Was macht eine gerechte Gesundheitsversorgung aus? Welche Rolle spielen dabei die Finanzen? Und wie können Klinische Ethikkomitees zu mehr Gerechtigkeit im Medizinbetrieb beitragen? Ein Gespräch mit Regina Sachse, Leiterin der Krankenpastoral im Landkreis Miesbach und Referentin auf dem Diözesanen Ärztetag 2024.
Frau Sachse, jeder wünscht sich, stets das Beste zu bekommen, was die Medizin aktuell zu bieten hat – verständlich. Aber ist das auch immer gerecht?
Regina Sachse: Der Begriff Gerechtigkeit ist philosophisch betrachtet so komplex, dass sich die Philosophen seit der Antike nicht einig geworden sind, was darunter zu verstehen ist. Es gibt immer mehrere Perspektiven, um auf ein Problem zu schauen. Genau darum geht es: Dass man sich eine Haltung angewöhnt, Dinge aus verschiedenen Perspektiven und Blickwinkeln anzusehen und dann im Diskurs und in der demokratischen Diskussion aller Beteiligten zu einer für die konkrete Situation sinnvollen Lösung zu kommen.
In der Medizinethik haben sich die vier Grundprinzipien des Nichtschadens, des Wohltuns, der Gerechtigkeit und des Respekts vor der Patientenautonomie bewährt. Mit diesen vier allgemein anerkannten medizinethischen Grundprinzipien kommt man ganz gut weiter, wenn man im Einzelfall und in der ganz konkreten Situation versucht, alle vier Aspekte zu berücksichtigen und möglichst ins Gleichgewicht zu bringen.
Daneben spielen auch finanzielle Aspekte eine Rolle…
Regina Sachse: Auch im Medizinbetrieb gilt, wie in allen anderen menschlichen und wirtschaftlichen Bereichen, dass Geld notwendig ist. Ohne Geld kann keine Arztpraxis, kein Krankenhaus, kein Gesundheitssystem betrieben werden. Gerechtigkeit, was die Finanzen betrifft, würde aus der seelsorglichen Perspektive bedeuten, dass Geld möglichst wenig zum Selbstzweck werden, sondern immer nur Mittel zum Zweck sein sollte. Aber ohne Geld wird es nicht gehen und dieses Geld fällt auch im Medizinbetrieb nicht vom Himmel und ist auch im Medizinbetrieb nicht unbegrenzt vorhanden. Von daher gilt es, die Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit und zunehmend auch der Generationengerechtigkeit zu beachten.
Wir sollten also zum Beispiel im Blick haben, dass es nicht nur für unsere Generation eine gute medizinische Versorgung geben sollte, sondern auch noch für unsere Kinder und Enkel. Und das kann dann schon mal zu der Erkenntnis führen, dass es eben nicht grundsätzlich gerecht ist, zum Beispiel immer nur das allerteuerste Medikament zu verordnen, ganz zu schweigen von fragwürdigen oder überflüssigen Behandlungen.
Wo sehen Sie die größten Gerechtigkeitsdefizite im Gesundheitssystem?
Regina Sachse: Die große Mehrheit der Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, gehen nach meiner Wahrnehmung mit einem hohen Ethos an ihren Beruf heran und versuchen, nach ethischen Kriterien zu arbeiten, unter anderem eben auch nach dem Kriterium der Gerechtigkeit. Doch alle diese Menschen sind Teil eines Systems, in dem ganz viele unterschiedliche Einflussfaktoren wirksam werden, insbesondere die übergeordnete politische Ebene, die Gesundheitspolitik. Und diese kann der einzelne Arzt oder der einzelne Klinikgeschäftsführer kaum beeinflussen.
Da die derzeitige Gesundheitspolitik in Deutschland teilweise problematisch ist, kommt es zum Beispiel zur Verletzung von ethischen Prinzipien aufgrund von Personalmangel und Arbeitsüberlastung oder auch aufgrund von Fehlanreizen. Wobei es natürlich auch zu einfach wäre, alles, was nicht gut läuft, ausschließlich auf die „große Politik“ zu schieben. Das ist ein ziemlich komplexes Thema, das ich hier jetzt nur anreißen konnte…
Sie leiten das Ethikkomitee im Krankenhaus Agatharied. Können solche Komitees dazu beitragen, dass die Gesundheitsversorgung gerechter wird?
Regina Sachse: Das war eine meiner Aussagen beim Diözesanen Ärztetag, dass ich die Arbeit von Klinischen Ethikkomitees für einen zentralen Bestandteil des Bemühens um eine gerechte Gesundheitsversorgung halte. Klinische Ethikkomitees können zum Beispiel dazu beitragen, dass Empfehlungen zu ethischen Fragen für die jeweilige Einrichtung erarbeitet werden.
Ein Beispiel waren zu Beginn der Corona- Pandemie Leitlinien für den Umgang mit eventuell drohenden Triage-Situationen, also Situationen, in denen mehr Menschen zu behandeln sind, als Kapazitäten zur Verfügung stehen. Da hatten wir alle die schrecklichen Bilder aus Bergamo vor Augen und waren sehr dankbar, dass in dieser Situation der Deutsche Ethikrat eine Empfehlung zum Umgang mit Triage-Situationen herausgegeben hat, der wir uns als lokales Ethikkomitee mit unserem Haus anschließen konnten. Gott sei Dank haben wir sie 2020 nicht gebraucht, woran man übrigens gut sieht, dass unser Gesundheitssystem in Deutschland – bei allen Problemen – dennoch nach wie vor eines der belastbarsten der Welt ist.
Text: Karin Hammermeier, Redakteurin beim Sankt Michaelsbund, Oktober 2024
Krankenhausseelsorge
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Fachbereichsleiter:
Dr. Martin Seidnader