Das Leben in die eigene Hand nehmen Das Dachauer Forum bildet Kulturdolmetscher aus

Im Programm „Kulturdolmetscher plus“ begleiten Menschen mit Migrationsgeschichte andere Migranten, die noch nicht gut Deutsch sprechen, zu wichtigen Terminen wie Arztbesuchen oder Behördengängen. Die Ausbildung lässt sie für ihre Klienten zum Bindeglied zwischen alter und neuer Heimat werden.
 
Kulturdolmetscherinnen des Dachauer Forums
v.l.n.r: Kulturdolmetscher Shakhnoza Sharipova-Navid, Melanie Schenk, Zebonisso Sharipova und Szilvia Jördens
„Hilf mir dabei, es selbst zu tun.“ Dieser Leitspruch der Pädagogin Maria Montessori könnte auch das Motto des Programms "Kulturdolmetscher plus" sein. Denn dank der Unterstützung der Kulturdolmetscher sollen Migranten lernen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die Idee für das Programm wurde geboren, als 2015 hunderttausende Menschen nach Deutschland flüchteten. Damals sagten sich Madeleine Schenk und ihre Kollegen vom Dachauer Forum: „Da kommen so viele, denen müssen wir uns annehmen.“

Zum Kulturdolmetscher kann sich nur ausbilden lassen, wer selbst oder in seiner Familie eine Migrationsgeschichte vorzuweisen hat. „Diese Menschen sind in zwei Kulturen zu Hause und kennen sich dort aus“, erklärt Schenk. „Dieses Wissen ist ein großer Schatz.“ Wichtig ist, dass sie die in Deutschland geltenden Strukturen verstehen und mindestens über das Sprachniveau B1 verfügen. Während des gesamten Kurses wird Deutsch gesprochen. Vor Kursbeginn lädt Schenk alle Bewerber zu einem persönlichen Gespräch ein. So will sie einschätzen, wer der Aufgabe gewachsen ist. Schließlich müssen Kulturdolmetscher in manchen Fällen über eine schlimme Diagnose oder eine Abschiebung informieren.

Biographische Arbeit und Ermutigung

Das Programm "Kulturdolmetscher plus" basiert auf zwei Grundprinzipien: Biographischer Arbeit und Empowerment. So sollen die Kulturdolmetscher Migranten, die kaum über Deutschkenntnisse verfügen, zu wichtigen Terminen begleiten, zum Beispiel zu Behörden oder Ärzten. Um bei solchen Terminen gleich in ihrer Funktion erkannt zu werden, tragen sie bei ihren Einsätzen einen Ausweis bei sich.
 
Shaknoza Sharipova-Navid erzählt von einem Einsatz, bei dem sie eine Familie aus Kasachstan zum Kinderarzt begleitet hat. „Die Eltern wussten, dass mit dem Kind etwas nicht stimmt, aber sie konnten sich nicht eingestehen, dass das Kind Förderung benötigt“, sagt die 31-jährige Studentin der Sozialen Arbeit. Der simple Grund: In Kasachstan gibt es keine Förderschulen.

Ihre Schwester Zebonisso Sharipova hat oft erlebt, wie schnell durch kleine kulturelle Unterschiede Missverständnisse entstehen. Eine griechische Mutter konnte nicht verstehen, warum so ein großer Druck aufgebaut wurde, als ihr Kind in die vierte Klasse kommen sollte. „Ihr war nicht klar, dass in der vierten Klasse entschieden wird, auf welche weiterführende Schule ihr Kind kommt. In Griechenland geschieht das erst in der sechsten Klasse.“

Abgrenzung ist wichtig

„Unsere Kulturdolmetscher sind Angstnehmer, denn sie geben Sicherheit“, erklärt Referentin Szilvia Jördens. Das bringe manchmal Schwierigkeiten mit sich: „Oft laden die Klienten alle ihre Sorgen bei den Kulturdolmetschern ab. Hier ist es wichtig, sich abzugrenzen.“ Alle Kulturdolmetscher arbeiten ehrenamtlich, erhalten nur eine Aufwandsentschädigung. Die Initiatoren sind sich darüber im Klaren, wie viel sie ihnen abverlangen. Aber sie wollen sie nicht nur fordern, sondern auch schützen. Deshalb werden die Einsätze zentral koordiniert, die Kulturdolmetscher sollen ihre Handy-Nummer nicht herausgeben. Nach dem Einsatz ist der Kontakt zwischen Kulturdolmetschern und Klienten in der Regel beendet, häufig geht es um eine einmalige Begleitung zu einem bestimmten Termin.
 
Logo Kulturdolmetscher plus
2016 fanden in Freising und Dachau die ersten Kurse statt. Im Laufe der Jahre wurde gemeinsam mit Wissenschaftlern ein Handbuch entwickelt, seit 2018 seht das Projekt unter Markenschutz. Zunächst war es ein Projekt des Erzbistums München und Freising, inzwischen wurde das Bayerische Innenministerium ins Boot geholt. Die Organisation hat die Katholische Erwachsenenbildung übernommen. Für Unterrichtseinheiten wie Religion, Jugendamt, Gesundheit oder Asylrecht werden externe Referenten engagiert.

Allein in Dachau wurden inzwischen bereits 14 Kurse abgeschlossen. Zehn Menschen nehmen jeweils daran teil, man trifft sich drei Monate lang freitagnachmittags und samstags. Mit 40 Stunden ist ein hoher Zeitaufwand mit dem Kurs verbunden, aber auch ein großer Prozess der Reflexion. Dafür sorgt unter anderem die biographische Übung Lebensbaum: „Die Teilnehmer sollen darüber nachdenken: Was hält mich? Welche Wünsche, Ziele und Träume habe ich?“, erklärt Schenk. Das könne so etwas Banales wie eine Schönheitsoperation sein, aber auch der Wunsch: „Alle meine Kinder sollen gesund bleiben.“ Fast jeder stellt seinen Lebensbaum in der Gruppe seinen Lebensbaum vor. So entsteht untereinander ein großes Vertrauen.

Herkunft spielt am Ende keine Rolle mehr

„Am Ende des Kurses spielt es keine Rolle mehr, woher die einzelnen Teilnehmer kommen“, erzählt Schenk begeistert. So erzählt sie von einer Russin, deren beste Freundin aus der Ukraine kommt. Auch der berufliche Hintergrund, das Geschlecht oder das Alter trennen sie nicht mehr. Schon durch die biographische Arbeit spüren sie, wie viel sie verbindet.

Für die Kulturdolmetscher bedeutet ihre Ausbildung „ein Stück Frieden, der mich bestärkt hat, in die richtige Richtung zu gehen“, sagt Shaknoza Sharipova-Navid. Einige Kulturdolmetscher arbeiten später als Referenten beim Dachauer Forum, viele wirken vor allem in ihren Communities. Die Organisatoren bedauern, dass das Angebot nicht deutschlandweit besteht. Schließlich dienen Kulturdolmetscher als Vorbilder und direktes Bindeglied zwischen der neuen und der alten Heimat.
 
Text: Maximilian Lemli, Redakteur beim Sankt Michaelsbund, Mai 2024

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