Dank moderner Technologien lebt der Mensch heute Jahrzehnte länger als im Mittelalter, weiß innerhalb von Minuten, was am anderen Ende der Welt passiert und kann sich schon vor der Geburt über die Gesundheit des Nachwuchses informieren. Doch: Trotz schier unüberwindlicher Berge von Wissen und Informationen fühlt sich eine immer größere Zahl von Menschen im Big-Data-Zeitalter überfordert oder abgehängt. Alleingelassen und ohne rechte Orientierung, wenn es um die Grundfragen des Lebens geht: Geburt, Erziehung, Ehe oder den Umgang mit Alter und Tod. Möglicherweise erklärt diese Situation den großen Zuspruch, den seit Oktober ein neuer zweisemestriger Studiengang des
Katholischen Bildungswerks Berchtesgadener Land hat. Im Pfarrzentrum St. Zeno in Bad Reichenhall treffen sich alle zwei Wochen 23 Teilnehmer unter dem Motto „Theologie am Feierabend“. Zusammen mit acht renommierten Experten aus verschiedenen theologischen Fachbereichen und einem Journalisten diskutieren sie zu Fachvorträgen über Themen, die Aspekte der Bibel oder gesellschaftliche Fragen aus Sicht der christlichen Sozialethik beleuchten.
Die Welt aus der Sicht christlicher Sozialethik verstehen lernen - dazu lädt der Kurs Theologie am Feierabend ein.
„Die Anmeldezahlen, Rückmeldungen aus anderen Bildungswerken und das starke Interesse der Teilnehmer, die sich bereits eine Ausweitung der Vorlesungen gewünscht haben, sind absolut ermutigend“, sagt der Theologe und Religionslehrer Stephan Richter. Er ist Mitinitiator und Studienleiter des „höchst prominent besetzten“ Kurses, den er zusammen mit Mitarbeitern des Bildungswerks konzipiert hat.
In den einzelnen Kursen wird rege diskutiert. Da geht es um die Entstehung und Verbreitung des Neuen Testaments, um Jesus als historische Person und heutiges Vorbild für Politik und Gesellschaft, um Missionierung vor 2.000 Jahren und heute oder um Glaubenskriege bzw. gelungene Integration am biblischen Beispiel von Rut. Aber auch ein Vergleich der Schöpfungsberichte in Bibel und Evolutionstheorie, Widersprüche von neuen Biotechnologien zur Bioethik oder auch die Auseinandersetzung mit dem heutigen Verständnis von Partnerschaft und dem christlichen Ehebild werden diskutiert.
„Welche Rolle spielt die Selbstbestimmung bei einem Sterben in Würde?“, ist eine der Fragen, um die es geht. Professor Andreas M. Weiß vom Fachbereich Praktische Theologie der Universität Salzburg erläutert am dritten Kursabend unter anderem die Unterschiede von aktiver und passiver Sterbehilfe - samt der Argumente, die für oder gegen einen assistierten Suizid sprechen. Gedanken von Papst Franziskus aus seiner Schrift „Amoris laetitia“ (2016) fließen ebenso mit ein wie die Erklärung zur Euthanasie der Kongregation für die Glaubenslehre (1980). Die Teilnehmer diskutieren rege über die gesellschaftliche Dimension des Themas, Fragen des Morphiumeinsatzes zur Schmerzlinderung oder persönliche Erlebnisse mit Angehörigen oder aus Krankenhaus und Hospiz.
Nicht weniger groß ist das Interesse, als es um das Thema „Ehe für alle?“ geht. Weiß zeigt auf, wie sich das Eheverständnis im Laufe der Zeit geändert hat, warum die katholische Kirche keine Scheidungen zulässt und wo dennoch Möglichkeiten zu einer Annullierung der Ehe bestehen. Auch der Zusammenhang von Ehe und Sexualität, die Ehepraxis in der orthodoxen Kirche oder die Haltung Roms zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ist ein Thema.
„Die Vorträge und Diskussionen behandeln große Themen“, fasst Sonja, 52, aus Bayerisch Gmain ihre Erfahrungen zusammen. „Ich erfahre hier tatsächlich Orientierung in schwierigen Fragen. Die Lektürehinweise regen zur Vertiefung und weiteren Beschäftigung an. Ich bin gespannt, wie es weiter geht.“ Gabriele, 52, aus Piding erläutert, was sie an der „Theologie nach Feierabend“ fasziniert: „Ich bin katholisch, mein Mann evangelisch. Wir leben seit 30 Jahren gut miteinander zusammen, sind aber nur standesamtlich verheiratet, weil ich nicht konvertieren wollte und uns der katholische Pfarrer den Ehesegen verweigert hat. Deshalb will ich mich intensiver mit den Bibelinhalten und theologischen Aussage auseinandersetzen.“ Joachim, 71, aus Laufen ist aus Interesse an theologischen Fragen zum Kurs gestoßen. „Es gibt hier fundierte und vertiefende Einblicke in wichtige Themen, nur könnte das Thema Barmherzigkeit eine größere Rolle in der Kirche spielen“, zieht er als Fazit des Kursbesuchs.
Text: Axel Effner