"Kein Raum für Übergriffe" Interview mit Lisa Dolatschko-Ajjur, Leiterin der Stabsstelle Prävention im Erzbischöflichen Ordinariat

Kirchliche Einrichtungen sollen sichere Orte sein, die keinen Raum für Übergriffe und Missbrauch bieten. Lisa Dolatschko-Ajjur, Leiterin der Stabsstelle Prävention im Erzbischöflichen Ordinariat, berichtet im Gespräch von den Angeboten für Mitarbeitende.
 
Lisa Dolatschko-Ajjur, Leiterin der Stabsstelle Prävention im Erzbischöflichen Ordinariat München
Lisa Dolatschko-Ajjur
Frau Dolatschko-Ajjur, Sie wollen, dass kirchliche Einrichtungen sichere Orte sein sollen, an denen für Übergriffe und Missbrauch kein Raum ist. Wie kann man das erreichen?

Lisa Dolatschko-Ajjur: Das Wichtigste ist zu informieren und Haupt- und Ehrenamtliche für das Thema zu sensibilisieren. Leider ist Missbrauch immer noch die bittere Lebensrealität für tausende von Kindern und Jugendlichen deutschlandweit. Deshalb hat unsere Stabsstelle unterschiedliche Präventionsmodelle für kirchliche Mitarbeitende entwickelt.

Sie schulen pastorale und andere Mitarbeitende der Erzdiözese zur Prävention. Welche Angebote gibt es dafür?

Lisa Dolatschko-Ajjur: Seit 2018 gibt es für pastorale Mitarbeitende ein verpflichtendes E-Learning-Programm, das von zwei Präsenzveranstaltungen zum Auftakt und Abschluss flankiert ist. Das E-Learning-Programm hat eine durchschnittliche Bearbeitungsdauer von 15 bis 20 Wochenstunden. Die Mitarbeitenden sind hierbei nicht auf sich allein gestellt, sondern es gibt speziell geschulte Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter, die sie sowohl inhaltlich als auch technisch begleiten.

Für nicht pastorale Mitarbeitende haben wir ein eigenes Schulungsformat in Präsenz oder Online entwickelt, das einen zeitlichen Umfang von drei bis vier Stunden hat. Auch hier geht es darum, erst einmal Wissen zum Thema zu vermitteln. Dabei werden Fragen behandelt wie: Gibt es Hinweise auf sexuellen Missbrauch? Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Grenzverletzung, einem sexuellen Übergriff und einem sexuellen Missbrauch? Und wohin soll ich mich im Verdachtsfall wenden?

Schließlich geht es um die Frage, wie wir all dem vorbeugen können. Ein angemessenes Nähe-Distanz-Verhältnis zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen einerseits und den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen andererseits ist in diesem Zusammenhang wichtig.

Essentiell ist auch, dass sich alle Pfarreien und Pfarrverbände in der Erzdiözese mit dem Thema auseinandersetzen. Deshalb erstellen sie verpflichtend institutionelle Schutzkonzepte. Unsere Stabsstelle berät sie dabei.

Wie hat man sich die E-Learning-Programme zum Thema vorzustellen?

Lisa Dolatschko-Ajjur: Sie sind so aufgebaut, dass man dabei nicht nur informierende Texte lesen und Fragen beantworten muss. Wir haben das Programm ansprechend konzipiert, damit es aufmerksam durchlaufen wird. So gibt es beispielsweise kurze Videointerviews oder Originalzitate von Betroffenen als Einspieler. Neben der Wissensvermittlung wollen wir die Teilnehmenden emotional erreichen und sie so mit ins Boot holen, um Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt zu schützen.

Wie viele Mitarbeitende haben bisher schon eine solche Schulung absolviert?

Lisa Dolatschko-Ajjur: Nachdem es sich hierbei um eine fortlaufende Pflichtschulung handelt, haben nahezu alle pastoralen Mitarbeitenden das Programm erfolgreich absolviert. Für diejenigen, die es noch nicht durchlaufen haben, gibt es Nachholmöglichkeiten.

Planen Sie, dass in absehbarer Zeit alle Mitarbeitenden der Erzdiözese eine Präventionsschulung absolviert haben?

Lisa Dolatschko-Ajjur: Das ist das Ziel. Zumindest alle, die im direkten Kontakt mit Minderjährigen und anderen Schutzbefohlenen sind, müssen eine Präventionsschulung absolvieren. In den Pfarreien werden Verwaltungsmitarbeitende geschult, wenn sie im direkten Kontakt mit Minderjährigen sind, etwa Verwaltungsleiterinnen und -leiter oder auch Pfarrsekretärinnen. Sie alle erreichen dadurch einen Wissenszuwachs und eine deutlich erhöhte Handlungssicherheit.
 
Sie achten auch bei Ehrenamtlichen darauf, dass keine Menschen, die Kinder und Jugendlichen schaden könnten, in kirchliche Einrichtungen gelangen. Wie kontrollieren Sie das?

Lisa Dolatschko-Ajjur: Indem es bei uns in der Stabsstelle eine Mitarbeiterin gibt, die Einsicht in die erweiterten Führungszeugnisse von Ehrenamtlichen nimmt. Das ist eine verpflichtende Maßnahme für alle ehrenamtlich Tätigen. Nur wenn das Führungszeugnis keinen einschlägigen Eintrag enthält, kann der- oder diejenige bei uns tätig werden.

Sie betonen, dass die konsequente Berücksichtigung der Perspektive Betroffener essentiell für die wirksame Prävention ist. Hat man Betroffenen bisher zu wenig Glauben geschenkt?

Lisa Dolatschko-Ajjur: Diese Frage muss man mit einem ganz klaren Ja beantworten, auch wenn sich in den letzten Jahren bei unseren kirchlichen Strukturen viel verändert hat. Von Seiten der Prävention bitten wir seit Jahren Betroffene darum, unsere Arbeit kritisch zu begleiten. Für uns ist es sehr wichtig, dass wir die Perspektive von Betroffenen mit einfließen lassen.

Es ist unendlich schmerzvoll, was sie erleben mussten. Wenn sie dazu bereit sind, können sie jetzt sagen, was ihnen damals geholfen hätte: Ob es damals zum Beispiel irgendetwas hätte geben können, was den Missbrauch verhindert hätte oder ob bestimmte Strukturen oder Maßnahmen das unermessliche Leid im Nachhinein wenigstens ein klein wenig hätten mindern können. Dazu gehört, dass man den Betroffenen Glauben schenkt und sich zu 100 Prozent mit ihnen solidarisiert.

Missbrauch kann theoretisch für jeden irgendwann ein Thema sein, etwa weil er oder sie etwas beobachtet, was seltsam scheint. Wie kann man sich hier richtig verhalten?

Lisa Dolatschko-Ajjur: Wem im kirchlichen Bereich in der Erzdiözese etwas auffällt, möge sich bitte unbedingt sofort an die unabhängigen Ansprechpersonen für Betroffene wenden. Alle kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind dazu verpflichtet, jeden Hinweis an diese Ansprechpersonen weiterzugeben. Diese stehen auch für Fragen zur Verfügung, wenn jemand etwas beobachtet hat oder bemerkt, dass eine eigenartige Nähe zwischen Erwachsenen und Minderjährigen besteht.

Sollte die Beobachtung im sonstigen gesellschaftlichen oder innerfamiliären Kontext erfolgt sein, kann man sich zum Beispiel ans Kinderschutzzentrum wenden oder Beratungsstellen wie Wildwasser oder MIM. Mit einer solchen Beobachtung muss und soll niemand allein bleiben.
 
Text: Gabriele Riffert, Juli 2022