Vor Kurzem nahm Jörg Maier seine Arbeit als Flüchtlingsseelsorger im Erzbistum München und Freising auf. Ein Gespräch über die Herausforderungen, neue Angebote zu etablieren, die Bedeutung einer interkulturellen Spiritualität und die Rolle von muttersprachlichen Gemeinden für eine gelungene Integration
Herr Maier, Sie sind seit Dezember 2021 Flüchtlingsseelsorger in der Erzdiözese. Ihre Stelle wurde neu geschaffen. Wie ist Ihr Fazit nach den ersten Wochen?
Jörg Maier: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es eine ganz andere Art von Seelsorge ist, als sich das ein klassischer Seelsorger vorstellt. Denn der „cultural gap“, der Unterschied zwischen den Kulturen, ist beachtlich. Seelsorge funktioniert hier nur, wenn man den Menschen mit wachem Auge und behutsam gegenübertritt und die Fähigkeit besitzt, sich selbst zu reflektieren.
Was macht die Flüchtlingsseelsorge so besonders?
Jörg Maier: Man hat es hier – und das ist der Unterschied zu anderen Seelsorgebereichen – meist mit einer vulnerablen Gruppe zu tun. Ich begegne Menschen, die durch Ereignisse traumatisiert wurden und deshalb anders reagieren. Es braucht neben dem Verständnis für andere Kulturen auch die Fähigkeit, mit seinem Gegenüber vorsichtig und behutsam umzugehen.
Wie konnten Sie sich auf Ihre neue Position vorbereiten? Gibt es eine gesonderte Ausbildung für Flüchtlingsseelsorge?
Jörg Maier: Ja, es gibt pastoral-psychologische Fortbildungen. Ich habe den Vorteil, dass ich ausgebildeter Psychologe bin. Ich komme ursprünglich aus der Wirtschaftspsychologie. Ich habe mich bereits im Studium mit interkultureller Psychologie befasst. Hier lernte ich, Kulturen einzuordnen und zu erforschen und wie hier Brücken gebaut werden können.
Wie sieht ein „normaler“ Arbeitstag bei Ihnen aus?
Jörg Maier: Jeder Tag ist anders, gerade weil es meine Stelle erst seit wenigen Wochen gibt. Im Moment fallen ganz unterschiedliche Tätigkeiten an. Ein Schwerpunkt ist die Vernetzung. Ich lerne die Mitspieler kennen, die sich im Bereich Flucht und Migration engagieren. Ich habe die Zusammenarbeit mit der Caritas begonnen, führe Gespräche mit Sozialberatern und Integrationsfachleuten. Dies schließt auch den Kontakt zu Ehrenamtlichen mit ein. Auch sie haben den Bedarf nach Seelsorge. Für sie und ihre Arbeit können die kulturellen Unterschiede belastend sein. Das reicht von teils radikalen Erziehungsmaßnahmen bis hin zu unterschiedlichen Auffassungen von terminlichen Absprachen. Als ausgebildeter Psychologe kann ich auch Ehrenamtliche dabei unterstützen, ihre Psyche zu stabilisieren. Diese Unterstützung biete ich natürlich auch Geflüchteten an. Ich gehe zu ihnen in die Ankerzentren oder andere Einrichtungen und rede mit ihnen in einem zweckfreien Raum.
Was bedeutet „zweckfreier Raum“ konkret?
Jörg Maier: Ich arbeite nicht fachspezifisch wie andere Anbieter. Ein Sozialberater hilft den Menschen in Angelegenheiten wie Zuschüssen, Wohnungssuche, Ämterbegleitung. Ein Therapeut hilft den oft traumatisierten Menschen, sich zu stabilisieren. Wir Flüchtlingsseelsorger verstehen Seelsorge als einen Raum, in dem Menschen Freiheit erfahren und so sein können, wie sie sind, und das zur Sprache zu bringen, was sie bewegt. Und hier schließt die Flüchtlingsseelsorge eine Lücke. Denn so unterschiedlich die Geschichten von Geflüchteten sind, sie haben alle eines gemeinsam: Sie sind Menschen, über die verfügt wird. Geflüchtete sind in der Regel nicht freiwillig nach Deutschland gekommen. Sie können hier erst einmal nicht bestimmen, wo sie sich aufhalten, was sie arbeiten, wie sie sich integrieren können. All das wird ihnen vorgegeben. Es gibt keinen Raum, wo sie einfach sein können. Und genau hier soll Seelsorge greifen.
Können Sie einen konkreten Fall schildern?
Jörg Maier: Im Moment bin ich in sehr engem Kontakt mit Flüchtlingsfamilien, die im Kirchenasyl sind. Sie befinden sich in einer kirchlichen Einrichtung und können nicht raus und warten auf ihren Bescheid. Ich begegne hier einem Leben in Sinnlosigkeit, Langeweile und ständiger Anspannung, bis der nächste Bescheid kommt. Das ist eine immense psychische Belastung. Und die Menschen haben keine Ansprechpartner. Ich bin für sie da, biete meine Zeit zum Gespräch an. Ich bin bei vielen praktischen Dingen des Alltags unterstützend tätig. Sei es, dass ich einen Termin bei der Schwangerschaftsberatung organisiere, sei es, dass ich mich mit den Kindern beschäftige und für die Familie dadurch Abwechslung schaffe, sei es, dass ich mit dem Mann über Politik in seinem Heimatland diskutiere oder mich erkundige, was er dort beruflich gemacht hat.
Sie begegnen Menschen unterschiedlicher Religionen. Inwiefern spielt der ökumenische Gedanke bei Ihrer Arbeit eine Rolle und wie lautet Ihr Auftrag?
Jörg Maier: Erst einmal ist mir die Religionszugehörigkeit meines Gegenübers egal. Als Flüchtlingsseelsorger bin ich eher diakonisch unterwegs. Später kommen andere Dinge hinzu. Dass Religionen unterschiedliche Auffassung haben, muss nicht trennend sein. Ich persönlich glaube, dass im Christentum Gott in Begriffen nicht fassbar ist. Die Sprache, die wir im Christentum haben, fängt die Wirklichkeit mit Gott nicht vollständig ein. Für mich ist daher die Frage zentral: Haben andere Religionen einen Zugang zu dieser Wirklichkeit namens Gott, für die wir vielleicht noch keine Sprache haben? Das kann meine Spiritualität, meinen Glauben enorm bereichern.
Haben Geflüchtete in ihrem herausfordernden Alltag überhaupt das Bedürfnis, über ihren Glauben zu sprechen?
Jörg Maier: Das ist sehr unterschiedlich. Was ich generell vermeide, sind Glaubensdiskussionen. Mein Fokus liegt auf den Fragen: Wie bringen wir die unterschiedlichen Kulturen hier in Deutschland zu einem friedvollen Miteinander zusammen? Auf welche gemeinsame Basis können wir aufbauen und wo können wir freundschaftlich verbunden sein?
Welche Projekte planen Sie für das Jahr 2022?
Jörg Maier: Es sind mehrere Dinge angedacht: Einerseits möchte ich die Seelsorge im Kirchenasyl als Standard etablieren. Die Geflüchteten sollen wissen, dass sie von uns bei Bedarf Unterstützung erhalten. Andererseits ist es mir ein großes Anliegen, interkulturelle Spiritualität fest in der Erzdiözese zu verankern. Ich arbeite gerade an einem Kursprogramm, das für Herbst 2022 geplant ist. Ich spreche mit vielen Leuten, um zu erfahren, welche Bedürfnisse in den Pfarreien und bei den Ehrenamtlichen vorhanden sind, um hier anzusetzen.
Was verstehen Sie unter interkultureller Spiritualität?
Jörg Maier: Konkret möchte ich das Bewusstsein schaffen, dass uns andere Menschen und Kulturen etwas zu sagen haben. Wir müssen beginnen, politisch wie auch gesellschaftlich das Verbindende deutlicher als das Trennende zu sehen. Religion kann dabei ein stabilisierender Faktor sein. Wir können die Leute nicht in Unterkünften abschotten, sondern wir sollten mit den Geflüchteten auf Augenhöhe umgehen. Interkulturelle Spiritualität ist wesentlich von Neugier geprägt. Beim nächsten Treffen der Diözesen möchte ich gerne den Fokus hierauf legen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Jörg Maier: Wie alle anderen wünschen auch wir uns ein größeres Budget und mehr Mitstreiter. Langfristig versuche ich mir ein kleines Team aufzubauen, das die Angebote der Flüchtlingsseelsorge in die Fläche trägt. Ich möchte ein Netzwerk von Ehrenamtlichen schaffen. Dies braucht aber Zeit. Ich wünsche mir auch einen engeren Kontakt zu den muttersprachlichen Gemeinden in der Diözese. Denn Liturgie gehört zur Seelsorge dazu. Muttersprachliche Gottesdienste sind ein wesentlicher Baustein für Integration. Hier braucht es ein engeres Zusammenwirken von muttersprachlichen und deutschen Gemeinden. Es wäre ein großer Fortschritt, wenn wir sagen könnten, wir können die anderen Kulturen und Ansichten als Bereicherung für uns ansehen und uns dadurch weiterentwickeln.
Das Gespräch führte Angelika Slagman, Online-Redakteurin Stabstelle Kommunikation, Februar 2022
Zur Person
Jörg Maier (55) studierte Diplomtheologe in Eichstätt und Regensburg und Kommunikationspsychologie mit Teilgebiet interkultureller Psychologie in Wien. Bevor er im Dezember 2021 seinen Dienst als Pastoralreferent im Arbeitsfeld Flucht, Asyl, Migration und Integration bei Erzdiözese antrat, war er u.a. in der Betriebsseelsorge tätig.
FAMI - Das Projekt Flucht, Asyl, Migration und Integration
Die Betreuung, Begleitung und Integration von Geflüchteten und Migranten bleibt auch in den nächsten Jahren eine Aufgabe für Gesellschaft und Kirche. Deshalb gibt es das diözesane Projekt Flucht, Asyl, Migration und Integration (FAMI). FAMI steuert die Vernetzung mit anderen Akteuren, bietet Haupt- und Ehrenamtlichen Unterstützung an, begleitet fachlich Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit, berät EntscheiderInnen der Erzdiözese und gibt thematische Impulse.