, sondern ein Entwicklungsergebnis.
 
viele hohe Bambuspflanzen von unten
Was zeichnet eine resiliente Gesellschaft aus?
In meinen Augen sind hier vier Aspekte entscheidend: das Ernstnehmen von Gefahren, eine angemessene Vorbereitung, die Anpassung an die neue Realität und die Fähigkeit, Veränderung zuzulassen.
Zum ersten Punkt: Eine resiliente Gesellschaft verdrängt sich abzeichnende Krisen nicht. Wer Bedrohungen nicht wahrnimmt, verdrängt, verschleiert und bagatellisiert, dem mangelt es an Resilienz. Die Forschung zeigt: Soziale Systeme brechen nicht zuletzt dann zusammen, wenn trotz offensichtlicher oder latenter Probleme so weiter gelebt wird wie bisher, und man sich nicht an die veränderten Bedingungen anpasst bzw. fehlerhaft anpasst. Hier zeigt sich auch die Bedeutung der Wissenschaft, weil sie – oft nicht sichtbare – Veränderungen diagnostiziert und in wissenschaftliche Modelle übersetzt. Ein Beispiel sind die Klimaforscherinnen und Klimaforscher. Aber auch von Epidemiologinnen und Epidemiologen sowie Virologinnen und Virologen lernen wir, warum es wichtig sein kann, auf Krisen frühzeitig zu reagieren, selbst wenn die Auswirkungen noch nicht direkt sichtbar sind.

Der zweite Aspekt: Eine resiliente Gesellschaft ist auf Wirtschafts- und Finanzkrisen, Naturkatastrophen, Virusepidemien und den Klimawandel vorbereitet – auch wenn diese nicht vorhergesagt werden können. Aus der aktuellen Corona-Krise lernen wir gerade, wie wichtig Pufferkapazitäten sind, zum Beispiel bei Schutzmasken. Wir lernen auch, wie wichtig es ist, dass das medizinische System darauf ausgerichtet ist, relativ schnell Intensivkapazitäten hochfahren zu können. Die Resilienz ist ein anderer Modus der Orientierung als die Effizienz. In einem resilienten System hält man etwas zurück, man spart. Man könnte auch sagen, in fetten Jahren sollst du deine Kornkammern auffüllen, damit du in mageren Jahren von dem Puffer leben kannst. Redundanzen sind wichtig, das heißt, es ist gut, wenn es etwas doppelt gibt. Wenn ein System ausfällt, kann das andere einspringen. In einer Wirtschaftskrise sollte es, wenn eine Bank zusammenbricht, nicht wie bei einem Dominoeffekt auch alle anderen erwischen. Dazu muss gewährleistet sein, dass relativ schnell „Übertragungswege“ abgebrochen werden können. Das lernen wir gerade bei der Corona-Pandemie. Auch Diversität ist ein Resilienzfaktor. Wenn ein Weg versperrt ist oder nicht klappt, kann ein anderer ausprobiert werden. Resilienz heißt daher vor allem handlungsfähig zu bleiben.

Der dritte Aspekt, die Anpassung an die neue Realität, ist bereits Teil eines Lernprozesses. Eine Gesellschaft übt eine „neue Normalität“ ein, sie wehrt Gefahren nicht nur ab, sie lernt damit zu leben, zum Beispiel Masken zu tragen und Abstand zu halten.

Und viertens: Die Transformationsfähigkeit ist ein weiterer, wichtiger Baustein einer resilienten Gesellschaft. Sie hat die Fähigkeit, Lernblockaden abzubauen und neue Wege zu beschreiten. Im Bereich der Energiewirtschaft und für den Verkehr hieße das zum Beispiel, von fossilen Brennstoffen wegzukommen. Den Status quo zu bewahren ist keine Resilienzstrategie.
 
Wie wirkt sich der Glaube auf die Resilienz aus?
Ratgeberbücher übertreffen sich damit, Listen von Resilienzfaktoren vorzustellen. Mir als Theologe ist es wichtig, das kritisch anzuschauen. Denn Resilienz ist mehr als Selbstoptimierung und Krisenresistenz. Resilienz meint nicht Unverletzlichkeit, sondern das Glück gelingenden Lebens inmitten aller Verwundungen und Unvollkommenheiten.

Fest steht, dass der Glaube Resilienz fördert. Dabei hat offensichtlich das Phänomen des Vertrauens eine zentrale Bedeutung. Das zeigt sich auch, wenn wir in die Bibel schauen: Wer auf Gott vertraut, geht nicht zugrunde. Gottvertrauen wird als Schlüssel für Krisenbewältigung verstanden und als Kraft erfahren, um Schweres durchzustehen. Nur wer der Tragfähigkeit des Bodens vertraut, kann auch aufbrechen und gehen. Weil wir uns von Gott getragen fühlen, können wir gelassen mit der Situation umgehen. Natürlich müssen wir auch das Bedürfnis haben, die Kontrolle zu behalten. Sonst werden wir von der über uns hereinbrechenden Krise überrollt. Aber auf der anderen Seite ist eine gewisse Gelassenheit notwendig – und das Gefühl, dass es schon gut ausgehen wird.

Der entscheidende Faktor aber scheint zu sein – das haben empirische Untersuchungen zur Frage von Religion und Resilienz ergeben –, dass religiöse Menschen eher von Gemeinschaften aufgefangen werden. Nicht weil sie gläubig sind, sind sie resilienter, sondern weil die Glaubenspraxis immer auch mit der Einbindung in eine Glaubensgemeinschaft verbunden ist. Religiöse Menschen haben das Gefühl, nicht alleine vor der Herausforderung zu stehen, sondern auf die Unterstützung von anderen vertrauen zu können. Für Glaubensinstitutionen könnte das bedeuten, dass sie den Faktor, eine echte Glaubens-Gemeinschaft zu sein, viel stärker fördern sollten.
 
Welchen Einfluss hat die Corona-Pandemie auf die Resilienz des Einzelnen und der Gesellschaft?
Die Krise bringt uns zum Nachdenken. Das Virus deckt schonungslos all die Widersprüche, Schwächen und Verwundbarkeiten auf, die wir im privaten, kirchlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Alltag nicht wahrhaben wollen oder können. Wir werden aus der Wohlfühlzone „vertrieben“ und müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir eigentlich leben wollen. Wie wichtig ist Gesundheit, welchen Preis sind wir dafür bereit zu bezahlen? Wie wichtig ist uns Zeit für die Familie, für den Partner oder die Partnerin, die Kinder, die älteren Menschen? Sauberes Wasser, reine Luft, eine intakte Natur um uns herum, was ist uns das wert? Sich diese Fragen zu stellen, ist ein erster Schritt in die Transformationsfähigkeit, also in die Fähigkeit zu grundlegenden Veränderungen.
Porträt Mann vor Mikrofon
Martin Schneider ist promovierter Theologe. Er forscht seit Jahren zu den theologischen und ethischen Dimensionen von Resilienz, unter anderem als Mitglied des inzwischen abgeschlossenen Forschungsprojekts ForChange. Er ist Lehrbeauftragter an der Katholischen Stiftungshochschule München und theologischer Grundsatzreferent des Diözesanrats der Katholiken der Erzdiözese München und Freising.
Interview: Christina Tangerding, freie Mitarbeiterin

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